katerina
ismailowa ist eine mörderin. ihren lüsternen schwiegervater hat sie auf dem
gewissen, ihren impotenten gatten und eine junge konkurrentin. die sympathien
von dmitri schostakowitsch sind trotzdem auf ihrer seite: für diese „lady macbeth
von mzensk“ (1934) schrieb er feine, weiche, überaus subtile melodien, zeigte
die täterin als tragisches opfer der gesellschaftlichen zwänge. für ihr umfeld
dagegen: wilde, wüste, groteske tonsequenzen, musik voller flüche und fürze,
garstige russische provinz. ein kontrast, der stalins zensoren auf den plan rief und
den dirigent kirill petrenko an der bayerischen staatsoper fantastisch herausarbeitet,
mal drastisch, mal ganz plastisch, der orchestergraben ist das epizentrum
dieser première. und anja kampe mit ihrem ausdrucksstarken sopran und ihrer
aussergewöhnlichen bühnenpräsenz ist die traumbesetzung für diese katerina
(zudem hat sie als ddr-kind russisch gelernt, ist also heimisch in dieser
sprachwelt). sie zeigt eine frau, die furchtbar einsam ist und nach liebe
lechzt; eine frau, die kämpft und nach verlorenem kampf den tod so sehr
herbeisehnt wie zuvor die liebe. mit einem sprung in die „schwarzen wellen“
beendet sie ihr unglück – so verzweifelt springt sonst nur noch tosca.
regie-altmeister harry kupfer widmet dieser katerina seine ganze aufmerksamkeit
und entwickelt, als wollte er sich mit seinen 81 jahren noch für den „tatort“
bewerben, ein präzises und ergreifendes porträt. um sie herum aber arrangiert
er in der abgefuckten industriehalle, die ihm hans schavernoch auf die bühne
gebaut hat, durchaus konventionelle tableaux, die von den grossen russischen
schwarz-weiss-klassikern inspiriert sind und auch vor schlichten klischees
nicht zurückschrecken: sterbebeichte des schwiegervaters mit der wodkaflasche
in der hand, plumpe arbeiter machen plumpe fick-pantomimen und polizisten sind
sowieso dumpfbügel. szenisch also eine eher lauwarme veranstaltung, musikalisch
eine sternstunde.
Dienstag, 29. November 2016
Sonntag, 27. November 2016
MÜNCHEN: SOY MARIPOSA
„no
soy persona, soy mariposa – ich bin nicht mensch, sondern schmetterling.” die
bezeichnung (und das schimpfwort) für homosexuelle, queers, stricher hat in
lateinamerika etwas durchaus poetisches. der mexikanische performer und
anthropologe lukas avendaño ist so ein schmetterling, seine wurzeln hat er bei
zapoteken, ureinwohnern im süden des landes. seine performance mit dem langen mariposa-titel, die er
jetzt im rahmen des mexiko-festivals an den münchner kammerspielen zeigt, will
anklage sein und forderung. er klagt gegen die verlogenheit der
macho-gesellschaft (z.b. polizisten, die tagsüber die schwulen jungs verprügeln
und sich nachts in den pornokinos ihrer bedienen) und er fordert anerkennung
oder wenigstens toleranz gegenüber diesen lebensformen. avendaños
exhibitionistischer tanz auf dem catwalk ist ein gesellschaftspolitisches statement auf high
heels, ein wut-monolog, eine wut-arie, die durch seine worte und tränen mehr berührt
als durch seine trotzige fast-nacktheit und sein tänzerisch doch eher monotones
repertoire. er möchte seine zuschauerinnen und zuschauer zu komplizen machen und
– gemäss programmheft – auch heteros dazu einladen, ihre sexualität vermehrt
spielerisch, undefiniert, schmetterlingsmässig anzugehen. doch auf der bühne
erstickt seine wut diesen wunsch weitgehend. dieser mariposa ist die poesie
irgendwie abhanden gekommen.
Samstag, 26. November 2016
MÜNCHEN: OFFENE TÜREN
tag der offenen tür im bayerischen
landtag. grossandrang auf die demokratie im maximilianeum. im fraktionssaal der csu taucht
dann auch ministerpräsident horst seehofer auf und gibt sich ganz
landesväterlich, um nicht zu sagen grossväterlich. „bayern ist die vorstufe zum
paradies“, sagt er und voller stolz auf den eigenen anteil: „uns geht es verdammt gut.“ passt einfach verdammt
schlecht zu seinen laufenden äusserungen in der flüchtlingsfrage, wo er mit den
worten „begrenzung“ und „obergrenze“ nur so jongliert und die kanzlerin
drangsaliert. sozial? solidarisch? nie gehört? man müsste den seehoferhorst bei
gelegenheit daran erinnern, dass es uns verdammt gut geht und anderen verdammt
schlecht und dass es da einen direkten zusammenhang gibt und deshalb einen auftrag:
offene türen, nicht nur im landtag.
