diese
oper ist zu kurz. ja, das gibt es. die unmögliche liebe einer lebenslustigen
jungen frau, die ins kloster soll, und eines theologiestudenten, ihr
unaufhörliches hin und her zwischen rauschhaftem leben und wahrer liebe, ihre
immer wieder schmerzhaften trennungen wegen echten und falschen gefühlen und
wegen wertvollen und falschen freunden – das alles braucht zeit, um sich nachvollziehbar
zu entwickeln. diese zeit gönnte schon jules massenet seiner „manon“ (und ihrem
publikum) nur knapp, das geht hopp-hopp vom liebhaber zum nebenbuhler, vom hoch
zum tief, vom ballsaal ins priesterseminar, von der provinz nach paris und wieder
zurück. und was machen dirigent yoel gamzou und regisseur marco štorman am
luzerner theater? sie kürzen noch mehr, lassen diverse chorszenen, ballette und
zwischenspiele ebenso weg wie bühnenbilder und blicken in einer unterkühlten
neon-welt spotartig auf dieses leben und diese liebe: ein „manon“-konzentrat,
das die komplexe geschichte dieser frau nur mehr erahnen lässt. zum glück
entfaltet massenets musik mit ihren wirkungsvollen motiven und emotionalen
wechselbädern selbst in dieser kastrierten fassung eine phantastische
dramatische wucht. und zum glück schafft es das hervorragende junge ensemble,
diese zum kammerspiel reduzierte lyrische tragödie immer wieder kraftvoll und glaubhaft aufzuladen:
nicole chevalier als manon, diego silva als des grieux und bernt ola
volungholen als manons cousin lescaut sind als permanente wandler zwischen
ihren überschäumenden träumen und verzweifelter einsamkeit sowohl stimmlich wie
auch darstellerisch eine spitzenbesetzung. der zuschauerraum des luzerner
theaters war bei dieser vorstellung halb leer. der halb volle teil applaudierte
begeistert.
Donnerstag, 30. November 2017
Donnerstag, 23. November 2017
LUZERN: RADICAL HOPE NO1 / PILATUSBLICK
sie tanzen sich die seele aus dem
leib. 14 jugendliche aus afghanistan, eritrea, somalia, äthiopien und der
schweiz, die meisten von ihnen unbegleitete minderjährige asylsuchende, die
zurzeit im zentrum pilatusblick in kriens wohnen. im südpol zeigen sie die tanzperformance
„radical hope no1 / pilatusblick“, die die beiden choreografinnen beatrice
fleischlin und anja meser mit ihnen einstudiert haben. bilder aus ihrer
vergangenheit tauchen auf: mal liegen sie in leichensäcken auf kriegsversehrtem
terrain, mal führen sie lustvoll körperbetonte tänze aus ihrer heimat vor, mal
sind sie eine flüchtlingsgruppe, die es fast nicht schafft, keinen zu
verlieren. dazwischen tritt immer wieder einer frontal vors publikum und
erzählt seine geschichte: wie er weg musste aus seinem land, wie er seine
familie verlor, wie ihn die flucht immer wieder an seine grenzen brachte. das
geht unter die haut, denn sie sind erst 14, 15, 16 jahre alt und haben schon
unmenschlich viel hässliches erlebt. doch aus diesen alten geschichten schöpfen
sie glücklicherweise energie für neue: dann tanzen sie wieder, wild und raumgreifend, und ihr tanz ist
ein drang nach leben, nach gemeinschaft, nach zukunft, nach einer anderen,
neuen form von heimat. „what is hope for me? what is hope for you?“ fragt anouk
singend. man schaut in die grossen augen dieser jungen menschen, so gross wie
ihre hoffnungen und ihre träume. nicht wut, sondern mut leitet sie; das ist
beeindruckend, zutiefst beeindruckend.
