calixto
bieito kann oper, so viel war bekannt. dass er es auch ganz ohne
effekt-marathon kann, ist mir neu. er zügelt seine üppige phantasie für einmal
und begegnet dem „boris godunow“ von modest mussorgsky an der bayerischen staatsoper
mit allergrösstem respekt. „nackt und ehrlich“ wie die musik des ur-boris
(1869), die vasily petrenko hier dirigiert, zeigt bieito das unglück derer ganz
oben und das unglück derer ganz unten. rebecca ringst hat ihm dafür eine
düstere hafenszenerie mit einem monströsen schiffsheck auf die bühne gebaut.
hier führt er uns das volk vor, die masse, manipuliert von den mächtigen,
geknechtet, naiv auch. keine prekariatsshow, sondern – so schwebte es ihm vor –
ein „requiem des alltags“. penner, trinker, arbeiter, strassenphilosophen:
figuren, die vielleicht noch einen letzten funken revolutionsgeist in sich
verspüren, denen es aber auch gemeinsam zur grossen auflehnung nicht reicht. diese
hochpräzise figurenzeichnung gelingt dem regisseur auch am anderen ende der
skala, bei den mächtigen: die intrigen hinter den fassaden, die unsicherheit
hinter den posen. mit phänomenaler stimme und darstellerisch hinreissend spielt
der ukrainische bass alexander tsymbalyuk den zaren, der sich schuldig fühlt
wegen eines verübten verbrechens und deshalb von angstzuständen und
panikattacken verfolgt wird – ein attraktiver, junger mann am rande des
nervenzusammenbruchs. das ganze spektrum von scham und verzweiflung in den
ungebremsten wahnsinn gelingt ihm ebenso beängstigend wie berührend. wenn
dieser boris am schluss am rand seiner polit-bühne sitzt, im anzug, aber
barfuss, und dann mit verwundeten und verdrehten augen langsam in die tiefe und
in den tod kippt, dann ist dies das stärkste bild nach einem starken abend.
Sonntag, 24. April 2016
Samstag, 23. April 2016
MÜNCHEN: DAVOS FRÖSTELT UND HÜSTELT
ganz
hinten im ausstellungsraum des münchner literaturhauses schneit es.
ununterbrochen. es schneit über mehrere lagen von gazevorhängen. video-flocken.
dazwischen kurz bilder von tief verschneiten bäumen, meterhohe schneeverwehungen,
alles nur weiss, weiss, blendend weiss und dann wieder weg, dann schneit es
einfach wieder, ununterbrochen, kein weg ist auszumachen und kein ziel. diese
installation ist der höhepunkt einer ausstellung über thomas manns
„zauberberg“: hans castorps verirrung und verwirrung im schnee, die mann auf
über 40 seiten ausbreitet, wird hier zur sinnlichen erfahrung. seine wanderung
zwischen romantischer todesfaszination und lebenswille beendet unsere wanderung
durch drei salons, die die atmosphäre der luftkurhäuser atmen und die
entstehung des gigantischen davos-epos lustvoll erläutern. hier entdeckt man,
dass die kompletten gästelisten der kompletten davoser hotellerie regelmässig
publiziert wurden (diskretion? datenschutz?). hier erfährt man, wie pikiert
gerhart hauptmann reagierte, als er gewahr wurde, dass seine sämtlichen
schlechten züge für den mynheer peeperkorn modell standen. hier hört man thomas
mann über die melodien sinnieren, die das grammophon im roman wieder und wieder
spielt. hier stellt man mit staunen fest, dass der autor über die tuberkulose
ganze abschnitte aus fachbüchern übernahm (heute würde der „zauberberg“ wohl hinter
einer plagiatsaffäre entschwinden). man verlässt dieses bijou von ausstellung
beschwingt und bereichert und – weil sie aus versteckten lautsprechern
permanent behüstelt wird – doch auch ein wenig krank und reif für davos.
Donnerstag, 21. April 2016
BERLIN: AMBIGUITÄTSTOLERANZ
"von der zerrissenheit des modernen menschen kann ich auch ein lied singen - zweistimmig." bernhard lassahn, schriftsteller, berlin.
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