Donnerstag, 30. November 2017

LUZERN: MANON

diese oper ist zu kurz. ja, das gibt es. die unmögliche liebe einer lebenslustigen jungen frau, die ins kloster soll, und eines theologiestudenten, ihr unaufhörliches hin und her zwischen rauschhaftem leben und wahrer liebe, ihre immer wieder schmerzhaften trennungen wegen echten und falschen gefühlen und wegen wertvollen und falschen freunden – das alles braucht zeit, um sich nachvollziehbar zu entwickeln. diese zeit gönnte schon jules massenet seiner „manon“ (und ihrem publikum) nur knapp, das geht hopp-hopp vom liebhaber zum nebenbuhler, vom hoch zum tief, vom ballsaal ins priesterseminar, von der provinz nach paris und wieder zurück. und was machen dirigent yoel gamzou und regisseur marco štorman am luzerner theater? sie kürzen noch mehr, lassen diverse chorszenen, ballette und zwischenspiele ebenso weg wie bühnenbilder und blicken in einer unterkühlten neon-welt spotartig auf dieses leben und diese liebe: ein „manon“-konzentrat, das die komplexe geschichte dieser frau nur mehr erahnen lässt. zum glück entfaltet massenets musik mit ihren wirkungsvollen motiven und emotionalen wechselbädern selbst in dieser kastrierten fassung eine phantastische dramatische wucht. und zum glück schafft es das hervorragende junge ensemble, diese zum kammerspiel reduzierte lyrische tragödie immer wieder kraftvoll und glaubhaft aufzuladen: nicole chevalier als manon, diego silva als des grieux und bernt ola volungholen als manons cousin lescaut sind als permanente wandler zwischen ihren überschäumenden träumen und verzweifelter einsamkeit sowohl stimmlich wie auch darstellerisch eine spitzenbesetzung. der zuschauerraum des luzerner theaters war bei dieser vorstellung halb leer. der halb volle teil applaudierte begeistert.

Donnerstag, 23. November 2017

LUZERN: RADICAL HOPE NO1 / PILATUSBLICK

sie tanzen sich die seele aus dem leib. 14 jugendliche aus afghanistan, eritrea, somalia, äthiopien und der schweiz, die meisten von ihnen unbegleitete minderjährige asylsuchende, die zurzeit im zentrum pilatusblick in kriens wohnen. im südpol zeigen sie die tanzperformance „radical hope no1 / pilatusblick“, die die beiden choreografinnen beatrice fleischlin und anja meser mit ihnen einstudiert haben. bilder aus ihrer vergangenheit tauchen auf: mal liegen sie in leichensäcken auf kriegsversehrtem terrain, mal führen sie lustvoll körperbetonte tänze aus ihrer heimat vor, mal sind sie eine flüchtlingsgruppe, die es fast nicht schafft, keinen zu verlieren. dazwischen tritt immer wieder einer frontal vors publikum und erzählt seine geschichte: wie er weg musste aus seinem land, wie er seine familie verlor, wie ihn die flucht immer wieder an seine grenzen brachte. das geht unter die haut, denn sie sind erst 14, 15, 16 jahre alt und haben schon unmenschlich viel hässliches erlebt. doch aus diesen alten geschichten schöpfen sie glücklicherweise energie für neue: dann tanzen sie wieder, wild und raumgreifend, und ihr tanz ist ein drang nach leben, nach gemeinschaft, nach zukunft, nach einer anderen, neuen form von heimat. „what is hope for me? what is hope for you?“ fragt anouk singend. man schaut in die grossen augen dieser jungen menschen, so gross wie ihre hoffnungen und ihre träume. nicht wut, sondern mut leitet sie; das ist beeindruckend, zutiefst beeindruckend.

Dienstag, 14. November 2017

MÜNCHEN: KATASTROPHE #2

„katastrophe“ heisst vielsagend die reihe, in der ensemblemitglieder der münchner kammerspiele einen abend selber gestalten. unter dem nicht näher ausgeführten titel "nigorozorudoka" bestreitet der tolle jungschauspieler thomas hauser die runde 2 dieser reihe mit einem speedrun zum thema mediatisierung total. eingestimmt werden wir mit der aktuellen tagesschau – ohne bilder. dann monologisiert hauser im eidottergelben sweatshirt und mit glatter glitterfrisur die tragische geschichte eines familienvaters, der in und trotz anwesenheit seiner liebsten gänzlich der tv-serie „mash“ anheimfällt, die in einem feldlazarett der us army während des koreakrieges spielt (eine sequenz aus david foster wallace´ kultroman „infinite jest“). schliesslich vergnügt er sich mit seinem kumpel niklas herbert wetzel 70 (!!) minuten lang beim videospiel „the legend of zelda – breath of the wild“; die beiden jagen uns via grossleinwand über immer neue hochplateaus zu immer neuen schreinen mit immer neuen monstern, derweil sie über das "ministerium der euphorie" im menschlichen gehirn, epileptische anfälle und ihre auswirkungen auf lustzentren, rivalitäten um einen teller suppe und den unterschied zwischen freiheit von etwas und freiheit für etwas philosophieren (auch wieder foster wallace). erkenntnis 1 (nicht neu): jungs haben beim gamen nicht nur gewaltphantasien und quasseln nicht nur dummes zeug. erkenntnis 2: ich habe, akustisch und inhaltlich, nicht alles verstanden. erkenntnis 3 (nicht neu): videogames machen mich, in dieser reihenfolge, unruhig, ungeduldig, aggressiv – wann geht das endlich, endlich zu ende? erkenntnis 4: die münchner kammerspiele haben meinen bedarf an performance-impro-spontan-spektakel auf eher durchschnittlichem niveau jetzt ausreichend gedeckt; ich möchte wieder mehr kluges theater sehen und weniger "katastrophen".

