klamauk.
sagt eine alt nationalrätin in der pause. klamauk. die dame hat recht. der
barbier benjamin barker alias sweeney todd bringt im düsteren london seinen
konkurrenten adolfo pirelli um, er bringt den büttel bamford um, er bringt eine
bettlerin um, er bringt den richter turpin um und dann verliert man den
überblick. er bringt sie alle aus rache um, weil er zu unrecht 15 jahre
verbannt wurde. und mrs. lovett, die bäckerin seines vertrauens, macht aus den
leichen seiner opfer köstliche fleischpasteten, best of fleet street. so weit,
so schlecht. leider hat stephen sondheim aus diesem stoff 1979 ein musical
gemacht, das leider immer noch gespielt wird. zum beispiel jetzt am luzerner
theater. regisseur johannes pölzgutter und dirigent florian pestell unternehmen
den verzweifelten versuch, aus diesem groschenroman quasi grosse oper zu
machen. ohne erfolg. zu einem musical gehören nun mal ein paar eingängige
melodien, doch die wollten dem komponisten partout nicht einfallen. stattdessen:
ohne unterbruch aggressive, grelle tonfetzen, zu denen die kultivierten stimmen
des luzerner opernensembles so gar nicht passen wollen. alles absicht? „sozialkritisch“
sei das ganze und voll von „tiefschwarzem humor“, stand irgendwo. ein scharfes
rasiermesser und ein paar pasteten aus menschenfleisch, nun ja, dieser humor
reicht einfach doch nicht ganz für drei abgrundtief beschwingte stunden. es
gibt zwei sorten von klamauk: gehobenen und überflüssigen.
Samstag, 31. Oktober 2015
Sonntag, 25. Oktober 2015
MÜNCHEN: MEFISTOFELE
ausgelassene
jahrmarktstimmung, singen und tanzen auf bänken und tischen. doch dann: ein
feuerball, ein knall, die menschen liegen regungslos auf und neben den tischen.
in den sesseln des karussels im hintergrund baumeln jetzt leichen. mefistofele
bahnt sich einen weg durch diese trümmerlandschaft, nähert sich faust und
seinem gefährten mit einem oktoberfest-lebkuchenherz: i mog di. die elysischen
chöre knattern nur noch vom alten grammophon, das göttliche reich eine vision
aus der vergangenheit, der himmel flimmert als schwarz-weiss-reminiszenz über die
leinwand. willkommen in der hölle. i mog di, faust. rené pape mit seinem
einerseits weich schmeichelnden, anderseits abgrundtief diabolischen bass zieht
als mefistofele alle register des üblen menschenverführers und joseph calleja
mit seinem strahlenden tenor ist kein naiver verdammter, sondern ein
verzweifelt suchender. mit dieser traumbesetzung der beiden hauptrollen (die
frauen um kristine opolais können nicht mithalten) inszeniert roland schwab
arrigo boitos "mefistofele" von 1868 an der bayerischen staatsoper
als apokalyptisches musical, deftig und doch differenziert. und omer meir
wellber dirigiert das staatsorchester ebenso präzis wie lustvoll durch die
hölle, die feger temporeich, die weniger ausgegorenen melodien der partitur
geradezu quälerisch langsam auskostend. boitos werk wird hier ausgesprochen
ernst genommen: es ist bei allem vordergründig-furiosen spektakel eine
bildintensive meditation über die hölle in uns allen. so landet faust im
vierten akt nicht im sonnentrunkenen griechenland, sondern unter
papierschiffchen faltenden dementen im altersasyl. ihr, die ihr hier eintretet,
lasst alle hoffnung fahren.
Sonntag, 4. Oktober 2015
LUZERN: GISELLE UND DAS WILDE NONNENBALLETT
albrecht,
ein junger herzog, und giselle, ein mädchen vom land, verlieben sich, etwas
läuft schief, sie zerbricht, stirbt und landet, im zweiten akt, bei den
geistern der unglücklichen jungfrauen. oh gott oh gott, so was geht natürlich
gar nicht mehr. allerdings hat adolphe adam dazu 1841 die allersüffigste
ballettmusik komponiert, den romantischen tanzklassiker schlechthin, marzipan
für die ohren. irgendwie ist „giselle“ also doch pflichtstoff für die
tanztheater dieser welt. der spanische choreograf gustavo ramirez sansano zieht
sich aus der affäre, indem er am luzerner theater zur romantischen tonspur
(das sinfonieorchester unter boris schäfer in bestlaune) völlig neue bilder
erfindet: giselle als junge journalistin (rachel lawrence), albrecht als ihr chefredaktor
(anton rosenberg), der alltag im verlagshaus der 60er-jahre ein unerschöpfliches
slapstick-gewusel. unglaublich wendige körper versuchen sich aus den
gesellschaftlichen konventionen freizustrampeln. viel bewegung, viel tempo, viel
witz, eine wonne. überraschende bilanz zur pause: funktioniert erstaunlich gut,
diese kombination von romantischen ohrwürmern und neuzeitlichem büroleben. und
dann haut ramirez sansano noch einen drauf, was keinen zweifel daran lässt,
dass er sowohl katholisch sozialisiert wie auch katholisch traumatisiert wurde:
die unglücklichen jungfrauen des zweiten aktes mutieren bei ihm – almodóvar lässt
grüssen – zu einem wildgewordenen haufen mehrheitlich männlicher klosterfrauen,
beinespreizend und bösartig, gierig und diabolisch den prior umgarnend, ein
nonnenballett der anderen art. kein wunder, dass giselle in diesem kloster
bleiben will und ihren vitaminarmen chefredaktor ziehen lässt. gehobener klamauk
statt originaler kitsch, lautet die devise. das luzerner theater leistet sich
damit ein echt perlendes spässchen.
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