ehekrise
bei barak. der färber in seiner einfachen hütte will kinder, viele, seine frau
weigert sich, bloss gebärmaschine zu sein. derweil singt der chor der
stadtwächter im off ein loblied auf die liebe und aus der geisterwelt steigen
die ebenfalls kinderlose kaiserin und ihre amme herab, um von der färberin den
schatten, also die gebärfähigkeit, zu erdealen. nanu? ein spuk? ein märchen?
eine hymne auf die ehe? futter für feministinnen? ja, alles! und deshalb ist „die
frau ohne schatten“ von richard strauss und hugo von hofmannsthal für jeden
regisseur eine herausforderung. andreas kriegenburg versucht an der hamburger
staatsoper gar nicht erst, die widersprüche und absurditäten der geschichte zu
klären oder zu glätten, sondern liefert das volle programm als monströsen
albtraum der färberin: zwischen bühnenhohen mikadostäben und wendeltreppen, die
immer wieder in die höhe und in die tiefe fahren, trifft sie auf farbige
fabeltiere, auf ungeborene und eurythmie-schleier schwingende geschlechtslose genauso wie
auf garstige irrenhaus-schwestern und dumpfe schläger. strauss‘ musik deckt von der spätromantik bis zu den grenzen der tonalität alles ab und wie diese musik
pendelt auch die von asiatischen theaterformen
inspirierte inszenierung zwischen tiefen humanistischen momenten und
ungebremstem kitsch. auch der strauss-aficionado entdeckt in diesem reichen,
vielschichtigen werk immer wieder neues, vor allem, wenn es so elegant und
transparent dirigiert wird wie von axel kober, der kurzfristig für kent nagano
einspringen musste. immerhin stand ihm eine top-besetzung zur verfügung, allen voran
andrzej dobber als barak und lise lindstrom als seine frau – ein darstellerisch differenziertes und vokal herausragendes paar, dem man selbst bei der
ehekrise gerne zuschaut und –hört.
Sonntag, 30. April 2017
Samstag, 29. April 2017
HAMBURG: MAHLER 8 IN DER ELPHI
elbphilharmonie.
elphi. mein erstes mal. für ein seit monaten ausverkauftes konzert im letzten
moment doch noch zwei tickets ergattert. das opus summum von gustav mahler im
opus summum von herzog und de meuron: was für ein ort für dieses werk. die
symphonie nr. 8 in es-dur von mahler beschäftigt ein orchester mit 135
musikerinnen und musikern, zwei konzertchöre und einen kinderchor, fünf
solistinnen und drei solisten; sie wurde nach ihrer uraufführung 1910 deshalb auch
symphonie der tausend genannt – und vom „spiegel“ „mahlers riesenschwarte“. „denken
sie sich, dass das universum zu tönen und zu klingen beginnt“, sagte mahler
selber; er verwob hier einen mittelalterlichen pfingsthymnus und die
faust-schlussszene zu einem 90 minuten wabernden wunderwerk, das sämtliche
themen des daseins streift und transzendiert und sämtliche musikalischen
möglichkeiten und grenzen auslotet. schon bei den einleitenden tutti-takten („veni
creator spiritus“) überzieht, spürbar, eine kollektive gänsehaut das publikum.
es dirigiert der mahler-spezialist eliahu inbal, der kurzfristig für den
erkrankten kent nagano einsprang, und es ist umwerfend, mit welcher konzentration
und kraft der 81jährige diese kiste zusammenhält und wie er ohne ausgiebige
vorbereitung diesen neuen und aussergewöhnlichen raum im griff hat und
plastisch zu füllen vermag. die akustik? sie bringt
dieses monumentale werk zum strahlen, das publikum hört nicht einfach, sondern
wird gleichsam eingetaucht, wird teil des gewaltigen musikkosmos; einzig die
ganz, ganz zarten passagen strahlen ein wenig zu grell. aber ob das an der
akustik liegt? oder am orchester? am dirigenten? an meinem platz (bereich b,
reihe 3, platz 8 – ziemlich vorne, ziemlich links, ziemlich nahe bei den
violinen)? oder an meinen ohren? who knows? die gesamtwirkung wird dadurch
keineswegs getrübt. diese phantastische musik in diesem phantastischen raum –
ein wort dominiert danach im publikum: überwältigend.
