schauplatz:
ein heller, hoher raum. allerdings weckt der, wegen seiner fensterlosigkeit und
weil sich die wände unaufhörlich und schier unmerklich verschieben, durchaus
klaustrophobische gefühle. die ganze sippe der serpenoise haust in diesem
anwesen und mit ihr die gespenster der vergangenheit und die gespenster der
gegenwart, ein ganzes heer. der helle, hohe raum ist also überbelegt, lässt
kaum luft zum atmen. mit „rückkehr in die wüste“ hat bernard-marie koltès in
den 80er-jahren eine bittere komödie geschrieben: algerien-trauma, xenophobie,
perspektivenlosigkeit und lethargie in der wüste der provinz – alles verpackt
in die geschichte einer spiessigen industriellenfamilie in frankreichs norden. die
inszenierung von amélie niermeyer am münchner residenztheater zeigt mit beinahe
sadistischer lust, wie brisant dieses 30 jahre alte stück gerade in diesem
französischen wahlfrühling immer noch ist. rechtsextreme zombies schleichen
durchs haus und schmieden ihre pläne, araber werden abgefackelt und schwarze
abwechslungsweise als karikaturen oder als bedrohung wahrgenommen. im zentrum
stehen adrien, der firmenchef, und seine schwester mathilde, die nach 15 jahren
mit zwei unehelichen kindern aus algerien zurückkehrt und ihr erbe einfordert.
götz schulte und juliane köhler keifen und balgen, überhäufen sich mit
vorwürfen, verletzen und versöhnen sich, ein tanz am abgrund; geschwisterliche
hassliebe mit permanenter explosionsgefahr. es brodelt in der familie, es brodelt in europa, es brodelt
zweieinhalb stunden lang. koltès schwingt sich mit seinen messerscharfen
dialogen in tschechowsche dimensionen: wenn alles nur wüste ist, wo ist dann
die heimat?
Mittwoch, 21. Juni 2017
Dienstag, 20. Juni 2017
BRUXELLES: ÜBER VOR- UND NACHTEILE
"die eu ist kein verein, der allen mitgliedern immer nur vorteile bietet. sie funktioniert, weil die vorteile alle tatsächlichen oder vermeintlichen nachteile aufwiegen - und zwar für alle." die eu, von sz-korrespondent daniel brössler auf den punkt gebracht.
Donnerstag, 15. Juni 2017
BASEL: SATYAGRAHA, NERVTÖTEND
minutenlang
schreitet mahatma gandhi im weissen gewand über die dunkle bühne und singt dazu
texte aus dem altindischen epos „bhagavad gita“. eine lichtgestalt. minutenlang
tanzt mahatma gandhi im weissen gewand inmitten von farbigen kämpfern, die ihre
blutigen hände zum himmel werfen. minutenlang freut sich mahatma gandhi im
weissen gewand über die leute, die die gründung seiner zeitung „indian opinion“
feiern. diesem kämpfer für gewaltfreien widerstand wollte der amerikanische
komponist philipp glass 1980 ein denkmal setzen. er nannte es eine oper.
„satyagraha“ („kraft der wahrheit“) erlebte jetzt, zum 80. geburtstag des
komponisten, am theater basel ihre schweizerische erstaufführung, inszeniert
vom multikulti-choreografen sidi larbi cherkaoui, dirigiert von jonathan
stockhammer: viel bewegung, kaum handlung. eine oper? eher ein oratorium, eine
musikalische meditation darüber, wie sehr der wunsch nach abwesenheit von krieg
und gewalt auch persönliche veränderung bedingt. und tatsächlich scheinen sich nicht
wenige im publikum hier zu einem gandhi-gottesdienst einfinden zu wollen. sie
werden aufs äusserste gefordert, denn glass schrieb für gandhi (rolf romei mit
strahlendem tenor) zwar sinnlich-schöne melodienbögen und stattete auch die
chöre musikalisch gut aus, doch dem orchester verordnete er parallel
dazu absolute musikalische einfalt, endlos, wirklich endlos, die immer gleichen
zwitschernden tonleitern und die immer gleichen juckenden dreiklänge. definitiv
keine oper also, sondern ein strapaziöses, überredundantes klangexperiment.
minimal music auf maximale dauer zerdehnt. statt der vom komponisten
beabsichtigten hypnotisierenden spiritualität erlebten wir drei letztlich
nervtötende stunden. zum glück haben wir von gandhi gelernt, unseren zorn in
positive energie umzuwandeln.
