Dienstag, 30. Mai 2017

BASEL: PEER GYNT, DANCE VERSION

da tanzt einer um sein leben. sprünge, pirouetten, akrobatik, slapstick. fast zwei stunden lang ist dieser frank fannar pedersen das ebenso faszinierende wie rastlose zentrum auf der grossen bühne; da kommen menschen und es gehen menschen und er tanzt und tanzt und tanzt. pedersen ist peer gynt, und peer gynt ist auf der suche nach sich selbst und dabei immer auch auf der flucht vor sich selbst. eine steilvorlage für ein tanztheater. die geschichte von ibsens „nordischem faust“ verknüpft der schwedische choreograf johan inger am theater basel mit seiner eigenen biografie: das gyntsche ich und die stationen eines tänzerlebens überlagern sich, weite reisen, grobe zweifel, derbe erotik, das volle programm. was einigermassen herbeigedacht und konstruiert wirken könnte, kommt hier – zu musik von grieg, tschaikowsky und bizet – wie aus einem guss daher. das liegt ganz wesentlich auch am bezaubernden bühnenbild von curt allen wilmer: er hat links und rechts eine art grosse archivschränke gebaut, da wird dann mal der und mal jener herausgezogen – und drin, puppenstubenmässig, mutter aases hütte in norwegen, ein tanzstudio in den usa, eine spelunke in spanien, ein wc-häuschen. das sorgt subito für die adäquate stimmung und erlaubt fliessende, temporeiche übergänge von einer szene zur nächsten. irgendwann im zweiten teil werden alle schränke gleichzeitig geöffnet und hinten ins dunkel weggefahren; die erinnerungen überwältigen peer und gleichzeitig befreit er sich von ihnen. dann ist er allein auf der leeren bühne, nur ein knabe kommt dazu, peer als tanzeleve, und spielt auf der flöte die morgenstimmung aus griegs peer-gynt-suite. ein moment grosser poesie und grosser erkenntnis: erst in dieser leere schärft sich der blick für die wesentlichen bindungen.

Sonntag, 21. Mai 2017

MÜNCHEN: HAMLET IM BLUT, BLUT, BLUT

blutrache, blutrausch, blutbad, blutorgie. der theaterbluttank auf der hinterbühne spielt eine zentrale rolle, kübelweise wird blut verschüttet und verspritzt, es trocknet nie während dieser aufführung. 240 liter kommen zum einsatz, macht bei nur drei schauspielern im schnitt immerhin… - aber lassen wir das. „hamlet“ also. hamlet macht, unmittelbar vor seinem tod, seinen freund horatio zum chronisten seines lebens: „wenn du mich je in deinem herzen trugst, so atme schmerzhaft in der rauen welt, um hamlet zu erzählen.“ übers led-schriftband laufen zu beginn alle rollen, die christopher rüping, hausregisseur der münchner kammerspiele, gestrichen hat: alle. ausser horatio. dafür beschwören gleich drei horatios den toten freund und seine traumatische geschichte. katja bürkle, nils kahnwald (nach einer verletzung im rollstuhl) und walter hess zeigen in einem furiosen marathon, wie es sich anfühlt, heute hamlet zu erinnern und zu spielen und ophelia und claudius und laertes. wie es sich anfühlt als junger mann, der mit seiner welt nicht zurecht kommt, da sie komplex und brutal ist und ihm den vater geraubt hat. im kapuzenpulli dröhnt sich hamlet den kopf mit dem sound der zeit voll, wenn horatio ihn spielt oder das ganze horatio-trio. da ist wenig grübeln und viel verzweiflung und aggression und zerstörungswut. „sein oder nicht sein“ – das ist für die drei horatios keine frage, sondern eine lästige pflichtübung, da alles schon gesagt und breitgetreten ist, weshalb sie den monolog dem musiker christoph hart überlassen, der aus historischen aufnahmen mit grossen schauspielern eine coole toncollage mit immer härteren beats bastelt. diese inszenierung wirkt gelegentlich pubertär, aber immer kraftvoll. am schluss stehen wieder dutzende von eimern auf der bühne, der saft fürs nächste blutbad. „weiter, weiter“ flimmert über die led-leiste. hamlet 2017, arrogant und durchgeknallt.

