Donnerstag, 29. Dezember 2016

BASEL: CHERYL ON THE CAROUSEL

die einst weltweit gefeierte amerikanische sopranistin cheryl studer ist jetzt am theater basel als musical-oma zu sehen: die rolle der wirtin nettie fowler, der guten seele im musical „carousel“, ist ihr auf den leib geschneidert. als erstes wippt die rüstige seniorin mit vollem körpereinsatz den gesamten chor in stimmung, dann besingt sie lustvollstens zutaten und zubereitung eines meeresfrüchtepicknicks und schliesslich holt sie mit bebendem busen zum ultimativen „carousel“-ohrwurm aus: „you’ll never walk alone“ (richtig, die hymne des fc liverpool, und richtig, die hymne der obama-inauguration). im leuchtend blauen kleid rollt cheryl studer das feld primadonnenmässig von hinten auf, singt takt für takt alle an die wand und lässt ihre spitzentöne selbst über dem tutti-finale von orchester und chor noch klar dominieren. upgrade einer nebenrolle, comeback einer diva. dass sie das alles mit viel ironie und augenzwinkern absolviert, macht es sogar erträglich. genau besehen besteht „carousel“ aus ein paar wenigen melodien, die richard rodgers während drei stunden endlos recycliert und variiert und die in der basler inszenierung von alexander charim mit grösstem aufwand (opern- und schauspielensemble, ballett und bühnentechnik à discretion) noch weiter aufgepeppt werden. ziemlich viel verpackung also für ziemlich wenig inhalt: im kern dreht sich alles um den jahrmarktausrufer billy bigelow, der es im job und in der liebe vermasselt, sich das leben nimmt und dann nach 15 jahren noch einmal zurück auf die erde darf, um seine tochter zu sehen - und es wieder vermasselt. franz molnárs intensives sozialdrama „liliom“ (1909) geriet den „carousel“-autoren zur bunten soap, in der es von guten ratschlägen für verzweifelte junge männer und junge mädels nur so wimmelt; das ganze musical ist eine art üppig illustrierte lebenshilfe für leute, die (sich) beinahe schon aufgegeben haben. amerika schien 1945 genau solche mutmacher zu brauchen. aber basel 2016? you’ll never walk alone.

Dienstag, 20. Dezember 2016

LUZERN: MÖRGELI? ZAUBERFLÖTE!

willkommen in dr. mörgelis medizinhistorischem museum: ein paar unappetitliche körperteile lauern in den schaukästen und da und dort auch flattervieh, dazwischen monströse käfige. der belgische regisseur wouter van looy hat sich da was hübsches ausgedacht für „die zauberflöte“ am luzerner theater. der düstere fiesling, der in dieser grümpelszenerie menschenexperimente durchführt, ist mozarts überschätzter freimaurer sarastro; vuyani mlinde gibt ihn mit voluminösem, nicht konsequent treffsicherem bass als kalten fanatiker und kontrollfreak. die erotik- und gewaltphantasien sind in dieser volksoper ja durchaus schon angelegt, in der luzerner inszenierung werden sie aufs lustvollste ausgekostet und bebildert. pamina und tamino sehen bei ihrer feuer-und-wasser-prüfung aus wie die verklemmten verlobten janet und brad in der rocky horror picture show, monostatos gibt den gfürchigen joker aus „the dark knight“, die königin der nacht wird als klon von italiens pornosternchen ilona staller vorgeführt und papageno singt in seiner verzweiflung auch mal lehár statt mozart ("hast du dort oben vergessen auch mich?“). das sieht und hört sich nicht nur kurzweilig an, sondern ist durchaus im sinne des erfinders, denn mozart wollte mit seiner letzten oper das ganze universum menschlicher regungen und rätsel streifen. also wird der fundus hemmungslos geplündert, die widersprüche sind im preis inbegriffen. dazu findet chefdirigent clemens heil mit dem luzerner sinfonieorchester einen vitalen, jungen mozart-ton, wobei ihm allerdings piano und legato weitgehend abhanden kommen; diese harte unterlage lässt viele stimmen dann doch seltsam glanzlos klingen. glanzlos – hier aber beabsichtigt – auch das finale: sarastro erwürgt die königin der nacht auf offener bühne, ihre tochter pamina lässt tamino tamino sein und flieht entsetzt aus dr. mörgelis gruselkabinett. kein weihnachtsmärchen, kein happy-end.