Donnerstag, 24. November 2016
BASEL: DIE TOTE STADT
paul
lebt in einem reihenhaus in brügge. zurückgezogen. mit ihm stimmt etwas nicht. er
legt die kleider seiner längst verstorbenen frau aufs bett, riecht an ihrer
parfumflasche, streichelt ihre letzte perücke, eine kammer hat er mit erinnerungsbildern
tapeziert. der tenor rolf romei singt diesen paul am theater basel als einen
von der vergangenheit gleichermassen gejagten und gefesselten; immer wieder
nimmt dunkle verzweiflung seiner hellen stimme die kraft. „die tote stadt“ von
erich wolfgang korngold behandelt einen fall von missglückter trauerarbeit (der
titel nimmt bezug auf die stadt brügge, die wie paul völlig auf das bessere
einst fixiert ist). paul lernt marietta kennen, die seiner marie aufs haar
gleicht, doch charakterlich der pure gegenentwurf ist; helena juntunen singt beide und switcht
beeindruckend zwischen der heiligen und der vulgären. es beginnt eine
verhängnisvolle liaison, die in einem mord endet, der sich dann allerdings nur
als reinigender alptraum erweist: „wie weit soll unsre trauer gehen, wie weit
darf sie es, ohn‘ uns zu entwurzeln?“ regisseur simon stone geht mit freuds
traumdeutung ans werk, die mechanismen der verdrängung faszinieren ihn
sichtlich, er illustriert das innenleben: pauls haus fällt auseinander, er
sucht die türen und die treppen und findet in jedem winkel immer nur – marie,
ohne haare, von krankheit und tod gezeichnet, und noch eine marie und noch
eine. korngold war kaum 20, als er diese trauma-oper komponierte. man muss sich
das vorstellen: vor 100 jahren in wien ein musikalisch hochbegabter jüngling,
der alles aufsaugt und verarbeitet, puccini klingt an, lehár klingt an und die opulente
hollywood-filmsinfonik nimmt er gleich auch noch vorweg. erik nielsen, der neue
chefdirigent in basel, meistert diese gratwanderung zwischen spätromantik und
vollkitsch mit dem sinfonieorchester bravourös, ein vollbad
unterschiedlichster musikalischer emotionen, ganz grosses kino.
Montag, 21. November 2016
MÜNCHEN: LE NOZZE DI FIGARO
die
inszenierung ist von bestechender schlichtheit: hinten in der mitte eine türe,
links eine türe, rechts eine türe; dieser einfache weisse transit-raum reicht regisseur dieter dorn, um all die intrigen rund um figaros
hochzeit zu erzählen. allerdings ist diese inszenierung auch gut abgehangen:
die première an der bayerischen staatsoper fand vor 19 jahren statt, die
originalbesetzung dürfte inzwischen also in rente sein. die aufführung jetzt hätte
also durchaus zum besuch im opernmuseum verkommen können. doch weit gefehlt.
nichts vergilbtes, nichts verstaubtes, nein, der abend war an jugendlichkeit
und frische nicht zu überbieten. ein hochkarätiges ensemble attraktiver leute
mit attraktiven stimmen stachelte sich zu immer neuen höchstleistungen an: alex
esposito als figaro, tara erraught als susanna, angela brower als cherubino,
alexander tsymbalyuk als bartolo, mariusz kwiecien als graf, diana damrau als
gräfin – kurz: champions league. unter der leitung von antonello manacorda, der
mörderische tempi liebt, bringen sie die vertrackte komödie zum vibrieren, alles
federt, alles fiebert, der leere weisse raum wird gefüllt mit mozarts
elegant-erotischer musik. der graf, der das ius primae noctis offiziell zwar
aufhebt, es dann aber für sich selbst quasi durch die hintertür doch wieder
beanspruchen will, ist das zentrum von mozarts subtiler gesellschaftskritik. die
melodien machen die emotionalen und moralischen pirouetten nachvollziehbar, zu der
dieser verführer im hausmantel seine entourage nötigt, und entlarvt die verlogenheit
der gepuderten klasse mit zwischentönen. keiner dieser zwischentöne geht hier
unter, es ist ein wechselbad heisser und kalter gefühle, ein fest der musik.