Samstag, 22. April 2017
SANTA TERESA DI GALLURA: ACCABADORA
das
cinema teatro von santa teresa ist gross, für ein kleines städtchen sogar sehr
gross. und es ist sehr leer an diesem abend. zunächst sind wir nur vier leute,
beim filmstart dann 17. erstaunlich, denn immerhin wird ein film gezeigt, der
in sardinien spielt, ein bewegender heimatfilm: „accabadora“, der roman von
michela murgia, verfilmt von enrico pau. es ist die geschichte einer frau, tzia
bonaria, die in weiten schwarzen kleidern über die felder in die dörfer zieht, um
menschen den todeskampf zu verkürzen. oft wird sie von familien gerufen, die
sich dann irgendwo ins halbdunkel der häuser zurückziehen, wenn tzia bonaria
das zimmer des hoffnungslos kranken betritt, die türe hinter sich schliesst,
jesus am kreuz gegen die wand dreht und dann ihr handwerk als sterbehelferin
verrichtet. donatella finocchiaro spielt diese frau ganz ergreifend, nicht als
kalten engel, sondern wie eine in sich ruhende priesterin, die überzeugt und
überzeugend eine erlösende zeremonie vollzieht. oft soll dies auch mit wissen
und duldung der katholischen kirche geschehen sein. der film von enrico pau, der nie wertet, hat
einen grossen atem, wie man ihn im kino nur noch selten erlebt: minutenlange
einstellungen, landschaften, lichtspiele, sardische gesänge, stumme gesichter. auf diese weise wird dieser spielfilm zu einer langen, stillen
meditation über unser verhältnis zu leben und tod. accabadoras soll es in
sardinien bis in die fünfziger jahre des letzten jahrhunderts gegeben haben; in
der offiziellen volkskunde allerdings, so verrät der abspann, sind sie bis
heute inexistent. dieser film ist ein intimer blick in eine archaische
vergangenheit.
Donnerstag, 20. April 2017
AGLIENTU: LENTICCHIE SARDE
olivenöl. zwiebel. linsen. wasser. salz. pfeffer. aubergine. radicchio. rotwein. salsiccia. petersilie. kümmel. minze. alles der reihe nach in einen topf.
Montag, 10. April 2017
LUZERN: LA TRAVIATA, TAUMEL ZUM TOD
„abbandonata
in questo popoloso deserto che appellano parigi!“ sie fühlt sich verlassen,
verloren, völlig einsam in dieser wüste namens paris. violetta valéry, die an
tuberkulose erkrankte edelkurtisane aus giuseppe verdis „la traviata“, steht im
luzerner theater die ganzen zweieinhalb stunden allein auf der vorbühne; alle
anderen singen nur aus dem dunkel der oberen ränge des zuschauerraums, sind
bloss stimmen in ihrem kopf, ferne erinnerungen, fieberträume. so radikal wie
in benedikt von peters inszenierung für die staatsoper hannover, die er jetzt
als intendant nach luzern übernommen hat, so radikal und so tief anrührend hat man
diese oper noch nie gesehen. phänomenal gestaltet die amerikanische sopranistin
nicole chevalier die rolle als rauschhaft erregten taumel zum tod. umgeben und
immer wieder neu verführt von den requisiten ihres lebens – champagnergläser, luftschlangen,
maquillage, die berühmte kamelie – keimt ihre sehnsucht nach echter liebe noch
einmal auf, die sich mit alfredo zu erfüllen schien und dann durch dessen vater
brutal gekappt wurde. zu verdis melodien, die clemens heil wunderbar warm und
weich dirigiert und die immer irgendwo auch hoffnung auf ein besseres leben
durchscheinen lassen, steigern sich ihre seelenqualen, sie irrt – brillant in
allen stimmlichen schattierungen – wie eine wahnsinnige durch erlebtes und
ersehntes, mal ruht sie, mal rast sie, nie kann sie sich diesem schlachtfeld
der gedanken und gefühle entziehen. diese frau verzehrt sich für ihre utopie, erst
der tod bringt ihr licht und erlösung. das sichtlich bewegte publikum bedankt
sich bei der darstellerin, was in luzern ausgesprochen selten vorkommt, mit
einer standing ovation. dieser monolog in der wüste von paris wird lange
nachklingen.
Samstag, 8. April 2017
LUZERN: RUE DE BLAMAGE
der
leichenwagen parkiert nachts um halb elf mitten auf dem trottoir. im fahlen licht hinter dem schaufenster steht
bestattungsunternehmer mühlemann wie ein halbtoter. oder ein todesengel? was
macht der da, nachts um halb elf? solche episoden hat der
gebürtige luzerner filmemacher aldo gugolz für „rue de blamage“ an der baselstrasse zuhauf eingefangen. dass
sich ein zentralschweizer dokumentarfilm mal nicht auf die spuren von sennen
oder kindern in schattigen bergtälern begibt, ist ja an und für sich schon ein
höchst löbliches ereignis. was zu beginn wie die zufällige aneinanderreihung
kurzer baselstrasse-schnipsel wirkt, fügt sich allmählich zu einem grossartigen
mosaik: die ganze welt auf den 750
metern zwischen kasernenplatz und kreuzstutz, die geschichten hinter den gesichtern. da ist daniele, der ex-junkie,
der auf seinem schlafsack in einem parkhaus berührend von der liebe zu
seinem vierjährigen sohn erzählt. da ist heinz, der strassenwischer,
der modell steht für die drei meter hohe kreisel-skulptur am kreuzstutz und
wert darauf legt, dass beim bauch noch ein wenig weggeschliffen wird. da
ist die aus syrien geflüchtete frau, die sich vorwürfe macht, weil sie ihre
tochter zurückgelassen hat. da ist connie, die in ihrer beach bar „95 prozent
verheiratete männer“ erleichtert und der ein „putzsklave“ zugelaufen ist, der
sich von ihr an der leine auf allen vieren durchs treppenhaus führen lässt und
ihr in latex-vollmontur frottiertücher und bettlaken faltet. noch die
allerschrägsten szenen begleitet gugolz mit allergrösster empathie. so
haben auch wir die baselstrasse noch nicht gekannt. einer kommt regelmässig
raus aus seiner dunklen wohnung und setzt sich mit dem gartenstuhl an die
strasse. logenplatz. 30 stühle wurden ihm schon geklaut. er kauft immer wieder
neue. es lohnt sich für dieses theater. rue de blamage. luzerns
wildeste strasse ist auch luzerns farbigste strasse.