Dienstag, 13. Dezember 2016

MILANO: FELTRINELLI PORTA VOLTA

in der euphorie um die elbphilharmonie ging ein wenig unter, dass herzog & de meuron parallel zu hamburg auch in mailand ein prestigeprojekt laufen hatten: der neue hauptsitz der fondazione feltrinelli bei der porta volta. die basler architekten haben der linken verlegerdynastie ein ausgesprochen chices stück stadt beschert. der „corriere della sera“ nannte es bereits liebevoll einen auf die erde gelegten wolkenkratzer. es handelt sich um einen gut 200 meter langen, scharf geschnittenen und oben zugespitzten riegel entlang der via pasubio, inspiriert von den strengen strukturen lombardischer bauernhöfe einerseits und mailänder stadtpalästen anderseits und im unterschied zu diesen vorbildern fast ausschliesslich aus fenstern bestehend, in den unteren etagen rechteckig, in den giebelgeschossen trapezförmig. ein durch und durch transparentes gebäude also, baulich und auch konzeptionell: die buchhandlung im parterre ist auch eine bar, die bibliothek unter dem dach auch zukunftswerkstatt. in diesem open-space und auf der prächtigen piazza davor sollen junge und alte, arbeiter und akademikerinnen, italienerinnen und chinesen (die mailänder chinatown liegt gleich nebenan) zusammen denken, streiten, phantasieren, planen. „il futuro non nasce da solo“ lautete die aufforderung bei der eröffnung heute. die umgebung scheint da beinahe zu widersprechen: in fussdistanz zur fondazione feltrinelli lassen sich neue wolkenkratzer von zaha hadid und arata isozaki besichtigen, eine wohnresidenz von daniel libeskind und ein verlagsgebäude von renzo piano. mailand wächst und wuchert und ist ein ebenso lebendiges wie hochkarätiges museum zeitgenössischer architektur. „un luogo dell‘ utopia possibile“ will feltrinellis neuer palazzo sein; dieser brand könnte für die ganze stadt stehen. mailand wird unterschätzt.

Donnerstag, 1. Dezember 2016

BASEL: ROBIN HOOD IM EAST END

wer backsteinmauern und rostige feuerleitern auf die bühne stellt und sie tiefrot und violett ausleuchtet, will entweder die west-side-story aufführen oder er nimmt in kauf, dass sich das publikum permanent daran erinnert und damit vergleicht. das wird richard wherlock am theater basel zum verhängnis, dessen neues handlungsballett „robin hood“ eine east-end-story sein will: er zimmert rund um den alten rächer-mythos eine neue geschichte, beamt den helden in die swinging sixties und lässt ihn in der gangster-szene des londoner ostens aufräumen. dazu dirigiert thomas herzog beherzt ein musikalisches pasticcio von renaissance-madrigalen bis britten und bond, james bond. ein attraktives wunschkonzert, das allerdings nicht darüber hinwegzutäuschen vermag, dass diese robinhoodiade, man muss es sagen, dramaturgisch ausgesprochen dürftig daherkommt: ein allzu braves märchen von ganoven und gutmenschen, 5 prozent love-story, 95 prozent kampf der gangs, immer und immer wieder kampf der gangs, penetrant redundant – und der bedauernswerte jorge garcía pérez in der titelrolle, der mit flaschenbodenbrille und hosenträgern ausschaut wie ein jämmerlicher steuerbeamter, erhält kaum eine gelegenheit, als figur charakter oder wenigstens konturen zu entwickeln. wherlocks choreografie ist reich an tempo, an akrobatik, an witzigen ideen und bonbonfarbenen kostümen, viel verpackung und wenig inhalt. man kann es auch positiv sehen: holiday on ice, aber ganz ohne ice, das schafft nur das basler ballett.