„wer sein leben immer nur in paris, in hamburg oder berlin verbracht hat, vergisst manchmal, dass wesentliche teile der welt aus nichts als geschichten bestehen – und aus geschichten, die sich aus geschichten ergeben, die wieder zu anderen geschichten führen. und der, die, denkt dann vielleicht nicht daran, dass kausalverhältnisse und hierarchisierungen in geschichten eine späte und nicht flächendeckend verbreitete menschliche erfindung sind, dazu dienend, den uferlosen strom der abermillionen geschichten zu begradigen und das lebendige wasser des erzählens in hochreflektierte stabile textflächen zu verwandeln.“ (iris radisch in „warum die franzosen so gute bücher schreiben“, im kapitel über die in cherchell/algerien aufgewachsene assia djebar)
Freitag, 26. Januar 2018
Mittwoch, 24. Januar 2018
MÜNCHEN: EPHEMERAL URBANISM
ein
vorortszug rast in einen mit menschen und waren völlig überfüllten bazar. das
tönt dramatisch, sieht aber nur im zeitraffer so dramatisch aus. in
wirklichkeit pfeift der langsam herannahende zug von ferne, worauf die händler
auf dem markt von samut songkhram (thailand) ihre kisten vom gleis nehmen und
die faltdächer einfahren, damit diese nicht am zug hängen bleiben. kaum ist der
durch, nimmt sich der markt seinen platz wieder. improvisation ist alles. der
zeitraffer-film ist ein eindrückliches dokument in der ausstellung „ephemeral
urbanism“ in der pinakothek der moderne in münchen. sie beschäftigt sich mit
den fragen, ob permanenz und haltbarkeit in zeiten von krisen und migration
noch fixe kriterien von architektur sein müssen und was planer lernen können
von zeitlich beschränkten strukturen und projekten. die beispiele sind
zahlreich, vielfältig und beeindruckend: hunderte von kleinen zeltstädten für
touristen in der jordanischen wüste, ein flüchtlingslager für 47´000 somalier
in äthiopien, pilger-siedlungen für zehntausende (sinakara/peru) oder 25 millionen
(allahabad/indien) während der religiösen hochsaison, festivalcamps, militärlager
– und natürlich das oktoberfest in münchen. der gemeinsame nenner dieser erfolgreichen
temporären siedlungsformen und also eine mögliche leitplanke für die stadt der
zukunft: ausreichend raum für die menschenflüsse; intelligente, grossräumig
gedachte infrastukturen; low-tech-bauverfahren, die die gestaltung erleichtern
und flexibilität und reversibilität ermöglichen. und das wohl wichtigste: eine
atmosphäre, in der sich soziale und materielle grenzen auflösen.
Montag, 22. Januar 2018
MÜNCHEN: AMÉRICA
kyra
menaker-mossbacher ist immobilienmaklerin in den hügeln hinter l.a., die blonde
mähne immer perfekt frisiert, der überschlanke körper immer in einem
pastellfarbigen deux-pièces; ihre hunde und katzen und die hunde und katzen
ihrer kunden sind ihr wichtiger als die menschen um sie herum, seien es
amerikanische eingeborene oder mexikanische einwanderer. weil kojoten ihre
haustiere killen, entwickelt kyra eine absurde wut und hält dann kojoten für
mexikaner oder mexikaner für kojoten. diese kyra ist eine paraderolle für
wiebke puls, sie packt dieses ganze hysterische amerika, das sich aufgrund
eingebildeter bedrohungen in irreale ängste hineinsteigert, in diese eine
person. ihre nachbarn sind subtil rassistische säcke, sie grillen würstchen und
die ganze weltpolitik gleich mit (peter brombacher, stefan merki und jochen noch
haben das erschreckend gut drauf). und natürlich wollen sie, dass um ihre
villensiedlung eine mauer gebaut wird. eine mauer! t.c. boyle schrieb seinen
roman „américa“ 22 jahre bevor trump präsident spielte. und die münchner
kammerspiele setzten ihn auf ihr programm noch bevor seine kandidatur
feststand. regisseur stefan pucher reagiert mit knalligen klischees auf den
umstand, dass die realität die üble phantasie längst überholt hat: die usa als
schäbige show zwischen shopping-malls und swimming-pools. die abgründe sind
überall und keiner will sie sehen. der parallel laufenden zarten
liebesgeschichte von américa und cándido, zwei illegalen, aber harmlosen
einwanderern, die im land ihrer träume grund- und endlos gedemütigt werden,
widmet pucher die feinen momente: spanisch, englisch und deutsch entwickeln
sylvana seddig und gonzalo cunill in einer wild gewordenen welt eine rauhe
poesie. die grenze zu mexiko hiess früher übrigens – wie boyles roman im
original – „the tortilla curtain“. das waren noch zeiten.
