Freitag, 30. März 2018

MÜNCHEN: DAS NEUE IST KEIN FERTIGPRODUKT

stark. 
das ensemble der münchner kammerspiele hat seit beginn der intendanz von matthias lilienthal schwierige phasen durchgemacht. das publikum auch. doch der offene brief, mit dem die 7 schauspielerinnen und 13 schauspieler jetzt auf den unfreiwilligen abgang des intendanten reagieren und der jeweils nach dem schlussapplaus von einem ensemblemitglied vorgelesen wird, zeugt von grosser menschlicher und künstlerischer reife. chapeau.
„verehrtes publikum, wir, das ensemble der münchner kammerspiele, möchten unsere enttäuschung über das angekündigte ende von matthias lilienthals intendanz an unserem theater zum ausdruck bringen. die suche nach relevanten und zukunftsweisenden gesellschaftlichen inhalten, arbeitsstrukturen und ästhetischen formen ist gegenstand unserer täglichen auseinandersetzung. sie fordert neugier, konzentration und kontinuität - und braucht ihr vertrauen in unsere bemühungen. wir glauben, dass es der auftrag des subventionierten theaters ist, ein ort der reflexion und des aufbruchs, nicht eine bastion der affirmation zu sein. wo, wenn nicht an diesem ort, ist der spielerische mut zur verunsicherung, zur utopie und zum experiment angebrachter - wann, wenn nicht in einer zeit, in der angst tiefe gräben durch unsere gesellschaft zieht? gerade jetzt scheint es uns wichtig, in unsere arbeit die mitunter babylonisch anmutende diversität der perspektiven und sprachen mit einzubeziehen und zu spiegeln, um einen ort der begegnung zu pflegen. wir denken, dass wir in den letzten zweieinhalb jahren eine künstlerisch vielseitige arbeit als antwort auf die sich entwickelnde stadt münchen, die zeitgenössische deutsche und internationale politik und die ästhetik des theatermachens im 21. jahrhundert gezeigt haben. die erfolge einiger unserer produktionen, überregionales echo und die neu gewonnene diversität unseres publikums bestärken uns in dieser einschätzung. die münchner kammerspiele waren stets ein haus der erneuerung. jedes neue künstlerische team brauchte zeit, eine gemeinsame sprache zu finden. jeder neuanfang brauchte auch zeit, sich in dieser sprache dem publikum verständlich zu machen. das neue ist kein fertigprodukt, das sich bestellen und umgehend konsumieren lässt. es will gefunden werden. die entscheidung, die intendanz lilienthal nicht zu unterstützen, untergräbt für unser empfinden den geist dieses hauses. sie sabotiert unsere suche und erwischt uns zur halbzeit unserer bemühungen. man könnte meinen, es gäbe uns in diesem moment schon nicht mehr. doch das gegenteil ist der fall. wir werden weder zu diesem zeitpunkt, noch darüber hinaus, aufhören zu probieren, zu experimentieren und die begegnung mit ihnen zu suchen. das ist unsere leidenschaft und unsere berufung. und wir hoffen für dieses haus und diese stadt, dass diese tradition der kammerspiele, eine tradition der erneuerung, auch nach uns nicht zu ende gehen wird.“

Mittwoch, 28. März 2018

MÜNCHEN: TRÜFFEL TRÜFFEL TRÜFFEL

eine riesige pyramide aus falschem gold füllt die bühne, sie steht auf der spitze: es geht in eugène labiches lustspiel „la poudre aux yeux“ darum, wie unmittelbar der soziale aufstieg und der oft weniger soziale abstieg miteinander verknüpft sind („mir ist ganz schwindlig von der gesellschaftlichen höhe, die ich so langsam erreiche“). vor der pyramide, schön aufgereiht, monsieur und madame malingear samt tochter, die verheiratet werden soll, und monsieur und madame ratinois samt sohn, der verheiratet werden soll. in der panik, man könnte als kleinbürger den grossbürgern auf der gegenseite nicht gewachsen sein, gaukeln sich die beiden paare immer neue statusobjekte vor, opern-abo, bedienstete à discretion, trüffel zu jedem gang, die gräfin montefiasco als beste freundin. diese anhäufung sozialer codes inszeniert felix rothenhäusler an den münchner kammerspielen als aberwitziges crescendo: das ensemble bleibt aufgereiht, der text wird zu einer temporeichen partitur und das ganze spiel um falsche fassaden wird mit absurden gesten und mienen auch noch masslos überzeichnet. es ist, erstens, eine wahre lust, den diskurs- und performancegeplagten schauspielerinnen und schauspielern der kammerspiele wieder einmal zuzuschauen, wenn sie das tun, was sie brillant beherrschen, nämlich theaterspielen. und es ist, zweitens, eine wahre lust, wenn ein labiche-lustspiel mal nicht auf drei stunden zerdehnt, sondern auf eine stunde eingedampft wird. ein älterer abonnent beschwert sich vor dem einlass schon mal präventiv, dass er sich so ein kasperltheater angucken muss. kasperltheater für erwachsene immerhin und in der obersten spielklasse. une petitesse charmante.