Samstag, 20. Mai 2017

LUZERN: DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN

„der teufel tanzt es mit mir“, „wahnsinn fasst mich an“, „vernichte mich, dass ich vergesse, dass ich bin“, so und ähnlich notiert gustav mahler in den entwürfen zu seiner zehnten, schliesslich unvollendeten sinfonie; nach dem absprung seiner alma steckt der komponist in einer existenziellen krise. genau wie herr geiser, der protagonist in max frischs holozän-erzählung, dem in seinem tessiner rustico die hirnzellen allmählich abhanden kommen. in beiden werken endzeitstimmung, in beiden fällen autobiographisch grundiert. am luzerner theater kombiniert regisseur felix rothenhäusler die beiden: im ersten teil frisch pur, im zweiten teil frisch durchsetzt mit mahler-fragmenten, im dritten teil mahler – eine reise durch menschliche ängste und abgründe, eine steigerung zum unfassbaren, transzendenten. ein paar blitze zucken quer über die bühne, zum donner von wort und musik. so weit, so bestechend. doch der schauspieler adrian furrer, in einem massiv irritierenden van-gogh-t-shirt, deklamiert hektisch an der rampe und kriegt die subtilität des frisch/geiser-monologs nicht hin. und dirigent winston dan vogel kommt mit den spätromantischen klangfarben nicht klar, das mahler-universum bleibt weit entfernt, die querflöten quietschen, die hörner sabbern, so schlecht habe ich das luzerner sinfonieorchester lange nicht gehört (pleistozän). so will, so kann sich kein ganzes ergeben. dass das luzerner theater vermehrt experimentiert, ist erfreulich. dieses experiment jedoch wird weder mahler noch frisch gerecht, man muss es als missglückt bezeichnen.

Dienstag, 16. Mai 2017

MILANO: SANTIAGO SIERRA

provocation on tour. unter dem titel „mea culpa“ zeigt jetzt auch das museo pac (padiglione d’arte contemporanea) in mailand eine grosse retrospektive über das werk des begnadeten provokateurs santiago sierra. der spanische künstler ist einer, der sich am elend der welt abarbeitet und mit seinen harten und brutalen bildern, videos, skulpturen und performances um die welt tourt. jetzt also mailand. sierra will hier wie überall die unsichtbaren skandale ans licht bringen. die ausstellung ist in erster linie eine dokumentation seiner spektakulären aktionen: mit den beiden buchstaben „no“ in form einer drei meter hohen skulptur fuhr er durch die wall street, nach washington und zum papst; in neu-delhi trocknete er von ausgebeuteten latrinenarbeitern eingesammelte fäkalien in der sonne und formte sie mit bindemittel zu quadern, die an särge erinnern; er sperrte menschen gegen bezahlung in kartons oder liess sie vor der kamera masturbieren. „meine arbeit ergreift partei für das vom kapitalismus zerstörte leben.“ er wolle in seinen werken die realität abbilden, nicht seine wünsche. das stimmt nicht ganz. eines der grossen werke in mailand („parola distrutta/destroyed word“) zeigt auf zehn raumhohen, hochformatigen bildschirmen die zehn ebenfalls raumhohen buchstaben von „kapitalism“ und wie sie liquidiert werden: zwei schwarze zerhacken mit beilen das i, das a wird mit maschinenpistolen durchlöchert, schweine fressen das s auf, kapitalismus am ende. oder doch nur hilflose versuche? diese kunst schüttelt durch und rüttelt auf. nachhaltig. man gönnt sich danach nicht gleich den nächsten campari.

