"un bacio! un altro bacio!" otello bekommt den kuss von desdemona, doch umarmen kann er sie nicht in ihrem weissen kleid, seine hände sind blutig (kriegshandwerk? vorahnung?). stumm und einsam gehen die beiden unter dem riesigen hafenkran, der die bühne dominiert, auseinander, in entgegengesetzte richtungen, in die dunkelheit: das grosse liebesduett im ersten akt ist der anfang vom ende. liebe, intrige, eifersucht, rache - was verdi mit dramatischen motiven steigert und gabriel feltz mit dem sinfonieorchester basel wuchtig und plastisch herausarbeitet, bringt regisseur calixto bieito immer wieder zu figurenkonstellationen, die unter die haut gehen: er seziert die echten und die falschen gefühle mit leidenschaftlicher präzision. daneben illustriert er, permanent und penetrant, den explosiven politischen kontext dieses an sich privaten dramas: bühnenbreiter stacheldrahtverhau, flüchtlinge, ein erhängter vermummter, blutverschmierte gefangene, kopulierendes machtpersonal. das basler premièrenpublikum braucht diese wohldosierten provokatiönchen, um seine wohldosierte entrüstung abzusondern. es funktioniert, auch diesmal. dabei liegt das problem dieser aufführung anderswo. der litauische tenor kristian benedikt singt sich als otello dies- und jenseits seiner grenzen entlang, zu wenig strahlkraft für diese rolle, kaum farben, kaum glanz in der stimme. immerhin, was ihm stimmlich abgeht, macht er darstellerisch wett; als verzweifelter, als rasender und, als er die intrige gegen ihn zu spät erkennt, als gebrochener mann, allein, zuoberst auf dem hafenkran. er muss den tod nicht suchen, der tod sucht ihn.
Sonntag, 30. November 2014
Freitag, 28. November 2014
MÜNCHEN: OPER IST GEGENWART ODER GAR NICHTS
"oper ist gegenwart oder sie ist gar nichts", sagt nikolaus bachler, seit 2008 intendant der bayerischen staatsoper in münchen, die zum "opernhaus des jahres" gekürt wurde, in der "opernwelt". und: "ich halte nichts von einer historisierenden, vermeintlich werkgerechten buchstabentreue. (...) das ist reines verkleidungstheater, das uns als 'werktreu' verkauft wird. mich erinnert das an den mainzer karneval, wo sich menschen eine toga anziehen und als römer fühlen." oper ist gegenwart oder sie ist gar nichts: "es geht nicht um eine bestimmte ästhetik, sondern um interpretationen, die für uns und unsere zeit relevant sind."
Sonntag, 9. November 2014
SURSEE: BAROCK, MON AMOUR
barock, mon amour, nicht nur bei srf 2 kultur. trompeten, celli,
cembalo, gambe - und: blockflöten. dass es der komponist und dirigent
peter meyer schafft, den jugendchor sursee für eine barock-oper zu
begeistern, zeugt doch von einer aussergewöhnlichen leidenschaft und
ausstrahlung. ein überzeugungstäter. über 30 jugendliche, ergänzt mit
jungen solistinnen und solisten, singen im stadttheater sursee die
selten gespielte "sémélé" von marin marais (1709). zwei stunden singen
sie, französisch singen sie, kraftvoll und farbig singen sie, als wäre
barockmusik für sie so alltäglich wie red bull. meyer hat sie, auf der
musikalischen ebene, total angefixt. da geht die post ab. wogegen die
inszenierung von dirk vittinghoff diesen esprit nicht immer mitzutragen
vermag. er bewegt den chor wie im yoga-seminar zeitlupenhaft und
überdeutlich durch die bewegte und für jugendliche sehr nachvollziehbare
geschichte von sémélé, die sich an jupiter ran macht, es dann mit dessen
gattin juno zu tun bekommt und realisieren muss, dass man die götter
besser nicht versuchen sollte. louis XIV. freute sich, göttergleich,
über dieses lehrstück an die adresse seines volkes. und wir freuen uns,
dank der ausgrabung dieser rarität in sursee eine vorstellung davon zu
bekommen, wie lustvoll am hof des sonnenkönigs seinerzeit musiziert
wurde. une soirée pleine de charme. dem verein zur ausrottung der
blockflöte werde ich trotzdem noch beitreten.
