Dienstag, 31. Januar 2017

LUZERN: KINDER DES OLYMP

der kultfilm "les enfants du paradis" von marcel carné und jacques prévert (1945) hat es dem brasilianischen choreographen fernando melo angetan: liebe zum theater, liebe im theater, grosse gefühle, bitteres ende, was für ein stoff. melo nimmt fragmente dieser tragischen liebesgeschichte, die in den oberen rängen des theaters spielt, im olymp eben, auf den billigen plätzen, und komponiert daraus einen zauberhaften tanzabend fürs luzerner theater; mit musik von chopin, debussy und peteris vasks, live und ausgesprochen stimmig dargeboten von einem streichquartett und einem pianisten. der abend besticht vor allem durch seine phänomenalen visuellen effekte: menschen im spiegel werden lebendig, zu erotischen träumen tauchen zärtlich arme und beine der ersehnten abwesenden aus dem nichts in den betten auf, tänzer fliegen scheinbar schwerelos durch die lüfte, ein liebhaber verschwindet hinter einem vorhang und nach sekundenbruchteilen nur gibt dieser vorhang einen anderen liebhaber frei. freundinnen und freunde der akrobatik und der zauberei kommen hier eindeutig noch mehr auf die rechnung als jene des tanztheaters. da wird getrickst, was das zeug hält, und man guckt und guckt und staunt und kann es weder verstehen noch glauben. diese "kinder des olymp" sind eine überzeugte und überzeugende liebeserklärung ans theater, an seine magie und seine poesie.

Sonntag, 29. Januar 2017

EMMENBRÜCKE: VERNEIGUNG VOR MAX VON MOOS

figuren. fratzen. finsterlinge. fischfragmente. fäkalien. feldherren. fleischmonster. friedhöfe. fegefeuer. gezeichnet mit dem filzschreiber, dem federkiel, dem farbstift. das zeichnerische werk von max von moos (1903-1979) ist ein schelmischer flirt mit der apokalypse. die menschen auf seinen zeichnungen sind verpanzert, verknotet, verzerrt, versehrt: dieses personal könnte den späteren figuren von hr giger modell gestanden haben. konsequent verspielt in der form, konsequent verzweifelt in der aussage; ein hellwacher blick auf eine düstere welt. unter dem titel „versöhnlich unversöhnlich“ zeigt die hochschule luzern – design & kunst an ihrem standort in der viscosistadt in emmenbrücke jetzt einen querschnitt durch max von moos‘ schaffen. die schule ehrt damit einen prägenden zentralschweizer künstler des vergangenen jahrhunderts und eröffnet mit ihm den reigen zu ihrem 140-jahr-jubiläum. max von moos war selber student an der kunsti und später während 40 jahren dozent. diese ausstellung ist eine grosse verneigung der schule vor ihrem ausnahmekünstler.

Donnerstag, 26. Januar 2017

BASEL: CALIGULA IN TRUMP-WOCHE 1

er ist ein autokratischer herrscher. er agiert blindwütig und kompromisslos. er fällt willkürliche entscheide. er verachtet seine gegner und lässt sie aus dem weg räumen. ein verrückter. trump? erdogan? nein, caligula, römischer kaiser von 37 bis 41 nach christus. albert camus‘ auseinandersetzung mit dieser figur kommt am theater basel zur passenden zeit. die inszenierung von antonio latella verzichtet auf jede aktualisierung und will das absurde nicht erklären, sondern erfahrbar machen. in einem dreieckigen blutroten raum ohne fenster und ohne türen trifft caligula freunde und feinde; in dieser enge entwickelt er jeden kontakt, jede kommunikation ins negative, alle energie ist schwarz. „er verwandelt seine philosophie in leichen“, sagt einer. „regieren heisst stehlen, das weiss doch jeder“, sagt caligula. thiemo strutzenberger in der titelrolle ist kein aufgedonnerter trump, er nähert sich dem aktiven nihilismus mit weichem singsang und verklärten glasigen augen. mal sitzt er im schwarzen tütü verträumt auf dem boden und lackiert sich die zehennägel orange, mal wirft er sich ins marie-antoinette-kostüm – die herrschaft eines wahnsinnigen in beängstigenden bildern: macht ist macht, auch wenn sie lächerlich ist. „wenn man ihn immer weitergehen lässt, wird er sich irgendwann selbst zerstören.“ oder: „wenn er sich mit den richtigen beratern umgibt und auf sie hört, dann besteht noch hoffnung.“ so denken und hoffen hier viele. sie denken und hoffen falsch. seine engsten freunde? seine mitstreiter? ohne chance. er erledigt sie alle – mit einem fluch, mit einem wutausbruch oder mit einem sanften, dreckigen satz. am ende sind alle tot. ausser caligula. er sitzt im publikum. er betrachtet das desaster, das er angerichtet hat. und lacht.