Donnerstag, 4. Mai 2017

BASEL: ORESTEIA

agamemnon liegt vorne auf der leeren bühne. tot. dahingemordet von seiner gattin klytaimnestra. dazu aus der bühnentiefe scharfes schlagwerk und brutale bläserfetzen. und elektra, die tochter der beiden, schreit herzzerreissend: „nie endendes unheil!“ in der atriden-dynastie zieht ein mord den anderen nach sich. als der griechische komponist iannis xenakis die „orestie“ von aischylos 1965/66 zu vertonen begann, interessierte ihn vor allem eines: wie mögen sprache, chöre, musik damals geklungen haben? was war der sound der antiken theater? seine melodien sind schräg, unvollständig, teilweise hässlich – und immer ausgesprochen rhythmisch: klagelieder von grosser suggestiver kraft. wenn der chor des basler theaters die altgriechischen verse, unterstützt durch fabelhafte perkussionisten der basel sinfonietta, frontal ins publikum singt oder spricht, ergibt sich eine berührende, oft auch beängstigende tonspur zum fluch, der auf dieser gesellschaft lastet. hier gelingen regisseur calixto bieito die stärksten momente, macht und ohnmacht der massen, wogegen er mit den solistinnen und solisten weniger anzufangen weiss; da bleibt es bei assoziativen bildern und ziemlich konventionellen arrangements, die die schicksalshaften verstrickungen innerhalb der atriden-sippe vor allem immer recht körperlich illustrieren, ich lieb‘ dich, ich fick‘ dich, ich würg‘ dich. dazu in riesiger schwarz-weiss-projektion über allem permanent ein verspieltes, schwarzgelocktes mädchen: die tochter iphigenie, die agamemnon für sein kriegsglück zu opfern bereit ist, als mädchen von heute. „manchmal fühlt es sich so an, als würden wir in einer welt leben, in der eine solche tragödie jederzeit wirklichkeit werden könnte“, schreibt dirigent franck ollu im programmheft. reanimierte mythologie, fährt ein.

Mittwoch, 3. Mai 2017

ZERMATT: ROMEO UND JULIA AUF 2600 METERN

es gab mal eine wundervolle einrichtung: das theater. man sass in einem raum, schaute sich eine inszenierung an und freute oder ärgerte sich darüber. das genügte einigen nicht. sie erfanden das freilichttheater, wo man sich nicht über das stück ärgert, sondern weil man friert oder weil die musiker davonrennen, da es ihnen auf die stradivaris pisst. ok, „das grosse welttheater“ vor der barocken fassade des klosters einsiedeln oder „carmen“ in der arena von nîmes, das macht ja inhaltlich noch einigermassen sinn. aber auch das genügte einigen nicht. sie erfanden das landschaftstheater, wo pferde und schauspieler über wiesen jagen – und das publikum hinterher. heute lauert an jedem ufer und hinter jedem wäldchen so ein event. „some like it hot“ am thunersee. hot! am thunersee! verdis „rigoletto“ vor der mülimatt-turnhalle in brugg/windisch (auch das ist, ehrlich, nicht erfunden). „winnetou 1“ in engelberg. und es wird noch absurder: nach dem landschaftstheater folgt jetzt unvermeidlich das hochgebirgstheater. der ultimative höhepunkt wird diesen sommer mit „romeo und julia am gornergrat“ erreicht, 2600 meter, zum schnäppchenpreis von 99 franken. eine kulturelle gratwanderung. dabei gibt’s so eine richtig tüchtige lungenentzündung im flachland viel günstiger, vor der mülimatt-turnhalle in brugg/windisch zum beispiel. aber nein, man wird diesen sommer mit blauen lippen und vor kälte starr auf 2600 metern sitzen – und die alten shakespeare-verse werden von ganz neuer dringlichkeit durchdrungen: „von diesen lippen schied das leben längst; der tod liegt auf ihr, wie ein maienfrost.“ und bestimmt freuen sich dann alle schon auf „die zauberflöte“ in der eigernordwand.