Dienstag, 14. November 2017
MÜNCHEN: KATASTROPHE #2
„katastrophe“
heisst vielsagend die reihe, in der ensemblemitglieder der münchner
kammerspiele einen abend selber gestalten. unter dem nicht näher ausgeführten titel "nigorozorudoka" bestreitet der tolle jungschauspieler thomas
hauser die runde 2 dieser reihe mit einem speedrun zum thema mediatisierung
total. eingestimmt werden wir mit der aktuellen tagesschau – ohne bilder. dann
monologisiert hauser im eidottergelben sweatshirt und mit glatter glitterfrisur die
tragische geschichte eines familienvaters, der in und trotz anwesenheit seiner
liebsten gänzlich der tv-serie „mash“ anheimfällt, die in einem feldlazarett
der us army während des koreakrieges spielt (eine sequenz aus david foster
wallace´ kultroman „infinite jest“). schliesslich vergnügt er sich mit seinem
kumpel niklas herbert wetzel 70 (!!) minuten lang beim videospiel „the legend
of zelda – breath of the wild“; die beiden jagen uns via grossleinwand über
immer neue hochplateaus zu immer neuen schreinen mit immer neuen monstern,
derweil sie über das "ministerium der euphorie" im menschlichen gehirn,
epileptische anfälle und ihre auswirkungen auf lustzentren, rivalitäten um
einen teller suppe und den unterschied zwischen freiheit von etwas und freiheit
für etwas philosophieren (auch wieder foster wallace). erkenntnis 1 (nicht neu): jungs
haben beim gamen nicht nur gewaltphantasien und quasseln nicht nur dummes zeug.
erkenntnis 2: ich habe, akustisch und inhaltlich, nicht alles verstanden.
erkenntnis 3 (nicht neu): videogames machen mich, in dieser reihenfolge, unruhig, ungeduldig, aggressiv – wann geht das endlich, endlich zu ende? erkenntnis
4: die münchner kammerspiele haben meinen bedarf an
performance-impro-spontan-spektakel auf eher durchschnittlichem niveau jetzt
ausreichend gedeckt; ich möchte wieder mehr kluges theater sehen und weniger
"katastrophen".
Samstag, 11. November 2017
MÜNCHEN: MAUSER
leichen
werden herbeigeschafft und auf haufen geworfen. immer wieder erhebt sich ein
toter aus den leichenbergen, stellt sich mit flatternden beinen auf die anderen
und denkt laut nach über das töten und die gewalt als mittel zur veränderung.
im hintergrund schaut heiner müller kritisch-distanziert zu, auf einem
bühnenhohen und bühnenbreiten schwarz-weiss-porträt. „wofür sind wir bereit zu
töten? wofür sind wir bereit zu sterben?“ heiner müller erzählt in „mauser“
eine geschichte aus dem russischen bürgerkrieg, als der leiter des
revolutionstribunals von witebsk das töten plötzlich nicht mehr als arbeit,
sondern als lust empfindet und damit für die revolution unbrauchbar wird. zum
müller-text entwickelt der kroatische regisseur oliver frljić im marstall des
münchner residenztheaters mit einer schauspielerin und vier schauspielern eine
bildwuchtige phantasie voller gewaltexzesse und erniedrigungen, unterlegt mal
mit fegigem balkan-brass, mal mit düsteren requiem-sequenzen. teilweise lässt
er die spieler nackt agieren, beim holzhacken zum beispiel und in
interviewszenen, um den terror der gedanken über die körper zu illustrieren und
die verletzlichkeit des individuums in der revolutionären masse. frljićs ansatz
verdeutlicht, wie sehr revolutionen mehr schwierige fragen aufwerfen als
brauchbare antworten liefern. und: dass lehrstücke nicht als politische
pamphlete taugen, sondern allenfalls als spielerischer beitrag zu kontroversen.
