ganz
eng stecken cio-cio-san und ihre bedienstete suzuki die köpfe zusammen und
blicken in die ferne, weit hinaus aufs meer. „un bel dì, vedremo“ singt
cio-cio-san, die grandios-anrührende arie einer verzehrenden leidenschaft:
eines tages wird das schiff kommen, das ihr den geliebten amerikaner
zurückbringt. auch nach drei jahren hat sie die hoffnung nicht aufgegeben. fast
scheint auch suzuki daran zu glauben, doch dann erstarrt sie, fixiert nicht
mehr das meer, sondern ihre herrin, und erschrickt, wie sehr diese in ihrer
sehnsucht gefangen bleibt. nein, dieses glück kehrt nicht zurück, nein, du
musst nicht weiter die wellen beschwören. zwei frauen, zwei intuitionen. der
spanische regisseur alex rigola und die japanische multimediakünstlerin mariko
mori erzählen puccinis „madama butterfly“ am teatro la fenice in venedig als
präzise personenstudie, grosse oper in nahaufnahme. nicht der in vielen
inszenierungen optisch bis zum überdruss ausgereizte kontrast zwischen ost und
west, zwischen japanischer folklore und amerikanischem patriotismus steht hier
im zentrum (die geisha, die vom präpotenten kolonialherr geschwängert und fallengelassen wird),
sondern eine zeitlose geschichte von ausbeutern und ausgebeuteten, von wahrer und von falscher liebe. eine
praktisch leere weite weisse bühne, die nur in unterschiedliches licht getaucht
wird, unterstreicht diese zeitlosigkeit zusätzlich. das regieteam tappt dann
allerdings zwei, drei mal doch in die kitschfalle, mit silberkonfettiregen und
schmetterlingsvideos. schade, denn die von daniele callegari schwärmerisch
dirigierten melodien puccinis hätten ihre wirkung auch so nicht verfehlt. und serena
farnocchia ist mit ihrer stimmlichen und darstellerischen präsenz eine
hinreissende besetzung für diese zwischen äusserster verzückung und tiefster verzweiflung flatternde
butterfly.
Donnerstag, 21. September 2017
Mittwoch, 20. September 2017
VENEZIA: BIENNALE DER ENTSCHLEUNIGUNG
die basilica di san giorgio maggiore
auf der kleinen insel gegenüber dem markusplatz in venedig ist ein meisterwerk
von andrea palladio. in diesen prachtvollen klassizistischen raum hat
michelangelo pistoletto 18 hochformatige spiegel gehängt. 18 spiegel in einem
kreis. 18 spiegel, die sich in der zugluft auch mal bewegen. der betrachter
steht in diesem kreis, sieht sich da und dort, geht umher, sieht andere, sieht
vieles plötzlich von einer anderen seite, kann manchmal nicht mehr
unterscheiden zwischen den echten menschen und den gespiegelten. „love
difference – vielfalt lieben“ hat der 84jährige pistoletto diese installation
genannt. man muss sie nicht einmal wie er religiös verstehen, um sie genial zu
finden: eine etude über wahrheit und wahrnehmung, ein einfacher, verspielter,
tiefsinniger einstieg in diese biennale. anschliessend machen wir 12‘771
schritte durch die kunst dieser welt. die biennale 2017 wirkt auf uns überladen
bis vollgestopft und zeigt erstaunlich viel unpolitisches, viel aufgewärmtes, viel
dekoratives, viel buntes, viel banales (bitte, bitte einfach keine farbigen
stoffballen und stoffbahnen und fadenknäuel mehr, die den ach so kunterbunten
reichtum dieser welt illustrieren und verherrlichen). eine überdosis
kontemplativer videos lässt immerhin ein zentrales anliegen festmachen: das
bedürfnis nach entschleunigung. ein bedürfnis, das künstlerinnen und künstler
und publikum zu teilen scheinen, denn dort, wo fast oder gar nichts passiert,
harren die betrachter in scharen und am längsten aus. die magie des nichts. auch
ein erfolg.
