Freitag, 20. April 2018

ZÜRICH: AM KÖNIGSWEG

90 dicht beschriebene seiten über trump – und trump kein einziges mal erwähnen: das ist elfriede jelineks neustes kabinettstück „am königsweg“. jelinek rockt sich durch das gesamte trump-universum, mit ihrem einmal mehr virtuosen mix aus sprachspielereien und redundanz („anhänger, anhängsel, abgehängte“), mit wut und witz. nicht trump als person interessiert sie, sondern die blindheit der mächtigen, die blindheit der ohnmächtigen, die blindheit der seher, auch heidegger und freud werden herbeizitiert und die orestie: was läuft da schief? und warum läuft es so saumässig schief? regisseur stefan pucher gelingt am schauspielhaus zürich ein hochkonzentrierter blick auf dieses sprachfeuerwerk: ein furioses frauenquintett (eigentlich wären’s sechs, doch eine fiel bei unserer aufführung verletzungsbedingt aus), auf weiten strecken im jelinek-outfit, arbeitet sich lustvoll ab an diesem textmonster, an dieser permanenten suche nach sündenböcken und der erlösung durch sündenböcke, an dieser gigantischen, verhängnisvollen reality soap. auch die muppets schauen vorbei und goldbehangene trump-frauenträume, abraham aus dem alten testament mit schlecht klebendem bart und, ziemlich bedrohlich, der ku-klux-klan. dazu hat chris kondek eine videoorgie komponiert mit schiessereien, verfolgungsjagden, white trash und umweltkatastrophen – bilder eines zutiefst verwundeten landes. für zusätzlichen drive am königsweg in den abgrund sorgen zwei tolle live-musikerinnen mit intermezzi auf der bühne. „alles ist wahr, alles ist falsch, wozu brauchen wir noch seherinnen?“ schön kokett reflektiert jelinek immer wieder auch ihre eigene rolle und das mangelnde echo darauf; trump hat ja schliesslich nicht den ganzen narzissmus für sich gepachtet. man hat viel spass an diesem abend. es ist ein sehr, sehr schwarzer spass.

Donnerstag, 19. April 2018

WEIL AM RHEIN: VITRA CAMPUS, INSPIRATION PUR

endlich mal geschafft. und nicht enttäuscht. der vitra campus in weil am rhein ist für architekturfreaks, designliebhaberinnen, überhaupt augenmenschen einfach inspiration pur. eigentlich nachvollziehbar, dass sich der inhaber einer renommierten möbelfirma nicht einfach handelsübliche fabrikations- und ausstellungshallen auf sein terrain stellen lässt, doch was rolf fehlbaum angedacht und durchgezogen hat, ist dann doch eine aussergewöhnlich tolle nummer: 1989 das vitra design museum und eine fabrikationshalle von frank gehry, 1993 ein depot für die betriebsfeuerwehr von zaha hadid und ein konferenzpavillon von tadao ando, 1994 eine fabrikationshalle von alvaro siza, 2010 das vitra-haus von herzog & de meuron, 2011 ein produktionsgebäude von sanaa, 2013 der diogene von renzo piano, 2014 ein rutschturm von carsten höller und 2016 das schaudepot wieder von herzog & de meuron. einige der weltbesten architektinnen und architekten auf einem einzigen areal vereint, wo gibt es das sonst? und sie nahmen den auftrag genau so, wie er gedacht war: als spielwiese. dank fehlbaums lust aufs neue, unbekannte und seiner grosszügigkeit gab´s jeweils nämlich nur zwei leitplanken für die stars: die funktion des gebäudes und das dafür vorgesehene grundstück. so entstand zwischen asphaltpisten und kirschbäumen klassisches und kubistisches, verspieltes und strenges, helles und dunkles, hartes und weiches, dominantes und luftiges. ein mutiges experiment, ein reiches ergebnis. kompetente architekturführungen schaffen den zugang und öffnen die augen - und sie finden, oh wunder, sogar statt, wenn man der einzige angemeldete gast ist. herzlichen dank, frau ehinger, sie waren ein super-guide, es war mir ein grosses vergnügen.