am schluss zerschmettert nora buzalka mit dem beil eine heiner-müller-büste aus eis. der
autor nimmt´s gelassen; er tritt aus dem off hinzu und kippt das zerbrochene
eis ins whisky-glas. schon zuvor hatte er den drastischen diskurs wieder auf
normalmass gestutzt: „ich schreibe mehr als ich weiss.“
Donnerstag, 9. November 2017
MÜNCHEN: DIE KOMPLIZIN DER MUSIK
das
büro der verstorbenen stararchitektin zaha hadid, herzog & de meuron, jean
nouvel, henning larsen, david chipperfield – die champions league der
architekten beteiligte sich am wettbewerb fürs neue münchner konzerthaus. doch
abgeräumt hat das international kaum bekannte büro cukrowicz nachbaur aus
bregenz. die vorarlberger entwarfen als hülle um die drei konzertsäle eine sich
nach oben verjüngende, transparente scheune, die nächtens, wenn die musik
spielt, in die stadt hinaus leuchtet. eine bestechende idee. „die architektur
ist die komplizin der musik. es ist ihre rolle, die sucht des musikliebhabers
zu verstärken.“ das schrieb jean nouvel in seinem konzept für münchen; es
trifft, genau so poetisch und genau so ultimativ, auch auf das siegerprojekt
zu. jetzt, wo die 31 ergebnisse des wettbewerbs mit modellen, plänen und
visualisierungen zu besichtigen sind, darf man auch sagen, dass cukrowicz
nachbaur den mit abstand wärmsten, elegantesten grossen konzertsaal
präsentieren. bei den anderen: mehrheitlich schummrige höhlen oder kubische
kühlräume, wo die musik wahlweise ersticken oder erfrieren würde (diese architekten waren vermutlich noch nie in einem konzert). bei den siegern dagegen:
viel holz, weiche linien, behaglichkeit. nur mit dem standort der neuen musikscheune wird man sich
noch anfreunden müssen. das werksviertel, hinter den gleisen des münchner
ostbahnhofs, ist eher ein ort für tatort-kommissare als für
konzertbesucherinnen. doch man kann es auch anders drehen. es gibt neben brachen und werkhallen auch ein paar
coole läden hier und ein paar coole clubs; das werksviertel ist quasi das
hafenviertel einer stadt ohne hafen. und hafenviertel sind ja, von riga bis
lissabon, nach wie vor ziemlich hip.
Mittwoch, 8. November 2017
MÜNCHEN: BEWERBUNG BEIM PUBLIKUM
cyril
manusch ist woyzeck. und sein hauptmann. und sein doktor. wie auf einer
slackline setzt der 24jährige behutsam einen fuss vor den anderen, bewegt sich
spastisch und akrobatisch, spricht dazu die monologe und dialoge, verrenkt sich
und verklemmt sich, plötzlich rennt er die wand hoch, mehr verzweiflung als
befreiung, wirft sich runter, breakdance trotz fussverletzung, auf alle viere,
auf den bauch, das innen wird nach aussen gekehrt, es ist die tortur eines
gejagten und geplagten. diese zehnminütige büchner-body-performance ist der
höhepunkt des diesjährigen absolventenvorsprechens der otto-falckenberg-schule
an den münchner kammerspielen. und sie ist ausgesprochen typisch für diesen
jahrgang: denn auch wenn vera flück und louis nitsche aus „mamma medea“ von tom
lanoye spielen, lea johanna geszti und anna platen woody allens „central park
west“ oder max krause kafkas „brief an den vater“, immer ist dies ein theater
von ausgeprägter körperlichkeit. kein wunder, wenn man in ihren
künstlerbiografien die rubrik „körper“ studiert: aikido, bodypercussion,
capoeira, voltigieren, hiphop, surfen, bauchtanz (wo früher allenfalls mal „fechten“
stand). mit diesem versprechen, texte und gedanken immer auch physisch und
sinnlich zu steigern, haben die fünf frauen und fünf männer der abschlussklasse
ihr casting, ihre bewerbung beim publikum, bestens bestanden. man darf sich auf
ihre weitere entwicklung freuen, auf momente des zaubers und der kraft, auf
viel bewegung in den theatern.