Sonntag, 21. Januar 2018
MÜNCHEN: DAS SCHLANGENEI
es wird zappenduster im cuvilliéstheater, schrille
jahrmarktsmusik, die bilder dazu stellen sich im kopf gleich ein, dann mitten in die dunkelheit ein knall: deutschland
1923, hyperinflation. licht, leere bühne, nur vier sich nach hinten verjüngende
neonrahmen. in diese maximal abstrakte umgebung inszeniert anne lenk ingmar
bergmans filmdrehbuch „das schlangenei“. reduktion auf das
wesentliche, die figuren, die sprache – und die sprachlosigkeit. im zentrum stehen die jüdischen brüder abel und max
rosenberg und dessen frau manuela, drei erfolgreiche zirkusartisten, denen zunächst wegen
einer verletzung, später wegen mysteriösen morden in ihrer umgebung arbeit,
geld, lebensinhalt abhanden kommen. nach dem selbstmord von max fällt abel in
eine uferlose lethargie. franz pätzold spielt diesen tingeltangelkünstler im
brokatbesetzten samtkittel nie zu schmierig, auch im suff einigermassen
kontrolliert, aber angesichts der sozialen isolation und der sich rundherum anbahnenden ungeheuerlichkeiten
völlig unfähig,
aktiv zu werden. er raucht kette und dreht
zunehmend nervös die billigen ringe an seinen fingern. auch polizeiinspektor
bauer (oliver nägele, erfreulich differenziert), der im allgemeinen chaos eine insel
der vernunft bewahren möchte, läuft mehr und mehr ins leere. der albtraum endet
nicht. abel kriegt arbeit im institut von hans vergérus und realisiert, dass
hier aussortierungsexperimente mit menschen gemacht werden. die
nationalsozialistische vernichtungspolitik schleicht sich an („es ist wie ein
schlangenei. durch die dünnen häute kann man das fast völlig entwickelte reptil
deutlich erkennen“). eine welt am abgrund, pätzolds abel wird immer fiebriger. jahrmarktsmusik. noch schriller. ende.
Samstag, 13. Januar 2018
BASEL: ELEKTRA, TRAUMA TOTAL
ein trauma-schocker! elektra kann die ermordung ihres vaters agamemnon durch die mutter und deren geliebten nicht verarbeiten und will die beiden durch ihren bruder hinrichten lassen. "where is papa?" steht auf die blutverschmierten wände gekritzelt. bis sie ihr ziel erreicht, taumelt sie durch diese blutige szenerie, erdrosselt puppen, küsst das bild ihres vaters, macht sich an den herabhängenden kadavern der tieropfer zu schaffen, hantiert mit einer kettensäge, ritzt sich mit einer überdimensionierten schere arme und beine. das zimmer ihrer kindheit wird zum schlachthaus. familientrauma total, alle sind täter, alle sind opfer. die inszenierung, die david bösch 2014 für antwerpen schuf und die am theater basel jetzt mit neuer besetzung übernommen wurde, ist eine überaus deftig illustrierte psychoanalyse. das ist gut so, denn anders als mit derart massiven und verstörenden bildern ist der bombastisch-radikalen musik von richard strauss, die immer wieder die grenzen zum lärm und zur dissonanz streift, wohl gar nicht beizukommen. rachel nicholls als elektra (ihr rollendebut, eine wahnwitzige dauer-ekstase), ursula hesse von den steinen als ihre kalte, zutiefst verunsicherte mutter klytämnestra und pauliina linnosaari als ihre schwester chrysothemis bewältigen ihre mörderischen partien hinreissend: sie alle gehen stimmlich bis zum äussersten, wenn sie in diesem zunehmend bluttriefenden angst- und wutraum gegen den schmerz in ihrer seele ansingen. und auch vor dem sinfonieorchester basel unter erik nielsen, das mit sattem klang noch die monströsesten triebe und gedanken ausmodelliert, hätte richard strauss wohl den hut gezogen. stürmischer applaus für alle beteiligten.