Dienstag, 27. März 2018

MÜNCHEN: MEIN KAMPF

wien, blutgasse. in einem loch von männerwohnheim schreibt der mausarme jüdische buchhändler schlomo herzl an seinen memoiren. „mein kampf“ sollen sie heissen. das buch wird nie fertig, doch der titel gefällt seinem mitbewohner, dem jungen adolf hitler. na dann. am münchner volkstheater inszeniert intendant christian stückl george taboris rattenscharfe farce „mein kampf“ als geschichte einer von verzweiflung geprägten männerbeziehung, saukomisch und beklemmend. schlomo (pascal fligg, mit schläfenlocken und überschäumender nächstenliebe) versucht den jungen mann aus braunau am inn (jakob immervoll, mit lederhose und überschäumender rhetorik) darüber hinwegzutrösten, dass ihm die kunstakademie die aufnahme verweigert. geradezu zart zelebriert die inszenierung die momente, wo schlomo unwissentlich die weichen stellt für hitlers späteres leben – nach einem hypochondrischen fieberwahn etwa: „du bist so ein schlechter schauspieler, du solltest politiker werden.“ auch scheitel und schnauz verpasst schlomo seinem zimmerkameraden, damit´s was hermacht, und sogar seinen wintermantel leiht er ihm aus. denn der sehr dominante ofen (genau!) in der mitte der mansarde wärmt nur ungenügend. hitler wittert hinter der ganzen zuwendung eine verschwörung der jüdischen weltgemeinschaft. der rest ist bekannt. eine biografisch inspirierte farce über hitler – darf man das? soll man das? tabori ist jude, das ist seine legitimation. und die jüdische tradition pflegt diese spezielle form von humor als „heiter hingenommene trauer“, als ein „intellektueller protest gegenüber den äusseren umständen“. der jüdische witz kann die resignation nicht keimfrei vertreiben, das weiss auch tabori, wenn er seinen schlomo gegen ende ganz nüchtern sagen lässt: „ich hatte nicht beachtet, dass es menschen gibt, die liebe nicht ertragen.“

Mittwoch, 21. März 2018

MILANO: THE DREAM MACHINE IS ASLEEP

mal ein interview mit einem zirkuspferd führen. oder mit einem jagdhund. was würde man die fragen? was würden die antworten? überraschendes, irritierendes, menschliches? solche frage- und antwortspiele sind bestandteil der grossen ausstellung „the dream machine is asleep“, die die prager künstlerin eva kot’átková im pirelli hangar bicocca zeigt, dem genialen neuen kunstareal in der nördlichen peripherie mailands. auf 15‘000 quadratmetern soll die kunst hier – „totalmente gratuito“ – auch dem breiten publikum zugänglich gemacht werden. da sind träume bestimmt kein schlechter ansatz. haben wir das träumen verlernt? und wie verhängnisvoll ist das für uns, für die politik, für die welt? mit installationen und skulpturen, verspielten objekten und theaterrequisiten lädt kot’átková dazu ein, sich von den phantasie- und bilderwelten der kinder inspirieren und zum vermehrten träumen verführen zu lassen. in einem video setzen sich tschechische kinder in neun lektionen mit der verdauung auseinander, durchqueren lustvoll den darm eines drachens, füllen krimskrams in einen immer grösser werdenden bauch, sinnieren über ängste und körperliche defekte. träume sind, so anschaulich hat das noch niemand gezeigt, die verdauung der seele und der ursprung neuer visionen und parallelwelten. deshalb ist diese schau in mailand nicht nur ein ausgesprochen sinnliches spektakel, sondern auch ein hochpolitisches.