da tanzt einer um sein leben.
sprünge, pirouetten, akrobatik, slapstick. fast zwei stunden lang ist dieser
frank fannar pedersen das ebenso faszinierende wie rastlose zentrum auf der
grossen bühne; da kommen menschen und es gehen menschen und er tanzt und tanzt
und tanzt. pedersen ist peer gynt, und peer gynt ist auf der suche nach sich
selbst und dabei immer auch auf der flucht vor sich selbst. eine steilvorlage
für ein tanztheater. die geschichte von ibsens „nordischem faust“ verknüpft der
schwedische choreograf johan inger am theater basel mit seiner eigenen
biografie: das gyntsche ich und die stationen eines tänzerlebens überlagern
sich, weite reisen, grobe zweifel, derbe erotik, das volle programm. was einigermassen
herbeigedacht und konstruiert wirken könnte, kommt hier – zu musik von grieg,
tschaikowsky und bizet – wie aus einem guss daher. das liegt ganz wesentlich
auch am bezaubernden bühnenbild von curt allen wilmer: er hat links und rechts
eine art grosse archivschränke gebaut, da wird dann mal der und mal jener
herausgezogen – und drin, puppenstubenmässig, mutter aases hütte in norwegen,
ein tanzstudio in den usa, eine spelunke in spanien, ein wc-häuschen. das sorgt
subito für die adäquate stimmung und erlaubt fliessende, temporeiche übergänge
von einer szene zur nächsten. irgendwann im zweiten teil werden alle schränke
gleichzeitig geöffnet und hinten ins dunkel weggefahren; die erinnerungen
überwältigen peer und gleichzeitig befreit er sich von ihnen. dann ist er
allein auf der leeren bühne, nur ein knabe kommt dazu, peer als tanzeleve, und
spielt auf der flöte die morgenstimmung aus griegs peer-gynt-suite. ein moment
grosser poesie und grosser erkenntnis: erst in dieser leere schärft sich der
blick für die wesentlichen bindungen.
Dienstag, 30. Mai 2017
Sonntag, 21. Mai 2017
MÜNCHEN: HAMLET IM BLUT, BLUT, BLUT
blutrache,
blutrausch, blutbad, blutorgie. der theaterbluttank auf der hinterbühne spielt
eine zentrale rolle, kübelweise wird blut verschüttet und verspritzt, es
trocknet nie während dieser aufführung. 240 liter kommen zum einsatz, macht bei
nur drei schauspielern im schnitt immerhin… - aber lassen wir das. „hamlet“
also. hamlet macht, unmittelbar vor seinem tod, seinen freund horatio zum
chronisten seines lebens: „wenn du mich je in deinem herzen trugst, so atme
schmerzhaft in der rauen welt, um hamlet zu erzählen.“ übers led-schriftband
laufen zu beginn alle rollen, die christopher rüping, hausregisseur der
münchner kammerspiele, gestrichen hat: alle. ausser horatio. dafür beschwören gleich
drei horatios den toten freund und seine traumatische geschichte. katja bürkle, nils
kahnwald (nach einer verletzung im rollstuhl) und walter hess zeigen in einem
furiosen marathon, wie es sich anfühlt, heute hamlet zu erinnern und zu spielen
und ophelia und claudius und laertes. wie es sich anfühlt als junger mann, der
mit seiner welt nicht zurecht kommt, da sie komplex und brutal ist und ihm den vater geraubt hat. im
kapuzenpulli dröhnt sich hamlet den kopf mit dem sound der zeit voll, wenn
horatio ihn spielt oder das ganze horatio-trio. da ist wenig grübeln und viel
verzweiflung und aggression und zerstörungswut. „sein oder nicht sein“ – das
ist für die drei horatios keine frage, sondern eine lästige pflichtübung, da
alles schon gesagt und breitgetreten ist, weshalb sie den monolog dem musiker
christoph hart überlassen, der aus historischen aufnahmen mit grossen
schauspielern eine coole toncollage mit immer härteren beats bastelt. diese
inszenierung wirkt gelegentlich pubertär, aber immer kraftvoll. am schluss
stehen wieder dutzende von eimern auf der bühne, der saft fürs nächste blutbad.
