Montag, 16. Oktober 2017

MÜNCHEN: EINES LANGEN TAGES REISE IN DIE NACHT

im hintergrund, hübsch aufgereiht, vier schminktische mit persönlichen utensilien: der rückzugsort für die vier wanderschauspieler, wenn sie gerade keinen einsatz haben. im vordergrund eine riesige verspiegelte platte als spielfläche, aufgehängt an vier drahtseilen und deshalb immer in bewegung: leben im schwebenden zustand, leben auf unsicherem terrain – das ist es dann auch schon weitgehend, thomas dannemanns regiekonzept für eugene o´neills „eines langen tages reise in die nacht“ im münchner cuvilliés-theater. dass die absolut trostlose geschichte der schauspielerfamilie tyrone (die o´neills eigene familiengeschichte abbildet) trotzdem packt, ist allein dem höchstklasse-ensemble zu verdanken, das die ausweglosen abhängigkeiten penetrant und präzis zu einem immer dichteren netz spinnt: sibylle canonica, die mutter, bemüht sich als morphium-ruine so hartnäckig wie erfolglos um fassung, oliver nägele, der vater, ist ein vom geiz zersetzter einstiger starschauspieler, aurel manthei als älterer sohn mäandert brillant zwischen minderwertigkeitskomplex, zorn und alkohol, franz pätzold als jüngerer sohn kämpft mit hochpoetischen kabinettstücken gegen seine eltern und seine tuberkulose an. alles ist krank in diesem haus, alles ist anfauchen, angiften, anwidern. das dauert zwei stunden und zehn minuten. bei o´neill dauerte es 65 jahre. „ich gehe aus von der theorie, dass die vereinigten staaten, anstatt das erfolgreichste land der erde zu sein, der grösste fehlschlag sind. wir hatten so viele möglichkeiten und haben einen falschen weg gewählt.“ mit diesem satz o´neills im ohr sieht man sein familienstück aus dem jahr 1956 auch als parabel auf ein zutiefst verunsichertes und polarisiertes land im jahr 2017.

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