Sonntag, 17. September 2017
MÜNCHEN: CARMEN UND DER STIER IN UNS ALLEN
hier singen echte flüchtlinge statt falsche zigeuner. das gibt dieser "carmen", die jetzt im mixed munich arts, der riesigen halle eines ehemaligen fernheizwerks, gezeigt wird, eine ganz neue dringlichkeit und vitalität. der "chor zuflucht kultur" ist ein projekt mit migranten, ein bemerkenswertes projekt auf hohem musikalischen niveau. sie singen die bizet-chöre en français genau so leidenschaftlich wie dazwischen die verträumten und traurigen balladen aus ihrer arabischen heimat. dieser chor - als strassenkämpfer, als näherinnen, als dealer, als heimatlose - bildet das emotionale kraftzentrum der inszenierung. dirigent ernst bartmann und regisseur andreas wiedermann (das opera-incognita-team) erzählen die rohe geschichte von carmen in diesem rohen raum von hinten, was erstaunlich gut funktioniert: die finale verzweiflungstat, die ermordung carmens durch don josé, wird zum roten faden, zur rahmenhandlung, in die die vorherigen akte als rückblenden eingebaut werden. der tod wird durch diese konstruktion noch präsenter, er schleicht sich nicht langsam an, er überschattet hier alles von beginn weg mit dramatischer musikalischer wucht. carmen, von cornelia lanz furios gesungen, ist permanent in bewegung, mal am ende der halle, mal in der obersten galerie, mal im grellen licht, mal im dunkeln, rastlos, radikal, eine gefangene ihrer gefühle auf der suche nach freiheit. sie findet sie nicht. sie findet den tod. das ist die geschichte von carmen, die geschichte der flüchtlinge und letztlich die geschichte über den stier in uns allen: freiheit oder tod. eine alternative, die oft keine ist.
Samstag, 9. September 2017
LUZERN: LE GRAND MACABRE
der
eindrücklichste moment dieser saisoneröffnungspremière am luzerner theater? das
waren die fünf minuten kunstpause mitten im zweiten bild. fünf minuten nichts,
bühne und orchester total eingefroren, fünf minuten stiller protest gegen die
sparwut der luzerner regierung: so öd wäre die welt ohne kultur. davor und
danach györgy ligetis groteske oper „le grand macabre“, in der nekrotzar, tod und teufel
in einem, den weltuntergang plant, ihn aber gründlich versemmelt. krass wenig
inhalt für zweieinhalb stunden. musikalisch ist dieses werk ebenso reich wie
schräg und gewöhnungsbedürftig, mit furzenden autohupen, knallenden brettern, je
einer prise mozart, offenbach, monteverdi, alles bis zur unkenntlichkeit
entstellt und tierisch schwierig für sänger und orchester, die das aber unter
der leitung von clemens heil bravourös und lustvoll bewältigen. für die regie
wurde herbert fritsch eingeflogen, bei dem bekanntlich alles immer vor allem
knallbunt ist, diesmal sind es sieben knallbunte särge, ein ebenso effektvoller
wie naheliegender einfall für ein grusical. wenn immer wieder auch „the rocky
horror picture show“ zitiert wird, mag man nur müde schmunzeln, denn die ist
einfach besser. fritschs regie bleibt sinnfrei und rein illustrativ: sobald die
melodien zucken, zucken auch die sängerinnen, wenn die rhythmen stampfen,
stampfen auch die sänger. das ist unter dem strich ziemlich viel ziemlich
doofer slapstick. der hübscheste einfall sind zwei bleiche buben, die im kostüm
der wiener sängerknaben immer wieder durch die szenerie schlurfen und das gähnen
unterdrücken wie der kleine barron trump am wahltag seines vaters: wo, bitte,
bin ich da hingeraten?
