Mittwoch, 21. Juni 2017

MÜNCHEN: LE RETOUR AU DÉSERT

schauplatz: ein heller, hoher raum. allerdings weckt der, wegen seiner fensterlosigkeit und weil sich die wände unaufhörlich und schier unmerklich verschieben, durchaus klaustrophobische gefühle. die ganze sippe der serpenoise haust in diesem anwesen und mit ihr die gespenster der vergangenheit und die gespenster der gegenwart, ein ganzes heer. der helle, hohe raum ist also überbelegt, lässt kaum luft zum atmen. mit „rückkehr in die wüste“ hat bernard-marie koltès in den 80er-jahren eine bittere komödie geschrieben: algerien-trauma, xenophobie, perspektivenlosigkeit und lethargie in der wüste der provinz – alles verpackt in die geschichte einer spiessigen industriellenfamilie in frankreichs norden. die inszenierung von amélie niermeyer am münchner residenztheater zeigt mit beinahe sadistischer lust, wie brisant dieses 30 jahre alte stück gerade in diesem französischen wahlfrühling immer noch ist. rechtsextreme zombies schleichen durchs haus und schmieden ihre pläne, araber werden abgefackelt und schwarze abwechslungsweise als karikaturen oder als bedrohung wahrgenommen. im zentrum stehen adrien, der firmenchef, und seine schwester mathilde, die nach 15 jahren mit zwei unehelichen kindern aus algerien zurückkehrt und ihr erbe einfordert. götz schulte und juliane köhler keifen und balgen, überhäufen sich mit vorwürfen, verletzen und versöhnen sich, ein tanz am abgrund; geschwisterliche hassliebe mit permanenter explosionsgefahr. es brodelt in der familie, es brodelt in europa, es brodelt zweieinhalb stunden lang. koltès schwingt sich mit seinen messerscharfen dialogen in tschechowsche dimensionen: wenn alles nur wüste ist, wo ist dann die heimat?

Dienstag, 20. Juni 2017

BRUXELLES: ÜBER VOR- UND NACHTEILE

"die eu ist kein verein, der allen mitgliedern immer nur vorteile bietet. sie funktioniert, weil die vorteile alle tatsächlichen oder vermeintlichen nachteile aufwiegen - und zwar für alle." die eu, von sz-korrespondent daniel brössler auf den punkt gebracht.

Donnerstag, 15. Juni 2017

BASEL: SATYAGRAHA, NERVTÖTEND

minutenlang schreitet mahatma gandhi im weissen gewand über die dunkle bühne und singt dazu texte aus dem altindischen epos „bhagavad gita“. eine lichtgestalt. minutenlang tanzt mahatma gandhi im weissen gewand inmitten von farbigen kämpfern, die ihre blutigen hände zum himmel werfen. minutenlang freut sich mahatma gandhi im weissen gewand über die leute, die die gründung seiner zeitung „indian opinion“ feiern. diesem kämpfer für gewaltfreien widerstand wollte der amerikanische komponist philipp glass 1980 ein denkmal setzen. er nannte es eine oper. „satyagraha“ („kraft der wahrheit“) erlebte jetzt, zum 80. geburtstag des komponisten, am theater basel ihre schweizerische erstaufführung, inszeniert vom multikulti-choreografen sidi larbi cherkaoui, dirigiert von jonathan stockhammer: viel bewegung, kaum handlung. eine oper? eher ein oratorium, eine musikalische meditation darüber, wie sehr der wunsch nach abwesenheit von krieg und gewalt auch persönliche veränderung bedingt. und tatsächlich scheinen sich nicht wenige im publikum hier zu einem gandhi-gottesdienst einfinden zu wollen. sie werden aufs äusserste gefordert, denn glass schrieb für gandhi (rolf romei mit strahlendem tenor) zwar sinnlich-schöne melodienbögen und stattete auch die chöre musikalisch gut aus, doch dem orchester verordnete er parallel dazu absolute musikalische einfalt, endlos, wirklich endlos, die immer gleichen zwitschernden tonleitern und die immer gleichen juckenden dreiklänge. definitiv keine oper also, sondern ein strapaziöses, überredundantes klangexperiment. minimal music auf maximale dauer zerdehnt. statt der vom komponisten beabsichtigten hypnotisierenden spiritualität erlebten wir drei letztlich nervtötende stunden. zum glück haben wir von gandhi gelernt, unseren zorn in positive energie umzuwandeln.