Dienstag, 17. April 2018

PONTE TRESA: RISOTTO CON LUGANIGHE E MASCARPONE

lust auf das tessin. lust auf lombardei und piemont. wenn einen die sehnsucht nach süden plötzlich überfällt, kann man sie mit diesem rezept, von dem ich jetzt mal annehme, dass es aus der gegend um ponte tresa stammt, mindestens kurzfristig besänftigen: risotto con luganighe (ticino) e mascarpone (lombardia). wurstwaren sind eben nicht einfach wurstwaren. die gäste waren begeistert, deshalb will ich das rezept hier kurz festhalten. so toll das ganze mundet, so einfach ist es zuzubereiten. die zutaten für vier bis sechs personen: 1 zwiebel, 350 bis 400 gramm reis (mein aktueller favorit ist der bio-carnaroli von coop), hühnerbouillon, weisswein, 350 bis 400 gramm luganighe oder luganighette (die sind aus etwas feinerem fleisch), 500 gramm mascarpone, 1 bund italienische petersilie, ½ trevisano, etwas roter pfeffer, evt. parmesan. risotto unter stetigem umrühren schön langsam kochen. fünf minuten vor schluss die enthäuteten und zerstossenen/zerquetschten luganighe beigeben, drei minuten vor schluss den mascarpone beigeben, eine minute vor schluss – für die farbe – den in feine streifen geschnittenen trevisano und die petersilie (oder allenfalls rucola) plus roten pfeffer beigeben. die mit knoblauch, zimt, nelken, muskatnuss und gelegentlich auch vanille gewürzten luganighe kommen ursprünglich übrigens nicht aus dem tessin, sondern aus süditalien.

Montag, 16. April 2018

HAMBURG: PIPPI-PHILOSOPHIE

„das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“ das sagt julia jäkel, die chefin des hamburger verlagshauses gruner+jahr, in einem interview mit der „süddeutschen zeitung“. das sei genau „der mut, den wir brauchen“. genau genommen sagt das frau jäkel nicht, sie zitiert. sie zitiert die grosse schwedische philosophin pippi langstrumpf, die ihr gerade wieder mal in einem film begegnet ist, den sie mit ihren kindern geschaut hat. öfter mal was neues, geht sicher gut. positive thinking.

Freitag, 13. April 2018

BASEL: KASPAR HAUSER UND SÖHNE

der als shooting-star unter den nachwuchsregisseuren gehypte ersan mondtag inszeniert am theater basel ein stück der als shooting-star unter den nachwuchsautorinnen gehypten olga bach – ein auftragswerk, eine uraufführung: "kaspar hauser und söhne". es sind variationen über den rätselhaften findling aus dem frühen 19.jahrhundert, die die autorin, nicht immer nachvollziehbar, mit der geschichte einer nürnberger unternehmerfamilie verknüpft, 1940, 1960, 1990 und 2018, das kaspar-hauser-syndrom im würgegriff der zeitgeschichte, viel reingepackt, viel verfremdet. eulen heulen als stimmungsverstärker während beinahe vier stunden durch die nacht, hunde bellen in der ferne hinter den putzigen kartonhäuschen und acht schauspieler/innen in hässlichen fatsuits, die an die trostlosesten figuren von käthe kollwitz erinnern, nähern sich den vervielfältigten kaspar hausern, jungen und alten, mit künstlicher sprache (die von seinem stammeln inspiriert ist), künstlichen stimmlagen, künstlichen stimmungen. in ihrer sehnsucht nach einer seelischen heimat bespringen sie sich, bespucken sich, sie jammern und koksen und blödeln. und wenn den selbstverständlich immer ironisch gebrochenen bildern mal die bedeutung abhanden zu kommen droht, also ziemlich oft, müssen streichersuiten das ganze vor dem absaufen retten. es hätte eine vielstimmige etüde über aussenseiter werden können, über isolation und sozialisation und darüber, wie einer mit freiheit umgeht, der freiheit nicht kennt. solche momente schafft die autorin mit ihrer collage durchaus auch, wenn sie hausers autobiografisches material verwendet (und ernst nimmt) oder texte von verlaine und rilke; ihre dialoge dagegen sind dürftig bis dämlich, bis hin zum blondinenwitz, was durch den überdrehten bilderrausch nicht kaschiert, sondern noch offensichtlicher wird. viel shooting also und wenig substanz.

Dienstag, 10. April 2018

MÜNCHEN: WARTESAAL

die „wartesaal“-trilogie von lion feuchtwanger ist ein ebenso gigantisches wie differenziertes panorama von bayern, deutschland, europa vor dem ausbruch des zweiten weltkriegs. drei romane, „erfolg“, „die geschwister oppermann“, „exil“, hunderte von haupt- und nebenfiguren, zweieinhalbtausend seiten. stefan pucher wollte nun (grösser, weiter, pucher) an den münchner kammerspielen die ganze trilogie in einem aufwisch stemmen – und intendant matthias lilienthal scheint dieses ansinnen auch noch unterstützt zu haben. warum nicht gleich „die bibel“ an einem einzigen abend? nun, man kam dann doch davon ab und die inszenierung unter dem titel „wartesaal“ beschränkt sich jetzt auf „exil“, das komplizierte leben und zusammenleben deutscher juden und deutscher intellektueller um 1935 in paris. in buchform sind das immer noch 850 seiten; pucher muss also zusammenfassen, zitieren lassen, spotartig herausgreifen. annette paulmann hält das als empathische moderatorin einigermassen zusammen. und samouil stoyanov zeichnet den musiker sepp trautwein, der das komponieren aufgibt, um sich journalistisch am widerstand gegen die nazis zu beteiligen, als eigenwilligen charakter, engagiert, wütend, auch rücksichtslos, immer überzeugt von der sache, für die er an vorderster front kämpft: eine figur, die sich entwickelt, eine figur, der man gerne zuschaut. der einzige wirklich berührende moment in diesen dreieinhalb stunden: wenn sich trautweins frau anna (maja beckmann) bar jeder perspektiven in der badewanne umbringt und ehemann und sohn sie finden und ganz ruhig und reflektiert ihre gewissensbisse und schuldgefühle formulieren und austauschen. das sind menschen. alle anderen: stichwortgeber, chargen, statisten, nummern einer revue. dem ganzen fehlt der lange atem. es gibt romane, die sind auch für eine grosse bühne zu gross.