Mittwoch, 7. Juni 2017
MÜNCHEN: KREISE/VISIONEN
das
leben ist ein leeres weisses blatt. so liegt es vor uns im marstall des
münchner residenztheaters, 15 auf 15 meter, das publikum auf allen vier seiten.
dann stürzen drei schauspielerinnen und fünf schauspieler herein, alle im
violetten frack, alle mit glatzen und schlohweissem resthaar, alle mit einer
discokugel spielend. willkommen im variété, willkommen in einer philosophischen
revue über hoffnungen, ängste und träume, willkommen in joël pommerats stück „kreise/visionen“.
der französische theatermacher verschachtelt darin acht geschichten aus sieben
jahrhunderten zu 20 szenen mit 64 figuren. zwei kinderlose paare verirren sich
in einem wald und hören immer babygeschrei. ein steinreicher manager sucht bei
obdachlosen einen organspender, um das leben seines sohnes zu retten. ein
adeliger möchte im drogenrausch seinen bediensteten verführen, doch der will
lieber in den krieg ziehen. und. so. weiter. regisseurin tina lanik entwickelt
mit ihren acht violetten conférencier-clowns zunächst einen rasenden reigen,
der immer um die frage kreist, wo das glück zu finden ist und wo der erfolg und
wo man bitte die energie her nehmen soll, um es zu sehen und sich ihm zu
nähern. das spielt, allen violetten überhöhungen zum trotz, meistens sehr nahe
am alltag. der motivationstrainer, der arbeitslose coacht, und der verkäufer,
der einer depressiven alleinerziehenden die „universalbibel zum erfolg“
andrehen will, bekommen dann allerdings
so viel platz, dass der rhythmus der episoden völlig aus dem gleichgewicht
gerät. die revue wird zäh, die reflexion erlahmt.
Dienstag, 6. Juni 2017
ZÜRICH: JAKOB VON GUNTEN
bückling,
tür auf, bückling, tür zu. bückling, tür auf, bückling, tür zu. die jungs im
institut benjamenta werden gedrillt, in einem langen, immer enger werdenden
korridor, das fenster am ende lässt kaum licht durch, wenig luft zum atmen. bückling, tür auf, bückling, tür zu. barbara frey
lässt ihre inszenierung von robert walsers tagebuchroman „jakob von gunten“ in
der box des schiffbaus mit einer mehrere minuten dauernden, stummen
choreografie der unterwürfigkeit beginnen. michael maertens, stefan kurt und
hans kremer sind als zöglinge eine
wucht, übermotivierte ministranten, die sich über ihre motivation den kopf noch
nicht zerbrochen haben. gebetsmühlenartig rezitieren sie später mit
enervierender redundanz ihre benimm-bibel: „das gute betragen ist ein blühender
garten.“ hier blüht gar nichts. hier verdorrt noch die letzte vitale regung. diese
jungs werden nicht gefördert, sondern leer gesaugt. hier wird jakob, wie er
selber sagt, „eine reizende kugelrunde null“. barbara frey sieht im
walser-roman einen „gegenentwurf zum heutigen lebensoptimierungs- und
effizienzwahn“, ebenso heiter wie beunruhigend. zwischen diesen polen pendelt
auch ihre von melancholischen klaviersuiten und songs untermalte inszenierung.
man lacht und ist bedrückt und lacht immer weniger. fräulein benjamenta
(ebenfalls stefan kurt) ist in ein armloses schlangenkleid gezwängt, das nur
ihrem zuchtstock noch freien lauf lässt. er fällt bei ihrem tod wie ein
verfaulter körperteil von ihr ab. derweil herr benjamenta, der vorsteher
(ebenfalls hans kremer, als ballonartig aufgeblasener gottvater), mit jakob in
die wüste aufbricht. offen bleibt, ob er dort die freiheit sucht oder nur
bücklinge üben will. man kann gut verstehen, dass franz kafka diesen roman
walsers geliebt und viel daraus vorgelesen hat.
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