Mittwoch, 25. Januar 2017

BASEL: RAMON VARGAS ALS PÄDAGOGE

1988 debütierte der mexikaner ramon vargas am luzerner theater, heute gehört er zu den bedeutendsten tenören seiner generation. er singt in münchen und mailand, in wien und in new york. und er unterrichtet junge sängerinnen und sänger, gegenwärtig die mitglieder von operavenir, des opernstudios am theater basel. so einen lehrer möchte man haben, so viel empathie ist selten. während der öffentlichen meisterklasse auf der kleinen bühne ist jede minute zu spüren, dass vargas vor seiner sängerkarriere pädagogik studierte – er liebt die musik und er liebt die jungen leute, die sich ihr widmen: die tasmanische sopranistin bryony dwyer (sie singt donizetti), der kanadische tenor nathan haller (mozart), die koreanische sopranistin ye eun choi (donizetti), der bolivianische bass josé coca loza (händel) und die italienisch-deutsche mezzosopranistin sofia pavone (bellini). sie alle sind mit kleineren partien schon zu erleben in basel und es wird in fünf oder zehn jahren interessant sein, wer von ihnen sich – auf vargas‘ spuren – wie weit nach oben gesungen hat. tolle stimmen haben sie, technische fertigkeiten haben sie auch. woran der maestro mit ihnen vor allem arbeitet, das sind die emotionen; wie sich mit kleinsten variationen, minimsten pausen, leichten akzentverschiebungen eine ganze palette von neuen gefühlen ergibt, die eine melodie glänzen, schimmern, strahlen lassen. ein unglaubliches feuer packt ihn immer wieder, es wärmt diesen aussergewöhnlichen unterricht. was diese jungen von ramon vargas auch lernen können: bescheidenheit. in einem interview mit radio srf sagte er zum thema starkult einmal, ein tenor müsse immer darauf achten, dass sein ego nicht grösser werde als seine stimme. genau dies strahlt er auch nach 30 jahren im opernolymp noch aus. très sympa.

Donnerstag, 19. Januar 2017

LUZERN: WHAT ABOUT NORA?

