Mittwoch, 25. Mai 2016

MÜNCHEN: MIGRATION UND TOLERANZ

the city as engine of tolerance. ganz ohne fragezeichen haben die technische universität münchen, das goethe-institut und die kammerspiele den titel ihres symposiums formuliert. beispiele? das tentative collective in karachi hat einen klapprigen pick-up zum mobile cinema umgebaut. damit fahren die künstler in die quartiere, beamen provokative und poetische filmfetzen auf hauswände und brachen, die leute bleiben stehen, bilden trauben, diskutieren, professoren und verkäuferinnen, leute vom land und leute, die schon immer hier gelebt haben. die sequenzen dauern maximal 20 minuten, denn nach 20 minuten tauche meistens die polizei auf und verjage die künstler. die diskussion ist bis dann angezettelt, ziel erreicht. die situation der zuwanderer in karachi, são paulo, shenzhen und paris (#archidebout) ist zu unterschiedlich, als dass die vorgestellten beispiele gegenseitig praktischen nutzwert entfalten könnten. doreen heng liu, die architektin aus shenzhen, stellt immerhin eine griffige formel in den raum, die alle unterschreiben können: „exchange creates energy.“ es steckt viel kraft in den städten. doch toleranz ist für überraschend viele hier ein negativ konnotierter begriff: „there is a big difference, if tolerance is the opposite of intolerance or if it is the opposite of welcoming”, sagt renato cymbalista, der stadtplaner aus são paulo. dulden allein genüge nicht. und genau das ist der haken an diesem siebenstündigen diskussionsmarathon: die grossen abwesenden sind die politikerinnen und politiker. no exchange, no energy.

Montag, 23. Mai 2016

MÜNCHEN: SCHULD UND SÜHNE

in seiner schmuddeligen wg-küche versucht er das blut vom beil abzuwaschen. doch dann hört er draussen die kumpels kommen. im letzten moment verschwindet das beil im kühlschrank. die grundspannung ist sofort da und sie ist enorm: jedes mal, wenn sich jemand dem kühlschrank nähert, zuckt raskolnikow zusammen, schwitzt, bekommt fiebrige augen. das verbrechen, für das er sich ideologisch zu legitimieren meinte („um des sozialen fortschritts willen ist es grossen menschen erlaubt, lebensunwertes leben zu vernichten“) und das er kühl begangen hat, es macht ihn krank. paul behren spielt diesen raskolnikow am münchner volkstheater herausragend, nervös schwankend zwischen intellektueller überlegenheit und überheblichkeit auf der einen und psychischer und physischer erschöpfung auf der anderen seite. ein junger mann mit durchaus sympathischen zügen, man kann als schweizer zuschauer die parallelen zum vierfachmord von rupperswil nicht abschütteln. schuld und sühne, verbrechen und strafe, übertretung und zurechtweisung – die juristischen und moralphilosophischen begriffe, die dostojewski in seinem roman über dutzende, über hunderte von seiten verhandelt, nimmt christian stückl in seiner inszenierung als basis für energiegeladene, aggressive, auch mal schräge wg-diskussionen. ein cleverer kunstgriff, voller respekt vor dostojewski, ein dichter abend, dicht am dichter.

Samstag, 21. Mai 2016

MILANO: TRUMPIERT EUCH NICHT

trump, der neue berlusconi – was können die amerikaner von den italienern lernen? beppe severgnini vom „corriere della sera“ rät ihnen nicht, er warnt sie: „kauft ihm nichts ab. verhaltet euch, als würdet ihr vor einem geschwätzigen autoverkäufer stehen. stellt ihm einen haufen fragen und fordert konkrete antworten. öffnet den kofferraum, kontrolliert die bremsen. und lasst euch auf keinen fall eine testfahrt aufschwatzen: mr. trump könnte die türen verriegeln, losrasen und den wagen gegen die nächste mauer fahren.“

Sonntag, 1. Mai 2016

BERN: CHINESE WHISPERS

schenken oder versenken? ai weiwei rät seinem schweizer mentor und freund gegen ende des dokumentarfilms „the chinese lives of uli sigg“ dringend, er solle seine gigantische sammlung zeitgenössischer chinesischer kunst besser in den kleinen see bei seinem schloss versenken statt sie den chinesen als grundbestand für das künftige hongkonger museum m+ zurückzuschenken. im mauensee sei sie bedeutend besser aufgehoben. sigg dürfte sich kaum umstimmen lassen, und bevor die vielen hundert werke richtung osten abreisen, zeigen das kunstmuseum bern und das zentrum paul klee unter dem titel „chinese whispers“ die fülle und den reichtum dieser sammlung. der titel nimmt das kinderspiel auf, bei dem eine nachricht von einem zum nächsten weitergeflüstert wird und sich zunehmend verfälscht – ein sinnbild für die situation chinesischer künstler in den letzten jahren und jahrzehnten, ihrer arbeit in der heimat und ihrer rezeption im westen: überlieferung, missverständnisse, verzerrungen. man staunt stundenlang, wie total unterschiedlich die 150 ausgestellten werke die lebensbedingungen in china und die einflüsse aus dem westen reflektieren. man staunt und amüsiert sich, denn da steckt auch ganz viel bitterböser humor drin. ein höhepunkt dieses „cynical realism“ und „political pop“ ist die installation von sun yuan und peng yu im klee-zentrum: ein gutes dutzend ehemaliger staatsmänner, nicht nur chinesen, lebensgross, alle im rollstuhl, mit gespreizten beinen, zum teil in uniform, inkontinent, eingeknickt, weggedämmert, gaga – sie rollen im schneckentempo übers feld, ungerührt, kollidieren, rückwärtsgang, die macht definitiv über dem verfalldatum. ein horror, über den man gerne laut lachen würde. so viel raum wie hier wird den werken im kunstmuseum auf der anderen seite der aare nicht gewährt; da wirkt alles beengt, zusammengepfercht. also vielleicht doch mal ins m+ nach hongkong. ab 2019. dort sorgen herzog und de meuron für reichlich raum.