„weiter, weiter“ flimmert über die led-leiste. hamlet 2017, arrogant und
durchgeknallt.
Samstag, 20. Mai 2017
LUZERN: DER MENSCH ERSCHEINT IM HOLOZÄN
„der
teufel tanzt es mit mir“, „wahnsinn fasst mich an“, „vernichte mich, dass ich
vergesse, dass ich bin“, so und ähnlich notiert gustav mahler in den entwürfen
zu seiner zehnten, schliesslich unvollendeten sinfonie; nach dem absprung
seiner alma steckt der komponist in einer existenziellen krise. genau wie herr
geiser, der protagonist in max frischs holozän-erzählung, dem in seinem
tessiner rustico die hirnzellen allmählich abhanden kommen. in beiden werken
endzeitstimmung, in beiden fällen autobiographisch grundiert. am luzerner
theater kombiniert regisseur felix rothenhäusler die beiden: im ersten teil
frisch pur, im zweiten teil frisch durchsetzt mit mahler-fragmenten, im dritten
teil mahler – eine reise durch menschliche ängste und abgründe, eine steigerung
zum unfassbaren, transzendenten. ein paar blitze zucken quer über die bühne,
zum donner von wort und musik. so weit, so bestechend. doch der schauspieler
adrian furrer, in einem massiv irritierenden van-gogh-t-shirt, deklamiert
hektisch an der rampe und kriegt die subtilität des frisch/geiser-monologs
nicht hin. und dirigent winston dan vogel kommt mit den spätromantischen
klangfarben nicht klar, das mahler-universum bleibt weit entfernt, die
querflöten quietschen, die hörner sabbern, so schlecht habe ich das luzerner
sinfonieorchester lange nicht gehört (pleistozän). so will, so kann sich kein
ganzes ergeben. dass das luzerner theater vermehrt experimentiert, ist
erfreulich. dieses experiment jedoch wird weder mahler noch frisch gerecht,
man muss es als missglückt bezeichnen.
Dienstag, 16. Mai 2017
MILANO: SANTIAGO SIERRA
provocation
on tour. unter dem titel „mea culpa“ zeigt jetzt auch das museo pac (padiglione
d’arte contemporanea) in mailand eine grosse retrospektive über das werk des
begnadeten provokateurs santiago sierra. der spanische künstler ist einer, der
sich am elend der welt abarbeitet und mit seinen harten und brutalen bildern,
videos, skulpturen und performances um die welt tourt. jetzt also mailand.
sierra will hier wie überall die unsichtbaren skandale ans licht bringen. die
ausstellung ist in erster linie eine dokumentation seiner spektakulären
aktionen: mit den beiden buchstaben „no“ in form einer drei meter hohen skulptur
fuhr er durch die wall street, nach washington und zum papst; in neu-delhi
trocknete er von ausgebeuteten latrinenarbeitern eingesammelte fäkalien in der
sonne und formte sie mit bindemittel zu quadern, die an särge erinnern; er
sperrte menschen gegen bezahlung in kartons oder liess sie vor der kamera
masturbieren. „meine arbeit ergreift partei für das vom kapitalismus zerstörte
leben.“ er wolle in seinen werken die realität abbilden, nicht seine wünsche.
das stimmt nicht ganz. eines der grossen werke in mailand („parola distrutta/destroyed
word“) zeigt auf zehn raumhohen, hochformatigen bildschirmen die zehn ebenfalls
raumhohen buchstaben von „kapitalism“ und wie sie liquidiert werden: zwei
schwarze zerhacken mit beilen das i, das a wird mit maschinenpistolen
durchlöchert, schweine fressen das s auf, kapitalismus am ende. oder doch nur
hilflose versuche? diese kunst schüttelt durch und rüttelt auf. nachhaltig. man
gönnt sich danach nicht gleich den nächsten campari.
Freitag, 12. Mai 2017
BERLIN: DIE ZEITEN ÄNDERN SICH
den fugen
welt die ganze
ist aus.
(der neue slogan der berliner "taz")
welt die ganze
ist aus.