unten fällt eine tür dröhnend ins schloss. dann ist die frau weg. weg von mann und kindern. so endet ibsens „nora“, die zur literarischen hymne der emanzipationsbewegung wurde. und so, mit dem donnernden scheppern der türe, beginnt der holländische regisseur bram jansen in der box des luzerner theaters seine sicht auf den stoff. unter dem titel „what about nora?“ nötigt er ibsens figuren bei nüchternem neonlicht zur familienaufstellung, er begegnet der welt von damals mit einer methode von heute. helmer, rank, krogstad, linde – sie alle sitzen im kreis, umgeben vom publikum, und erinnern ihre sicht der dinge. ibsens textfetzen (1879) und gedanken der schauspieler (2017) werden zu intensiven monologen vermengt, die dem beziehungsnetz von nora schärfere konturen geben und die zentralen fragen der sekundärliteratur gleich mitinszenieren: warum gibt ein mensch seine sicherheit auf? kann man die rolle, die man spielt, einfach wechseln? sind träume luxus für wenige? hat die gesellschaft recht oder ich? immer wieder positionieren sich die figuren im raum neu und immer wieder fällt die tür dröhnend ins schloss, die vergangenheit und die gegenwart finden zusammen. nora steht hier nicht im zentrum, sondern flaniert gleichsam durch diese wechselnden konstellationen und befragt ihr leben neu. starker ansatz, starke momente. doch diesen klaren fokus gibt die regie immer wieder preis: indem sie reclam-hefte verteilt und zuschauer daraus vorlesen lässt, indem sie von der familienaufstellung unvermittelt zur parodie einer familienaufstellung wechselt, indem sie die arme nora-darstellerin einen exhibitionistischen befreiungstanz aufs parkett legen lässt. so wirkt, was ein richtig guter theaterabend hätte werden können, zwischendurch furchtbar aufgesetzt, angestrengt, peinlich.

Freitag, 13. Januar 2017

ZÜRICH: GERÖLL IM SALAT

wie stellt man sich herrn geiser vor, den protagonisten aus „der mensch erscheint im holozän“, der in einem abgeschiedenen tessiner tal mit dem unwetter und der unbill der vergesslichkeit hadert? vielleicht wie max frisch selber. oder wie onkel sepp, bei dem jetzt auch alzheimer diagnostiziert wurde. wohl eher nicht wie martin butzke. der schauspieler am neumarkt-theater in zürich ist 42, lange dünne blonde strähnen, stoppelbart – aber keinesfalls eine fehlbesetzung. wie er diesen 85-minuten-monolog eines um eine generation älteren menschen hinlegt, das ist grosse schauspielkunst. er spricht in der dritten person von herrn geiser und ist gleichzeitig herr geiser, distanz und intime nähe in einem, ein überzeugender ansatz von neumarkt-chefdramaturg ralf fiedler. der kahle raum an der chorgasse wird unvermittelt zum tessiner rustico, weil martin butzke so bildhaft spricht, weil er uns bei geisers denken zuschauen und auch mitleiden lässt, weil er pausen setzt, wenn die bilder sich überschlagen: geröll im salat, geröll im kopf. herr geiser wird zunehmend unruhiger, zunehmend aggressiver. auf einem baustellenplastik versucht er den goldenen schnitt zu rekapitulieren, klebt als gedankenstützen dutzende von zetteln an die wände, den wodka für die bloody mary kippt er in die pelati-büchse – das chaos im hirn wird zum chaos im raum. schliesslich baut er eine kleine luftseilbahn quer durchs zimmer, mit der er ebenso liebevoll wie umständlich seine letzte bergwanderung illustriert, die auch eine nahtoderfahrung sein soll: "ein weg ist ein weg auch im nebel, ein weg ist ein weg auch in der nacht." so wird aus max frischs grossartiger demenz-etüde ein intensiver und berührender theaterabend.

Mittwoch, 11. Januar 2017

HAMBURG: DAS KLEINOD

war das jetzt norddeutsches understatement, die originellste untertreibung des abends oder einfach eine wortfindungsstörung einer übermüdeten frau? bundeskanzlerin angela merkel nannte die elbphilharmonie im pauseninterview mit dem ndr ein "kleinod". zehn jahre bauzeit, 789 millionen euro kosten, spitzenarchitektur, ein signature building, von dem die ganze welt spricht. und dann dies: "das ist ein kleinod, was wir hier erleben."