Sonntag, 20. November 2016
ATLANTIC CITY: USA, SUICIDE COUNTRY
der schriftsteller joshua cohen ist
in atlantic city aufgewachsen. in jener stadt also, die donald trump mit seinen
ideen und seinem geld zunächst bis zur unkenntlichkeit entstellt und dann
ruiniert hat. „wie erklären sie sich den wahlausgang?“ fragt die „frankfurter
allgemeine sonntagszeitung“ cohen. seine antwort: „mit dem anhaltenden
amerikanischen todestrieb. und zwar im freudschen sinne: es gibt unter
amerikanern einen grossen willen, an der eigenen zerstörung mitzuwirken. (…)
der einzige weg, der einem bleibt, seiner unzufriedenheit ausdruck zu
verleihen, ist die wahl des absoluten desasters.“
Samstag, 19. November 2016
MÜNCHEN: PEK ÖZLEDIM O DEMLERI
ungewohnte
tonarten, ungewohnte klangfarben, ungewohnte rhythmen. und doch wird sofort
klar: das ist grosse poesie. der chor armoni-ahenk und sein musikalischer
leiter ahmet kadri rizeli haben sich entschieden, im grossen konzertsaal der
münchner hochschule für musik und theater einen abend mit liedern von
türkischen komponistinnen zu veranstalten. ausschliesslich -innen, im sinn
einer späten ehre. denn durch die räumliche trennung von frauen und männern im
traditionellen islam entwickelte sich eine separate frauenkultur; bedeutendes
entstand in den nebenräumen der paläste und blieb vielfach unbemerkt,
unentdeckt. es sind lieder voller melancholie, die die sechs sängerinnen, fünf
sänger und sieben instrumentalisten (u.a. schossgeige und trapezzither) mit
viel empathie und sorgfalt vortragen. hier wird viel geweint, getrauert,
gehofft, gewartet. „von tag zu tag geht es mir schlechter“ – „ich bin der
kummervolle herbst“ – „ich bin so leidbeladen, dass ich in enttäuschung
versunken bin“ – diese kompositionen zielen und ziehen in die tiefe. angesichts
der aktuellen entwicklung in der türkei erscheint jede liedzeile doppeldeutig. im
publikum sitzen mehrheitlich deutschtürkinnen und –türken und mesut koç, der
türkische generalkonsul für münchen. die sehnsucht nach besseren zeiten, nach
neuen perspektiven ist im saal fast mit händen zu greifen, wenn esra içöz gegen
ende mit bebender stimme singt: „pek özledim o demleri – wie sehr ich diese
zeiten vermisse“.
Mittwoch, 16. November 2016
LUGANO: MARCO SCORTI
auf
den ersten blick: natur, wilde natur. auf den zweiten blick: versehrte natur. auf
den ersten blick (aus distanz) meint man: fotografie. auf den zweiten blick
(nahe dran) erkennt man: landschaftsmalerei, pixelgenau. marco scorti, 29,
wuchs im malcantone auf, umgeben von düsteren wäldern, von schattigen
talfurchen, von grenzen. das malt er, immer wieder. dieses jahr gewann scorti
den renommierten manor-preis fürs tessin; deshalb widmet ihm das museo d’arte della
svizzera italiana (masi) in lugano jetzt drei räume im untergrund. die haben es
in sich. im ersten, fast putzig, 15 kleine formate, kaum grösser als a4,
gouache auf karton. im zweiten und dritten dann riesendinger, drei auf sechs
meter, jeweils zusammengefügt aus zwölf einzelteilen, acryl auf leinwand. auf
den kleinen wie auf den grossen bildern: immer wieder wälder, diffuses licht,
und immer wieder stimmt etwas nicht. mal sind es panzersperren, die die idylle
stören; mal schleicht sich hinten eine schlammlawine von bedrohlicher farbe und
form an; mal entdeckt man reste einer eingestürzten hütte und unnatürlich
verbogene baumstämme. selbst ein gleissendes schneefeld hat etwas unheimliches,
weil am rand einer eisfläche etwas oder jemand liegt, unscharf, nicht
auszumachen. es ist wie meistens in den märchenwäldern: irgendwo wird irgendwer
lauern. und plötzlich entdeckt man auf diesen bildern noch bleistiftnotizen: „hier
muss es noch dunkler sein.“ noch dunkler. banale orte am rand der zivilisation
geraten scorti so zu genialen vexierbildern, mysteriös und monströs. und der
einzige mensch weit und breit ist: der verunsicherte betrachter. gefällt mir.