Donnerstag, 6. April 2017
BASEL: WILHELM TELL ALS REVOLUTIONS-RAP
singoh
nketia alias dj fink hat seine laptops diskret im halbdunkel am rechten
bühnenrand aufgebaut, doch er spielt in diesem „wilhelm tell“ am theater basel
eine ganz zentrale rolle. mal gibt er den takt für schillers fünfhebige jamben fein wie ein metronom vor, mal sind es heftigere beats, die
den schauspielern als rhythmische basis dienen: die 200 jahre alten blankverse
geraten durch diesen strukturierten sound zu einer art poetry-slam – und die gefühlt
500 gymeler im publikum scheinen
nachhaltig beeindruckt, wie heutig so ein klassiker klingen kann. ein tolles verdienst dieser aufführung. nicht nur akustisch, auch
visuell haben regisseur stefan bachmann und bühnenbildner olaf altmann diesen
abend stark strukturiert: ein waagrechter und ein senkrechter schacht bilden
ein bühnenhohes kreuz. in diesen schmalen schächten winden sich die
geknechteten urschweizer, können nicht aufrecht stehen, selbst den rütlischwur
müssen sie in diesen beengten verhältnissen kniend leisten, was der
eidgenössischen initiation allerdings auch eine neue, ganz und gar pathosfreie
intimität verleiht. es ist ein ausgesprochen körperliches theater, das diesen
alpinen kampf um freiheit, diese radikalisierung hin zur revolution
eindrücklich illustriert. dass sich bruno cathomas als wilhelm tell aufführt
wie gérard depardieu als obelix, stört zu beginn nicht wirklich. doch im
letzten drittel verliert der abend auch sonst deutlich an dichte, zerfranst
richtung pop (berta von bruneck als conchita-wurst-verschnitt), richtung
variété (attinghausens tod als peterchens mondfahrt), richtung beliebigkeit
(nicht nachvollziehbarer rollentausch zwischen tell und gessler). diese
show-elemente ersticken das fein getaktete kammerspiel; nicht nur gessler liegt
jetzt auf der verliererseite, auch der dj.
Montag, 3. April 2017
MÜNCHEN: ARIADNE AUF NAXOS
„völlig
verstört torkeln tragik und komik durcheinander. ‚ariadne auf naxos‘ kann man
nicht erklären – man kann sie nur vermeiden!“ so schrieb wolfgang körner 1985
bitterbös in „der einzig wahre opernführer“. er hat die inszenierung von robert
carsen an der bayerischen staatsoper nicht gesehen, der das chaos ordnet und mit
ausgeprägtem sinn für theatereffekte präzis das freilegt, was richard strauss
und hugo von hofmannsthal mit ihrer „ariadne“ 1916 schufen: eine ebenso
beschwingte wie tiefgründige studie über kunst und künstler, über liebe und
leben, über traum und wirklichkeit. die bühne ist im ersten teil (vorspiel im
palais des reichsten wieners) ein nüchterner ballettsaal, im zweiten teil (oper
auf der „wüsten insel“ naxos) ein weiter leerer schwarzer raum: carsen mag
dieses theater im theater, ermöglicht lust- und liebevoll blicke hinter die
kulissen – und vor allem stellt er durch den konsequenten verzicht auf allen
dekorativen bombast immer, immer die menschen und die musik ins zentrum. eine
musik, die seria und buffa geradezu kammermusikalisch verwebt und von kirill
petrenkos junger assistentin oksana lyniv mit phänomenaler zartheit dirigiert
wird. und es ist schlicht hinreissend, wie die von theseus verlassene ariadne
(karita mattila als stimmgewaltige tragödin), die italienische komödiantin zerbinetta
(jane archibald mit grandios verspielten koloraturen) und der komponist (tara
erraught, in ihrer verletzlichkeit berührend) über festklammern und loslassen –
in der kunst, in der liebe – sinnen und singen, sich allein und gemeinsam den
themen treue und vergänglichkeit immer wieder neu nähern und schliesslich darin
kulminieren, dass verlust befreit. glücksmomente. „der einzig wahre opernführer“
muss dringend überarbeitet werden.
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