Montag, 9. Januar 2017

LUZERN: DER TÄTER GRÜSSTE OHNE MOTIV

als er irgendwann in den siebziger- oder achzigerjahren im luzerner stadtbild auftauchte, reagierten die erwachsenen zunächst irritiert und die kinder teilweise verängstigt: emil manser, ein mann im militärmantel, mit einem adventskranz auf dem kopf und mehrheitlich mürrisch. erst bei der dritten oder fünften begegnung erkannte man auch den schalk in den augen des zugereisten appenzellers, der in der folge gleich eine ganze reihe von in der stadt luzern schlecht vertretenen berufen übernahm: philosoph, strassenkünstler, provokateur, stadtoriginal, hofnarr. mit riesigen selbstgemalten plakaten setzte er sich ins stadtzentrum, vorzugsweise vor die kantonalbank: „der täter grüsste ohne motiv“ – „glück (für sie). bettle sonndags zum halben breis“ – „intelikenz ist gerecht verteilt. jede(r) meint genug zu haben“. mansers kreativ eingesetzte schreibfehler erheiterten die ganze stadt. mal verlangte er mit diesen hinguckern einfach geld fürs nächste bier, mal lieferte er bedenkenswertes weit über niveau. vor allem warb dieser vom leben immer wieder gequälte aussenseiter für toleranz, das war die wahre motivation hinter der schrägen performance. und das bringt die ausstellung im dachstock des historischen museums luzern jetzt sehr schön zum ausdruck, mit objekten aus seinem nachlass, mit einem video und mit einer farbigen und repräsentativen auswahl aus über 150 seiner plakate: „wer mich kennt liebt mich“ schrieb er auf eines; luzern hatte den mürrischen mann längst ins herz geschlossen. in einer nacht im sommer 2004 liess sich emil manser mit 53 in die reuss fallen. seither fehlt der stadt ein geistreicher entschleuniger.

Mittwoch, 4. Januar 2017

ISTANBUL: EIN POLIZIST

erstens: der istanbuler promi-club reina, wo zum jahreswechsel 39 menschen einem anschlag zum opfer fielen, galt schon länger als gefährdet, als mögliches terror-ziel. zweitens: der club bietet platz für rund 600 feiernde. drittens: zur bewachung des clubs war in der silvesternacht ein polizist aufgeboten. viertens: nachdenken ist wie googeln, nur krasser.

Sonntag, 1. Januar 2017

GENOVA: TRATTORIA DELL'ACCIUGHETTA

l’acciuga, die sardelle. l’acciughetta, das sardellchen. das diminutiv ist bei der trattoria dell’acciughetta an der piazza sant’elena in genova durchaus angebracht. das lokal ist nur wenig grösser als ein wohnzimmer, es bietet gerade mal 24 gästen platz und man würde es in den schmalen und verwinkelten gassen der grössten altstadt europas ohne hinweis (in unserem fall aus dem freundeskreis) wohl kaum entdecken. und das, muss man sagen, wäre ausgesprochen schade, weshalb wir den geheimtipp gerne weitergeben. die quirlige chefin ist gerade mal 29 und hat, weil sie der festen überzeugung ist, dass die jugend in italien mehr chancen bekommen muss, einen 21jährigen chefkoch angestellt. nach dem silvesterdiner darf man festhalten: die chefin und die gäste wurden und werden reichlich belohnt, dieser simone hat seine chance genutzt und verdient. vom ersten bis zum letzten gang zauberte er mit seinen nur zwei kollegen ein kreatives kulinarisches feuerwerk auf die teller, ein streifzug durch meere und gärten, eine lust für augen und gaumen. mein persönlicher favorit war der dritte gang, ein wunderbar cremiges champagner-risotto, üppig garniert mit einem misto aus dünnen scheiben von roten krebsen und austern, ingwer und limetten. ein gedicht. man freut sich bereits auf den nächsten besuch hier, es muss ja nicht immer ein silvester-mehrgänger sein. diese sympathische kleine trattoria hat alles, um das warten auf die fähre nach sardinien oder das schlechtwetterprogramm der cinque-terre-wanderwoche massiv aufzuwerten oder auch ganz ohne weiteren grund nach genova zu fahren. nirgendwo liegt uns schweizern das meer näher.