Freitag, 5. Januar 2018
ZÜRICH: DER ZERBROCHNE KRUG
adam
hat heinrich von kleist seinen huisumer dorfrichter genannt, der des nachts ein
verlobtes mädchen in dessen kammer belästigt, dabei einen wertvollen krug
wertlos macht und deshalb des darauffolgenden tags vor gericht in eigener sache
verhandeln muss. adam, der sündige mensch. diese geradezu unkleistsche
holzhammer-symbolik hätten wir auch verstanden, wenn barbara frey in ihrer
inszenierung am schauspielhaus zürich den kerl zu beginn nicht im adamskostüm herumhüpfen
liesse. ob ohne kleider oder mit, markus scheumann ist als sich immer mehr in
seinen lügengeschichten verheddernder richter fabelhaft. seine widerlichen und
seine sympathischen züge vereint er subtil zu einer art landtheater für
fortgeschrittene. dass auch kleine nebenrollen mit spitzeleuten besetzt sind
(beispielsweise das marthaler-urvieh graham valentine als zeugin brigitte, die
nächtens nicht den richter, sondern den leibhaftigen höchstpersönlich gesehen
haben will) mehrt den spass noch erheblich. da sitzt alles: verstohlene blicke,
feinste gesten, spannungsgeladene pausen machen diesen elegant-altertümlichen
text zu einem zeitlosen vergnügen – und einem durchaus hintersinnigen. wie sagt
der kleist-biograf günter blamberger im programmheft so schön: „am ende des
stücks ist jedes vertrauen in die obrigkeit erschüttert.“ entsprechend
verzichtet barbara frey auf das happy-end, kein trost, nirgends. als szenerie
hat ihr muriel gerstner eine art peepshow-karussell gebaut, das mit seinen düsteren
holzwänden und weiten schattenwürfen an den flämischen kupferstich von 1782
erinnert („der richter oder der zerbrochne krug“), der kleist und seine
kollegen zum dichterwettstreit animierte und bei dem der schwermütige kleist
vor allem beweisen wollte, dass es ihm an talent zur komik keineswegs mangle.
was er hinlegte, wurde dann immerhin die meistgespielte deutsche komödie.
Montag, 1. Januar 2018
MÜNCHEN: TOCHTER DER KELCHE
frauen-tarot.
habe fürs neue jahr trotzdem eine karte gezogen: die tochter der kelche. eine
frau, die unter einem zarten baum neben einer schildkröte an einem teich sitzt
und sich von einem wasserfall wohlig besprudeln lässt. im handbuch steht dazu: „die
tochter der kelche stellt den spielerischen, liebevollen teil der
persönlichkeit dar, den teil, der einen wunderbaren sinn für humor hat und
wohlbefinden herzustellen weiss.“ damit kann ich leben für ein jahr. „die
tochter der kelche versinnbildlicht die erschliessung der inneren stimme nach
einem furchtlosen eintauchen in die tiefen bereiche des selbst. (...) ihre
wünsche verwandelt sie in kreative visualisierungen, was dazu beiträgt, dass
ihre träume wahr werden.“ ich bleibe dran. im übrigen kann ich die runden (!)
tarot-karten von vicki noble und karen vogel nur empfehlen, feministisch durch
und durch, poetisch durch und durch, in kräftigen farben und auch für männer
absolut inspirierend.
Abonnieren
Posts (Atom)