Samstag, 11. November 2017

MÜNCHEN: MAUSER

leichen werden herbeigeschafft und auf haufen geworfen. immer wieder erhebt sich ein toter aus den leichenbergen, stellt sich mit flatternden beinen auf die anderen und denkt laut nach über das töten und die gewalt als mittel zur veränderung. im hintergrund schaut heiner müller kritisch-distanziert zu, auf einem bühnenhohen und bühnenbreiten schwarz-weiss-porträt. „wofür sind wir bereit zu töten? wofür sind wir bereit zu sterben?“ heiner müller erzählt in „mauser“ eine geschichte aus dem russischen bürgerkrieg, als der leiter des revolutionstribunals von witebsk das töten plötzlich nicht mehr als arbeit, sondern als lust empfindet und damit für die revolution unbrauchbar wird. zum müller-text entwickelt der kroatische regisseur oliver frljić im marstall des münchner residenztheaters mit einer schauspielerin und vier schauspielern eine bildwuchtige phantasie voller gewaltexzesse und erniedrigungen, unterlegt mal mit fegigem balkan-brass, mal mit düsteren requiem-sequenzen. teilweise lässt er die spieler nackt agieren, beim holzhacken zum beispiel und in interviewszenen, um den terror der gedanken über die körper zu illustrieren und die verletzlichkeit des individuums in der revolutionären masse. frljićs ansatz verdeutlicht, wie sehr revolutionen mehr schwierige fragen aufwerfen als brauchbare antworten liefern. und: dass lehrstücke nicht als politische pamphlete taugen, sondern allenfalls als spielerischer beitrag zu kontroversen. am schluss zerschmettert nora buzalka mit dem beil eine heiner-müller-büste aus eis. der autor nimmt´s gelassen; er tritt aus dem off hinzu und kippt das zerbrochene eis ins whisky-glas. schon zuvor hatte er den drastischen diskurs wieder auf normalmass gestutzt: „ich schreibe mehr als ich weiss.“

Donnerstag, 9. November 2017

MÜNCHEN: DIE KOMPLIZIN DER MUSIK

das büro der verstorbenen stararchitektin zaha hadid, herzog & de meuron, jean nouvel, henning larsen, david chipperfield – die champions league der architekten beteiligte sich am wettbewerb fürs neue münchner konzerthaus. doch abgeräumt hat das international kaum bekannte büro cukrowicz nachbaur aus bregenz. die vorarlberger entwarfen als hülle um die drei konzertsäle eine sich nach oben verjüngende, transparente scheune, die nächtens, wenn die musik spielt, in die stadt hinaus leuchtet. eine bestechende idee. „die architektur ist die komplizin der musik. es ist ihre rolle, die sucht des musikliebhabers zu verstärken.“ das schrieb jean nouvel in seinem konzept für münchen; es trifft, genau so poetisch und genau so ultimativ, auch auf das siegerprojekt zu. jetzt, wo die 31 ergebnisse des wettbewerbs mit modellen, plänen und visualisierungen zu besichtigen sind, darf man auch sagen, dass cukrowicz nachbaur den mit abstand wärmsten, elegantesten grossen konzertsaal präsentieren. bei den anderen: mehrheitlich schummrige höhlen oder kubische kühlräume, wo die musik wahlweise ersticken oder erfrieren würde (diese architekten waren vermutlich noch nie in einem konzert). bei den siegern dagegen: viel holz, weiche linien, behaglichkeit. nur mit dem standort der neuen musikscheune wird man sich noch anfreunden müssen. das werksviertel, hinter den gleisen des münchner ostbahnhofs, ist eher ein ort für tatort-kommissare als für konzertbesucherinnen. doch man kann es auch anders drehen. es gibt neben brachen und werkhallen auch ein paar coole läden hier und ein paar coole clubs; das werksviertel ist quasi das hafenviertel einer stadt ohne hafen. und hafenviertel sind ja, von riga bis lissabon, nach wie vor ziemlich hip.