Montag, 2. April 2018

MÜNCHEN: DIE ATTENTÄTERIN

pechfarbenes, volles haar, eine ruhige, besonnene stimme und ein schwarzes, mit leuchtend roten rosen über und über besticktes kleid – wie eine trauernde diva geht sie immer und immer wieder über die bühne, mal im halbdunkel, mal im licht, mal beobachtet sie nur, mal spricht sie ein paar sätze in farsi. sihem ist ein todesengel, eine palästinensische selbstmordattentäterin, die sich neben einer kindergeburtstagsparty in einer israelischen shopping mall in die luft gejagt hat. wenn die iranische schauspielerin mahin sadri als tote sihem jetzt so umhergeht, ist sie ein schatten ihrer selbst und mahnmal in einem. auf der bühne der münchner kammerspiele steht und dreht sich ein langer tisch, er ist operationstisch, kantinentisch, verhörtisch, familientisch. er ist das zentrum von amir reza koohestanis inszenierung der „attentäterin“ von yasmina khadra. warum sprengen sich immer häufiger auch frauen in die luft? warum sihem, die in besseren kreisen verkehrt? selbst ihr mann amin, ebenfalls palästinenser und erfolgreicher chirurg in israel, ist ahnungslos; thomas wodianka zeigt ihn als sympathischen, trotz karriere keineswegs überheblichen kerl, den die verzweiflung an die grenzen des wahnsinns treibt. der grossvater, die nichte, die schwester, der schwager, fragen, fragen, fragen, keine antworten. die einen glauben etwas zu wissen, andere leiden, weil sie nichts wissen. sihem, das grosse rätsel, sitzt manchmal stumm mit am tisch. gegen was richtet sich ihr widerstand? koohestani will mit seiner inszenierung nicht den nahost-konflikt erhellen. er will mit seinen durchaus auch poetischen bildern, dass wir den dunklen seiten nachspüren, auch unseren dunklen seiten. irgendwann knallt die finale bombe. black-out. was bleibt, ist dieses bild: eine schöne, selbstbestimmte, geheimnisvolle frau.

Sonntag, 1. April 2018

MÜNCHEN: ELI, ELI, LAMA ASABTHANI?

„die zeit“ widmet ihm das gesamte dossier ihrer osterausgabe („bach? meer sollte er heissen“). ob man in einer deutschen wochenzeitung 2018 oder in gerhart von westermans grossem „konzertführer“ von 1963 liest, man wird überhäuft mit seltsam schwärmerischen, geradezu religiös verklärten tönen: die matthäus-passion? das grösste! – rückblende, um ungefähr 50 jahre: mit den eltern in der kirche st. anton, luzern, karfreitag um 15 uhr, die passion, jeden (!) karfreitag zweieinhalb stunden bach, für ein kind eine ziemliche herausforderung. nicht die musik hat sich mir damals eingeprägt, sondern wie theatralisch pfarrer paul deschler (tenor) und der junge musikstudent und spätere opernsänger alfred muff (bass) diese musik vortrugen – und dann diese donnerchöre und diese dramatischen wortfetzen: „eröffne den feurigen abgrund, o hölle“, „gotteslästerung“, „…und erhängte sich selbst“, „eli, eli, lama asabthani? (mein gott, mein gott, warum hast du mich verlassen?)“. die passion am karfreitag war mein regelmässiges live-schauermärchen, bilder der erregung und des untergangs. dann machte ich, über die gründe meditiere ich nach wie vor, einen bogen um bach. und jetzt, die matthäus-passion in der philharmonie im gasteig in münchen: enoch zu guttenberg dirigiert sein orchester und seinen chor und sechs hervorragende solisten (darunter, für die tenor-arien, der luzerner mauro peter). zum ersten mal bin ich ergriffen vom ganzen reichtum dieses riesenwerks, zum ersten mal höre ich neben den dramatischen auch die lyrischen sequenzen ganz bewusst, zum ersten mal erschliessen sich mir so neben dem schmerz und der verzweiflung auch versöhnung und trost dieser passion. eine karfreitags-erweckung.