Montag, 3. November 2014
MÜNCHEN: GERI STILLER
geri müller ist auf der suche nach seinem wahren ich. geri müller,
stirnglatze vor grau-schwarzer wuschelmähne, elegante schwarze
hornbrille, graue strickjacke, fahrige bewegungen. nein, es ist nicht
geri müller, sondern anatol ludwig stiller, respektive
james larkin white, respektive max frisch. aber dass der 58jährige
schauspieler august zirner als „stiller“ am münchner residenztheater
exakt wie der 54jährige politiker geri müller ausschaut, irritiert den
schweizer besucher doch sehr. „warum wollt ihr männer
immer so grossartig sein?“ die deutlich jüngere regisseurin tina lanik
montiert romanfetzen geschickt zu einer temporeichen, dichten studie
über den ü50-mann, den geri müller in uns allen. stiller ist umstellt
von den figuren aus seinem leben und – er ist
ja bildhauer – von lebensgrossen, giacomettihaften puppen (handspring
puppet company), die ihn in gespenstischer choreografie permanent
umzingeln und bedrängen und an entscheidende episoden erinnern. läuft so
die suche nach dem wahren ich? oder ist es die
flucht vor dem wahren ich? kein glück und keine erlösung, nirgends,
sondern bloss ein schweisstreibender, oft panischer spiessrutenlauf
durch die eigene biografie. identität als wackelpudding. wenn der grelle
scheinwerfer zwischendurch immer wieder stillers
umrisse scharf auf die seitenwand wirft, dann sieht man dort nicht mehr
geri müller, sondern max frisch. kantig. er ist noch unter uns, ein
fixpunkt. gutes bild, guter gedanke.
Samstag, 1. November 2014
MÜNCHEN: TOTALLY HAPPY
„seit
meiner kindheit wurde mir gesagt, ich müsse eine kleine schraube in der
grossen, revolutionären maschinerie werden. nur auf diese weise könne ein leben
bedeutungsvoll werden.“ der pekinger regisseur und choreograf tian gebing ist
nicht nur geprägt vom chinesischen drill, er ist traumatisiert. mit „totally
happy“ an den münchner kammerspielen arbeitet er diese belastung auf und ab.
fünf chinesische tänzer, die auch sprechen, und fünf deutsche schauspieler, die
auch tanzen, setzen sich während zwei stunden mit dem gespenst der masse
auseinander: textfragmente von mao, baudrillard, canetti, einzelne gesten,
gelegentlich zusammenhängende szenen. alles taucht auf und verschwindet wieder,
der kollektive wahn, der kollektive lachanfall, die kollektive wut, der
kollektive epileptische anfall, der kollektive untergang. die chinesen und die
deutschen tragen da ihre je eigenen erfahrungen zusammen, mit schaudern und,
ja, gelegentlich auch mit humor. eine collage, halt auch etwas beliebig. höhepunkt ist der
kraftakt eines chinesischen solisten, der den kampf eines menschen tanzt, der
ausbrechen will aus dieser masse, der seine individualität, die in china immer
als sünde abgestempelt war, ergründen will; er wälzt und würgt sich, schlägt um
sich, voller verzweiflung und hart an der schmerzgrenze – die geburt eines
ichs, höchst kompliziert und mit offenem ausgang. und dann skandiert die masse
wieder: „gesetz“, „durchschnitt“, „teilhaben“, „totally happy“. totally happy,
maos nachhaltige gehirnwäsche.
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