Freitag, 11. November 2016
LUZERN/EMMEN: RIGOLETTO
dampfkessel,
kabelstränge, messgeräte, schläuche, warnlampen, schalttafeln, fluchtleitern,
überdruckventile, metallrohre, transportkräne, notausgänge: hier
experimentierten forscher und arbeiter ab 1950 mit synthetischen garnen, doch
seit mehr als zehn jahren steht die pilothalle der ehemaligen viscosuisse in
emmenbrücke schon leer. das luzerner theater nutzt dieses prachtvolle
industrierelikt jetzt für eine ebenso eigenwillige wie grossartige annäherung
an giuseppe verdis „rigoletto“. die ausrangierte kulisse bietet einen
faszinierenden rahmen für das porträt dieses aussenseiters: in seinem job als
hofnarr ist er ein auslaufmodell, weshalb er sich am einzigen festklammert, was
ihm noch bleibt, an seiner tochter. und dies mit krankhafter eifersucht, die
die junge frau letztlich in den tod treibt. der österreichische bariton claudio
otelli brilliert als rigoletto, er taumelt wie in trance über all die treppen
und zwischenböden, zwischen äusserster wut und tiefster traurigkeit; die
mitmenschen, die ihn ausgrenzen und verhöhnen, erlebt er nur noch als fratzen –
regisseur marco štorman und seine ausstatterin anika marquardt leisten da bis
in die kleinsten nebenrollen ganze arbeit. der labyrinthische raum wird so zum
labyrinth der gefühle, zum spiegelbild von rigolettos wunder seele. stefan
klingele dirigiert das luzerner sinfonieorchester in der tiefe des raumes, mit
viel gespür für das utopische an verdis musik, die sehnsucht nach dem neuen. auch
wenn die musikalische koordination quer durch die unübersichtliche halle nicht
immer perfekt gelingt, ist dies ein eindrücklicher, vielversprechender einstand
des neuen luzerner opernensembles: auf magdalena risberg (gilda), vuyani mlinde
(sparafucile) und bernt ola volungholen (marullo) darf man sich auch in
weiteren rollen ausgesprochen freuen.
Donnerstag, 3. November 2016
BASEL: LA FORZA DEL DESTINO
ein
veritabler krimi: der marchese di calatrava verbietet seiner tochter leonora
die liebe zu alvaro, weil dieser ein indio ist und die verbindung somit nicht
standesgemäss, worauf der marchese bei einem streit durch einen unabsichtlichen
schuss aus alvaros pistole stirbt; jetzt will leonoras bruder carlo den tod des
vaters rächen, es beginnt eine jagd durch vier akte, in denen man den akteuren
in immer neuen verkleidungen in schenken und klöstern wiederbegegnet; am
schluss sind auch leonora und carlo tot und alvaro am rande des wahnsinns. die
hauptrolle in verdis „la forza del destino“ spielt der zufall und er hat furchtbar
viel zu tun. in seiner inszenierung am theater basel gibt sich sebastian
baumgarten schon gar keine mühe, die abstruse story ernst zu nehmen, sondern
zimmert daraus eine knallige und streckenweise höchst ironische revue über
rassismus, religion, kriegstreiberei und flüchtlingselend (was auch bei verdi
durchaus mitgemeint war). spielzeugpanzer, baströcke, cowboyhüte, eine
fluoreszierende lourdes-madonna – der ganze requisiten-trash wird aufgefahren
und darüber hinaus lässt die regie auch gleich noch eine werkschau zum
aktuellen stand der videokunst über die drehbühne flackern. keine einzige
assoziation bleibt unbedient. in diesem tummelfeld gelingt einzig elena
stikhina als leonora mit ihrem dramatischen sopran ein spannendes, mehrdimensionales
rollenporträt, wogegen aquiles machado als alvaro und evez abdulla als carlo zu
plakativ agieren und auch stimmlich nicht überzeugen und dirigent ainars
rubikis mit dem orchester oft vergeblich gegen die bilderflut ankämpft. der
abend ist musikalisch unterbelichtet und visuell überfrachtet und lässt einen
unter dem strich irgendwie kalt.
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