Freitag, 8. September 2017
LUZERN: DAS KANN NICHT WEG
das manifest gegen die sparpolitik des kantons luzern, verabschiedet am 8.9.2017 anlässlich der grossen demo vor dem luzerner theater:
"82 millionen will die regierung des kantons luzern in diesem und im nächsten jahr streichen - in den schulen, in der integration, bei der polizei, in der kunst und im sozialen.
erstens: das kann nicht weg. das ist unsere bildung, das ist unsere sicherheit, das ist unsere kultur, das ist unsere solidarität.
zweitens: es ist keine lästige, es ist eine noble pflicht des staates, seine aufgaben wahrzunehmen und in die gesellschaft zu investieren.
drittens: wieviel geld ausgegeben wird, das wird nicht durch den steuerfuss bestimmt, sondern durch die politik und die debatte. die steuern haben sich danach zu richten.
viertens: das öffentliche personal wie auch die anbieter von dienstleistungen erwarten vom staat ein mindestmass an verlässlichkeit und planungssicherheit.
fünftens: die regierung und das parlament haben ihr mandat von den hier lebenden bürgerinnen und bürgern erhalten, nicht von personen und firmen, die vielleicht irgendwann in den kanton ziehen. also hat sich die politik an den bedürfnissen der hier lebenden bürgerinnen und bürger auszurichten.
der geplante abbau trifft zahllose menschen, die hier und heute im kanton luzern leben. er trifft sie in ihrer sicherheit, in ihren chancen, in ihrer täglichen arbeit. aber das ist ihre existenz.
das kann nicht weg."
Dienstag, 5. September 2017
LUZERN: DEM LIEBEN GOTT
da
ist sie wieder, die angst vor der neunten! „i‘ mag dö neunte nöt anfangen, i‘
trau mi‘ nöt, denn auch beethoven machte mit der neunten den abschluss seines
lebens“, notierte anton bruckner einmal – und fing dann im sommer 1887 doch an damit.
die sinfonie nr.9 d-moll geriet ihm zum „mysterium tremendum et fascinosum“, zu
einem vielschichtigen und gross gedachten werk, das sich allen damals gängigen
musikalischen mustern entzog und den weg für mahler und schönberg ebnete. sie
blieb unvollendet, auch hier also ein abschied vom leben, ein zwischen furcht
und verzweiflung schwankender ruf nach göttlichem erbarmen. natürlich widmete
der fromme komponist seine letzte sinfonie „dem lieben gott“, niemand
geringerem: „die neunte ist für den allerhöchsten könig da oben bestimmt. (…)
wenn mi‘ lang niemand verstanden hat und viel mi‘ aa jetzt no‘ net verstehn: er
wird’s begreifen.“ so wie daniele gatti und sein royal concertgebouw orchestra
amsterdam diese bruckner 9 jetzt im rahmen des lucerne festival dargeboten
haben, so intensiv, so erhaben, so entrückt – so begreifen auch wir bruckners
annäherung an die göttliche schöpfung. oder lassen uns von ihr ergreifen.
Samstag, 2. September 2017
LUZERN: LIEDER UND TÄNZE DES TODES
diese
frau hat einen verführerischen blick. diese frau hat eine wilde mähne. diese
frau hat eine tolle figur. diese frau ist jung und lebenslustig. aber: oksana
volkova hat den tod in ihrer stimme. bei ihrem debut am lucerne festival singt
die weissrussische mezzosopranistin zusammen mit dem petersburger mariinsky
orchestra unter valery gergiev die „lieder und tänze des todes“ von modest
mussorgsky. eine musik voller grauen und voller entsetzen. „es tobt die
schlacht in wilder wut, der kriegslärm dröhnt gleich sturmes wettern, in roten
strömen fliesst das blut. (…) tanze und stampfe den boden so fest, dass euer
keiner sein grab je verlässt.“ soldaten sucht der tod heim in diesen liedern,
eine junge frau, einen bauern, ein kleines kind: „starr seine augen und bleich
seine wangen, lass sein dein singen, lass sein!“ wenn oksana volkova diese
melodien mit ihrem kräftigen mezzo und ihrem tiefdunkeln russisch durch den
saal geistern lässt, getragen von einem phänomenal mitfühlenden orchester, dann
werden pessimismus und hoffnungslosigkeit nicht nur spürbar, sondern geradezu
unerträglich. was für eine stimme, was für ein abgrund. die volkova führt auch
bizets carmen in ihrem repertoire. man hört sie schon (und es läuft einem eiskalt
über den rücken), wie sie da im dritten akt im zigeunerlager die karten legt
und aus tiefster tiefe klagt: „toujours - la mort.“ der tod ist ihr ständiger
begleiter. „toujours - la mort.“
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