wie
zement lastet die zukunft auf diesen menschen. bibiana beglau ist dascha
tschumalowa, sebastian blomberg ist gleb tschumalow. ein paar, das durch den bürgerkrieg
drei jahre getrennt war. das paar aus fjodor gladkows revolutionsroman „zement“
von 1926. heiner müller hat ihn zu einer sprachmächtigen tragödie verdichtet, die
selten, aber jetzt seit drei jahren am münchner residenztheater gespielt wird. die
verfallende zementfabrik bildet den dramatischen hintergrund, und ein
koffergrosser zementbrocken ist in dimiter gotscheffs inszenierung das
dominante requisit auf der sonst leeren, schiefen bühne. auch dazu hat heiner
müller einen starken text geschrieben, über das zunehmende gewicht des steins
und die abnehmende arbeitskraft, was hier vom chor aus zementstaubgepuderten
schauspielschülern immer wieder neu reflektiert wird, eine choreografie aus
hoffnung und enttäuschung, revolution und resignation. höhepunkt dieser inszenierung ist die halbe stunde
nach der pause. da sitzen und liegen dascha und gleb allein und verloren auf
der riesigen bühne: er findet sich in einer heimat wieder, die er kaum mehr kennt;
sie hat das zuhause und die familie ihrer revolutionären aufgabe geopfert. beide
versuchen sich zu erklären, ihre visionen und ihre körper kommen sich dabei
zunehmend in die quere, sie fragen, sie antworten, sie verzweifeln, schweiss
und tränen. „ich kann dich nicht aus meinem herzen reissen“, schreit gleb –
aber die gemeinsame sprache, irgendetwas, was von der vergangenheit für die
zukunft bleibt, ist diesem paar abhanden gekommen. beglau und blomberg spielen
diese sequenz überwältigend, ein gigantisches duett der entfremdung. „die
realität ist für diejenigen, die ihre träume nicht aushalten“, stand mal als
jahresmotto auf den postern des residenztheaters; es muss sich auf dieses stück
bezogen haben.
Mittwoch, 27. Juli 2016
Freitag, 22. Juli 2016
MÜNCHEN: FIGAROS ENTSTELLTE HOCHZEIT
zu dritt liegen sie in der badewanne, neben- und übereinander, und
brabbeln sich die an der stirne festgeklebten knopfmikrophone
gegenseitig voll - mit von der dramaturgie zu häppchen zerstückelter
revolutionstheorie. das schönste an diesem bild ist die alte badewanne:
mit ihren blankpolierten weissen klauenfüsschen weist sie wenigstens
annähernd in die zeit von mozarts "nozze di figaro". der ungarische
regisseur david marton stellt nicht mozarts raffiniert vibrierende und
die herrschenden verhältnisse subtil kritisierende musik ins zentrum
seiner inszenierung, sondern seine lust, mit einem mehrheitlich aus
nicht-sängern bestehenden ensemble sich diesem stoff und dieser musik
anzunähern. sie suchen töne, oft ohne erfolg, sie suchen ihren zugang zu
den figuren dieser oper, sie vertreiben sich die zeit mit
mehrsprachiger konversation und leibesübungen. was die kammerspiele
vollmundig als "opernhaus"-projekt annoncieren, ist bestenfalls ein
opernstudio. nach mehr als zwei stunden singen thorbjörn björnsson (der
einzige mit geschulter opernstimme) und jelena kuljić (mit ihrem wunderbaren
jazz-timbre) das finale versöhnungsduett von figaro und susanna,
hochmusikalisch und echt anrührend. aber eben erst nach zwei
überdehnten stunden. die münchner kammerspiele strapazieren die neugier,
das interesse und die geduld ihres publikums. auf der bühne ist auch
ein korbballfeld angedeutet, genutzt wird es von niemandem und für nichts.
vielleicht mag sich der entstellte mozart hier seinen ärger wegtoben.
Samstag, 2. Juli 2016
MILANO: BAR LUCE
inseln. inseln inmitten einer pulsierenden metropole. inseln der ruhe,
inseln der kontemplation. rem koolhaas hat die eine geschaffen, die
grosse: für die fondazione prada hat er aus einer ehemaligen
schnapsbrennerei in einem heruntergekommenen aussenquartier mailands ein
riesiges kunstareal geschaffen mit alten und modernen raumelementen und
grosszügigen freiflächen, wo man mit oder ohne kunst stundenlang
verweilen mag, in schier klösterlicher abgeschiedenheit. und wes
anderson zeichnet für die zweite insel verantwortlich, die kleine: im
eingangsbereich dieser fondazione prada hat der amerikanische
filmregisseur die bar luce gestaltet. spätestens seit "the grand
budapest hotel" kennen wir seine vorliebe für schräge innenarchitektur,
seine raumfüllende ironie, seine detailversessenheit. in der bar luce
mischt er architektonische elemente des mailänder kraft- und symbolortes
galleria vittorio emanuele mit sesseln und tischchen aus den fünfzigern
und sechzigern, rosa und zartmint und von hinreissender hässlichkeit.
ein quasi programmierter kultort; kein wunder denn auch, dass sich bei
unserem besuch ein sehr cooles model sehr anzüglich in dieses mobiliar
drapieren und über die flipperkästen falten muss. "un ottimo set", war
auch wes andersons hintergedanke. vor allem aber: "un bellissimo posto
per scrivere un film." so oder so, eine insel in dieser stadt, in der gerade
mal wieder die zukunft beginnt. ein plätzchen für die poesie.
Freitag, 1. Juli 2016
GISWIL: FÜNF LIEDER BIS ZUR NÄCHSTEN STADT
bolormaa enkhtaivan, adiyadorj gombosuren, batzoring vaanchig - lauter klingende namen. und sie erzählen klingende, klangvolle legenden aus dem nomadenleben. die musiker aus der mongolei, die dieses jahr im zentrum des obwald-festivals in der waldlichtung bei giswil stehen, zaubern uns in windeseile in ihre heimat, mit wenigen tönen schon landen wir in den endlosen ebenen, bei den einfachen hütten und den pferden. vor allem bei den pferden. hufgetrampel, trab oder wilder galopp grundieren den rhythmus all dieser streichermelodien. das hat etwas einlullendes, zutiefst melancholisch-meditatives. auch in den texten: pferde, pferde, pferde (haben wir uns vom moderator sagen lassen, unser mongolisch hat noch nicht ganz gereicht), und wo bei den westlichen streichinstrumenten ganz oben eine schnecke sitzt, sitzt hier ein pferdekopf. diese menschen leben in der natur, sie imitieren und reflektieren sie mit ihren obertonstimmen, gurgeln sich damit durch gewitter und andere gefahren, setzen mit halsbrecherischer kehlkopfakrobatik glücksgefühle in koloraturen um. und freuen sich spitzbübisch, dazwischen mit den barmettlers aus nidwalden und den häckis aus engelberg "dr gämselijäger" anzustimmen. die musik als weltumspannende sprache; einmal mehr hat das obwald diesen gänsehaut-faktor. und übrigens: die mongolen messen die distanzen nicht in kilometern, sondern in der anzahl lieder, die sie bis zum ziel singen können. man möchte sie auf langen reisen begleiten.
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