(der neue slogan der berliner "taz")
Donnerstag, 4. Mai 2017
BASEL: ORESTEIA
agamemnon
liegt vorne auf der leeren bühne. tot. dahingemordet von seiner gattin
klytaimnestra. dazu aus der bühnentiefe scharfes schlagwerk und brutale
bläserfetzen. und elektra, die tochter der beiden, schreit herzzerreissend:
„nie endendes unheil!“ in der atriden-dynastie zieht ein mord den anderen nach
sich. als der griechische komponist iannis xenakis die „orestie“ von aischylos
1965/66 zu vertonen begann, interessierte ihn vor allem eines: wie mögen
sprache, chöre, musik damals geklungen haben? was war der sound der antiken
theater? seine melodien sind schräg, unvollständig, teilweise hässlich – und immer
ausgesprochen rhythmisch: klagelieder von grosser suggestiver kraft. wenn der
chor des basler theaters die altgriechischen verse, unterstützt durch
fabelhafte perkussionisten der basel sinfonietta, frontal ins publikum singt
oder spricht, ergibt sich eine berührende, oft auch beängstigende tonspur zum
fluch, der auf dieser gesellschaft lastet. hier gelingen regisseur calixto
bieito die stärksten momente, macht und ohnmacht der massen, wogegen er mit den
solistinnen und solisten weniger anzufangen weiss; da bleibt es bei assoziativen
bildern und ziemlich konventionellen arrangements, die die schicksalshaften
verstrickungen innerhalb der atriden-sippe vor allem immer recht körperlich
illustrieren, ich lieb‘ dich, ich fick‘ dich, ich würg‘ dich. dazu in riesiger
schwarz-weiss-projektion über allem permanent ein verspieltes, schwarzgelocktes
mädchen: die tochter iphigenie, die agamemnon für sein kriegsglück zu opfern
bereit ist, als mädchen von heute. „manchmal fühlt es sich so an, als würden
wir in einer welt leben, in der eine solche tragödie jederzeit wirklichkeit
werden könnte“, schreibt dirigent franck ollu im programmheft. reanimierte
mythologie, fährt ein.
Mittwoch, 3. Mai 2017
ZERMATT: ROMEO UND JULIA AUF 2600 METERN
es gab mal eine wundervolle
einrichtung: das theater. man sass in einem raum, schaute sich eine
inszenierung an und freute oder ärgerte sich darüber. das genügte einigen
nicht. sie erfanden das freilichttheater, wo man sich nicht über das stück
ärgert, sondern weil man friert oder weil die musiker davonrennen, da es ihnen
auf die stradivaris pisst. ok, „das grosse welttheater“ vor der barocken
fassade des klosters einsiedeln oder „carmen“ in der arena von nîmes, das macht
ja inhaltlich noch einigermassen sinn. aber auch das genügte einigen nicht. sie
erfanden das landschaftstheater, wo pferde und schauspieler über wiesen jagen –
und das publikum hinterher. heute lauert an jedem ufer und hinter jedem
wäldchen so ein event. „some like it hot“ am thunersee. hot! am thunersee! verdis
„rigoletto“ vor der mülimatt-turnhalle in brugg/windisch (auch das ist,
ehrlich, nicht erfunden). „winnetou 1“ in engelberg. und es wird noch absurder:
nach dem landschaftstheater folgt jetzt unvermeidlich das hochgebirgstheater.
der ultimative höhepunkt wird diesen sommer mit „romeo und julia am gornergrat“
erreicht, 2600 meter, zum schnäppchenpreis von 99 franken. eine kulturelle gratwanderung.
dabei gibt’s so eine richtig tüchtige lungenentzündung im flachland viel
günstiger, vor der mülimatt-turnhalle in brugg/windisch zum beispiel. aber
nein, man wird diesen sommer mit blauen lippen und vor kälte starr auf 2600
metern sitzen – und die alten shakespeare-verse werden von ganz neuer
dringlichkeit durchdrungen: „von diesen lippen schied das leben längst; der tod
liegt auf ihr, wie ein maienfrost.“ und bestimmt freuen sich dann alle schon
auf „die zauberflöte“ in der eigernordwand.
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