Dienstag, 7. November 2017
EBIKON: (DEAD) MALL OF SWITZERLAND
abweisende,
dunkle korridore. sale-schilder in zerbrochenen schaufenstern. rostende
rolltreppen, bei denen einzelne stufen fehlen. verdorrte pflanzen am rand von
grüngrauen pfützen. einstürzende galerien und bröckelnde deko-elemente. schnee
fällt durchs kaputte dach. kein mensch, nirgends. – das sind die trostlosen
bilder aus den „dead mall series“ auf youtube. die klickraten zeigen: kult. 44
folgen hat der 40jährige amerikanische filmemacher dan bell bis jetzt gedreht.
völlig unspektakuläre aufnahmen von den konsumtempeln seiner jugend, die
mittlerweile ausgestorben sind und nicht einmal mit dem charme von friedhöfen
mithalten können. dead malls. die grosse zeit der shoppingcenter geht zu ende,
die umsatzzahlen brechen regelrecht ein. einkaufstourismus und internet sind
die sterbehelfer; die schweizerinnen und schweizer gaben 2016 im schnitt 2400
franken für online-einkäufe aus, total 11,2 milliarden (gemäss netcomm suisse
und srf). das centro ovale in chiasso überlebte gerade mal drei jahre. und
morgen wird jetzt also, allen trends zum trotz, die mall of switzerland in
ebikon eröffnet, mit 65´000 quadratmetern das grösste einkaufszentrum der
zentralschweiz, das zweitgrösste der schweiz, gebaut mit öligem geld aus abu
dhabi. wie lange wollen wir ihr geben? auch drei jahre? fünf jahre? zwanzig
jahre, die hälfte davon von heftigem röcheln begleitet? die bilder, wie´s
danach aussieht, stehen schon jetzt im netz.
Montag, 6. November 2017
BASEL: FOREVER YOUNG
„die
zeit im jungen theater hat mich aufgerüttelt, wütend und empört gemacht, gab
mir den mut, mit lauter stimme zu sprechen.“ noemi steuerwald ist eine von
hunderten, die als 14- bis 24jährige im jungen theater basel spielten und im
und mit diesem theater erwachsen wurden. das jtb ist eine institution: 40
jahre, 75 produktionen, manche über 100 mal aufgeführt, internationale
gastspiele und preise, beginn zahlreicher theater- und filmkarrieren (marie
leuenberger, ueli jäggi als rollschuhfahrender orgasmus, dani levy, rafael
sanchez). zum 40-jahr-jubiläum hat der basler kulturjournalist alfred
schlienger für den christoph merian verlag einen liebe- und lustvollen,
detailreichen und prachtvoll illustrierten band gestaltet: „forever young –
junges theater zwischen traum und revolte.“ zusammen mit dramatikern und
psychologinnen, mit spielerinnen und soziologen macht sich schlienger auf die
suche nach dem rezept dieses durchschlagenden erfolgs. das ergebnis ist nicht
einfach ein hübsch eingebundenes kompliment zum geburtstag, sondern intensives
nachdenken über aufgabe und wirkung zeitgenössischen theaters – und deshalb für
theaterleute und -publikum auch anderswo von interesse. was in basel so toll
funktionierte und immer noch funktioniert, lässt sich so zusammenfassen:
jugendliche frische und authentizität, intensive auseinandersetzung mit
identität und integration, inhaltliche dringlichkeit, innovation als konzept
und motor, grosse ernsthaftigkeit und sorgfalt der erwachsenen profis im umgang
mit den jugendlichen – und immer wieder: magische momente. „dieses theater ist
eine übung in sachen gesellschaft“, sagt der kulturtheoretiker dirk baecker auf
seite 182. applaus fürs jtb.
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