Mittwoch, 8. November 2017

MÜNCHEN: BEWERBUNG BEIM PUBLIKUM

cyril manusch ist woyzeck. und sein hauptmann. und sein doktor. wie auf einer slackline setzt der 24jährige behutsam einen fuss vor den anderen, bewegt sich spastisch und akrobatisch, spricht dazu die monologe und dialoge, verrenkt sich und verklemmt sich, plötzlich rennt er die wand hoch, mehr verzweiflung als befreiung, wirft sich runter, breakdance trotz fussverletzung, auf alle viere, auf den bauch, das innen wird nach aussen gekehrt, es ist die tortur eines gejagten und geplagten. diese zehnminütige büchner-body-performance ist der höhepunkt des diesjährigen absolventenvorsprechens der otto-falckenberg-schule an den münchner kammerspielen. und sie ist ausgesprochen typisch für diesen jahrgang: denn auch wenn vera flück und louis nitsche aus „mamma medea“ von tom lanoye spielen, lea johanna geszti und anna platen woody allens „central park west“ oder max krause kafkas „brief an den vater“, immer ist dies ein theater von ausgeprägter körperlichkeit. kein wunder, wenn man in ihren künstlerbiografien die rubrik „körper“ studiert: aikido, bodypercussion, capoeira, voltigieren, hiphop, surfen, bauchtanz (wo früher allenfalls mal „fechten“ stand). mit diesem versprechen, texte und gedanken immer auch physisch und sinnlich zu steigern, haben die fünf frauen und fünf männer der abschlussklasse ihr casting, ihre bewerbung beim publikum, bestens bestanden. man darf sich auf ihre weitere entwicklung freuen, auf momente des zaubers und der kraft, auf viel bewegung in den theatern.

Dienstag, 7. November 2017

EBIKON: (DEAD) MALL OF SWITZERLAND

abweisende, dunkle korridore. sale-schilder in zerbrochenen schaufenstern. rostende rolltreppen, bei denen einzelne stufen fehlen. verdorrte pflanzen am rand von grüngrauen pfützen. einstürzende galerien und bröckelnde deko-elemente. schnee fällt durchs kaputte dach. kein mensch, nirgends. – das sind die trostlosen bilder aus den „dead mall series“ auf youtube. die klickraten zeigen: kult. 44 folgen hat der 40jährige amerikanische filmemacher dan bell bis jetzt gedreht. völlig unspektakuläre aufnahmen von den konsumtempeln seiner jugend, die mittlerweile ausgestorben sind und nicht einmal mit dem charme von friedhöfen mithalten können. dead malls. die grosse zeit der shoppingcenter geht zu ende, die umsatzzahlen brechen regelrecht ein. einkaufstourismus und internet sind die sterbehelfer; die schweizerinnen und schweizer gaben 2016 im schnitt 2400 franken für online-einkäufe aus, total 11,2 milliarden (gemäss netcomm suisse und srf). das centro ovale in chiasso überlebte gerade mal drei jahre. und morgen wird jetzt also, allen trends zum trotz, die mall of switzerland in ebikon eröffnet, mit 65´000 quadratmetern das grösste einkaufszentrum der zentralschweiz, das zweitgrösste der schweiz, gebaut mit öligem geld aus abu dhabi. wie lange wollen wir ihr geben? auch drei jahre? fünf jahre? zwanzig jahre, die hälfte davon von heftigem röcheln begleitet? die bilder, wie´s danach aussieht, stehen schon jetzt im netz.

Montag, 6. November 2017

BASEL: FOREVER YOUNG

„die zeit im jungen theater hat mich aufgerüttelt, wütend und empört gemacht, gab mir den mut, mit lauter stimme zu sprechen.“ noemi steuerwald ist eine von hunderten, die als 14- bis 24jährige im jungen theater basel spielten und im und mit diesem theater erwachsen wurden. das jtb ist eine institution: 40 jahre, 75 produktionen, manche über 100 mal aufgeführt, internationale gastspiele und preise, beginn zahlreicher theater- und filmkarrieren (marie leuenberger, ueli jäggi als rollschuhfahrender orgasmus, dani levy, rafael sanchez). zum 40-jahr-jubiläum hat der basler kulturjournalist alfred schlienger für den christoph merian verlag einen liebe- und lustvollen, detailreichen und prachtvoll illustrierten band gestaltet: „forever young – junges theater zwischen traum und revolte.“ zusammen mit dramatikern und psychologinnen, mit spielerinnen und soziologen macht sich schlienger auf die suche nach dem rezept dieses durchschlagenden erfolgs. das ergebnis ist nicht einfach ein hübsch eingebundenes kompliment zum geburtstag, sondern intensives nachdenken über aufgabe und wirkung zeitgenössischen theaters – und deshalb für theaterleute und -publikum auch anderswo von interesse. was in basel so toll funktionierte und immer noch funktioniert, lässt sich so zusammenfassen: jugendliche frische und authentizität, intensive auseinandersetzung mit identität und integration, inhaltliche dringlichkeit, innovation als konzept und motor, grosse ernsthaftigkeit und sorgfalt der erwachsenen profis im umgang mit den jugendlichen – und immer wieder: magische momente. „dieses theater ist eine übung in sachen gesellschaft“, sagt der kulturtheoretiker dirk baecker auf seite 182. applaus fürs jtb.