Mittwoch, 7. Juni 2017

MÜNCHEN: KREISE/VISIONEN

das leben ist ein leeres weisses blatt. so liegt es vor uns im marstall des münchner residenztheaters, 15 auf 15 meter, das publikum auf allen vier seiten. dann stürzen drei schauspielerinnen und fünf schauspieler herein, alle im violetten frack, alle mit glatzen und schlohweissem resthaar, alle mit einer discokugel spielend. willkommen im variété, willkommen in einer philosophischen revue über hoffnungen, ängste und träume, willkommen in joël pommerats stück „kreise/visionen“. der französische theatermacher verschachtelt darin acht geschichten aus sieben jahrhunderten zu 20 szenen mit 64 figuren. zwei kinderlose paare verirren sich in einem wald und hören immer babygeschrei. ein steinreicher manager sucht bei obdachlosen einen organspender, um das leben seines sohnes zu retten. ein adeliger möchte im drogenrausch seinen bediensteten verführen, doch der will lieber in den krieg ziehen. und. so. weiter. regisseurin tina lanik entwickelt mit ihren acht violetten conférencier-clowns zunächst einen rasenden reigen, der immer um die frage kreist, wo das glück zu finden ist und wo der erfolg und wo man bitte die energie her nehmen soll, um es zu sehen und sich ihm zu nähern. das spielt, allen violetten überhöhungen zum trotz, meistens sehr nahe am alltag. der motivationstrainer, der arbeitslose coacht, und der verkäufer, der einer depressiven alleinerziehenden die „universalbibel zum erfolg“ andrehen will,  bekommen dann allerdings so viel platz, dass der rhythmus der episoden völlig aus dem gleichgewicht gerät. die revue wird zäh, die reflexion erlahmt.

Dienstag, 6. Juni 2017

ZÜRICH: JAKOB VON GUNTEN

bückling, tür auf, bückling, tür zu. bückling, tür auf, bückling, tür zu. die jungs im institut benjamenta werden gedrillt, in einem langen, immer enger werdenden korridor, das fenster am ende lässt kaum licht durch, wenig luft zum atmen. bückling, tür auf, bückling, tür zu. barbara frey lässt ihre inszenierung von robert walsers tagebuchroman „jakob von gunten“ in der box des schiffbaus mit einer mehrere minuten dauernden, stummen choreografie der unterwürfigkeit beginnen. michael maertens, stefan kurt und hans kremer sind als zöglinge eine wucht, übermotivierte ministranten, die sich über ihre motivation den kopf noch nicht zerbrochen haben. gebetsmühlenartig rezitieren sie später mit enervierender redundanz ihre benimm-bibel: „das gute betragen ist ein blühender garten.“ hier blüht gar nichts. hier verdorrt noch die letzte vitale regung. diese jungs werden nicht gefördert, sondern leer gesaugt. hier wird jakob, wie er selber sagt, „eine reizende kugelrunde null“. barbara frey sieht im walser-roman einen „gegenentwurf zum heutigen lebensoptimierungs- und effizienzwahn“, ebenso heiter wie beunruhigend. zwischen diesen polen pendelt auch ihre von melancholischen klaviersuiten und songs untermalte inszenierung. man lacht und ist bedrückt und lacht immer weniger. fräulein benjamenta (ebenfalls stefan kurt) ist in ein armloses schlangenkleid gezwängt, das nur ihrem zuchtstock noch freien lauf lässt. er fällt bei ihrem tod wie ein verfaulter körperteil von ihr ab. derweil herr benjamenta, der vorsteher (ebenfalls hans kremer, als ballonartig aufgeblasener gottvater), mit jakob in die wüste aufbricht. offen bleibt, ob er dort die freiheit sucht oder nur bücklinge üben will. man kann gut verstehen, dass franz kafka diesen roman walsers geliebt und viel daraus vorgelesen hat.