ist das normal? er hat diesen mai in
moskau gespielt (am 2.), in madrid (5.), in warschau (7.), in tel aviv (13.),
in schwetzingen (18.), in prag (19.), in berlin (22.), in münchen (23.), in
bergamo (25.) und zum schluss jetzt noch zwei konzerte in luzern (28. und 30.).
ist das gesund? wer den 23jährigen ausnahmepianisten daniil trifonov mit
rachmaninoffs erstem klavierkonzert im kkl erlebt hat (und beim cd-signieren
nach dem konzert), wird bestätigen: man muss sich keine sorgen machen um den
jungen mann aus nizhny novgorod. andererseits: erklären kann man sich das auch
nicht, was man da sieht und hört („eines der unbegreiflichsten klaviertalente
der letzten jahrzehnte“, staunte auch die sz). wie ein völlig entfesselter
wichtel zuckt und pflügt er sich durch das stürmische notenmaterial und
modelliert und moduliert daraus phänomenale klangwelten. gelegentlich steht bei
diesem vollen körpereinsatz zu befürchten, dass ihm die nase zwischen zwei
tasten gerät oder die langen haare in die saiten. wie er diesen rachmaninoff
richtiggehend rausfiebert, wächst die vermutung, dass trifonov die tasten gar nicht
anschlagen muss, sondern dass ihm die tonfluten gleichsam durch arme und finger
gleiten oder rasen und nach draussen drängen - und er dann nur noch
gewährleisten muss, dass sich die akustischen explosionen im richtigen moment
ereignen. das hat schon was tendenziell überirdisches.
Samstag, 31. Mai 2014
Montag, 26. Mai 2014
MÜNCHEN: DIE SOLDATEN
nach zweieinhalb stunden ist man von den bildern überwältigt und von den tönen aufgewühlt: lärm, leichensäcke, wilde horden von bechernden soldaten, dutzendweise vergewaltigungen, irre und huren, übergriffige mütter und väter, geschundene, gequälte, blutlachen, gellende schreie. "die soldaten" von bernd alois zimmermann, die bis zur uraufführung 1965 als unspielbar galten und jetzt an der bayerischen staatsoper première hatten, sind ein apokalyptischer albtraum. "ein werk, bei dem man aufpassen muss, dass die manische dimension der musik nicht zu sehr von einem besitz ergreift", warnte regisseur andreas kriegenburg sich und das publikum. ihn interessiert, denkbar nahe an dieser musik, wie der mensch in der masse mutiert; sehr körperhaft und entsprechend drastisch entwickelt und choreografiert er die figuren an der unheimlichen grenze von der marionette zum monster. auch marie, ein bürgerliches mädchen, gerät in die hände dieser meute; die kanadische sopranistin barbara hannigan zeigt mit berührender verletzlichkeit, wie ein freier geist in dieser welt von macht, strukturen und gewalt keinen platz und keine perspektiven finden kann. kirill petrenko dirigiert das orchester und die 18 solistinnen und solisten, die auf mehrere ebenen verteilt sind, mit grosser geste genial durch die hochkomplexen expressionistischen klangwelten bis hin zum finalen akustischen atompilz. ein monumentales werk. zimmermann wusste und wollte das, seine regieanweisung lautet: "die handlung spielt gestern, heute und morgen." trostloser ansatz mit pazifistischer absicht.
Sonntag, 25. Mai 2014
MÜNCHEN: DIE BEFRISTETEN
ein kind stirbt mit sieben. ob sie darob nicht völlig verzweifle, wird die mutter gefragt. nein, antwortet sie, sie habe ja gewusst, dass das kind nur so alt werde, und ihre ganze zuneigung deshalb auf diese sieben jahre verteilt. das kind hiess "sieben", die anderen personen im szenischen gedankenspiel "die befristeten" heissen "fünfzig", "achtunddreissig" usw. elias canetti ging darin der zeitlosen frage nach, wie der mensch leben würde, wenn er von geburt an wüsste, wie alt er wird. welche ökonomisierung der kräfte das bewirken würde. in nicola hümpels inszenierung in münchen ist die welt eine kahle, graue drehbühne; die menschen springen auf und ab oder halten dagegen, der unrat des lebens dreht sich mit. optisch ein krasser und effektvoller kontrast zum putzigen rokoko-intérieur des cuvilliés-theaters. in wechselnden konstellationen debattieren die figuren mal kurzweilig, mal konfus über die konsequenzen der fixierten lebensjahre für die gestaltung von paarbeziehungen, für emotionen, für verbrechen, für die letzten monate und tage ("meine aura faltet sich richtiggehend zusammen"). detlev glanert hat im auftrag der münchner biennale für neues musiktheater einen spannungs- und farbenreichen soundtrack komponiert, der canettis 60 jahre alten text grundiert, überlagert, rhythmisiert. so entsteht eine aktuelle oper mit differenzierten gedanken über die determiniertheit, mit präziser sprache, aber ganz ohne gesang.
Samstag, 24. Mai 2014
MÜNCHEN: KAMMERSPIELE. AUSRUFEZEICHEN!
das "theater des jahres" legt in der spielzeit 14/15 noch einen zu: "dies ist unser letztes münchner spielzeitbuch. jetzt versuche ich mit diesem haus, das ich noch eine spielzeit lang mein haus nennen darf, einen punkt zu setzen. nein, ein ausrufezeichen!" toll, wenn jemand so abschied nimmt wie johan simons. "es gab keine revolution, wohl aber einen wandel. einen wandel in richtung einer sehr grossen offenheit. einer offenheit für andere arten von theater, für tanz und performance. einer offenheit für schauspieler aus ganz europa, für mehrsprachigkeit auf der bühne, für eine körperlichkeit, die genauso wichtig wird, wie die texte, die man spricht." die renommierte bühne als experimentierfeld. ausrufezeichen.
Sonntag, 18. Mai 2014
BRÜSSEL: DIE HINTERBÄNKLER
interessanter gedanke zur bevorstehenden europa-wahl: "im neuen europaparlament werden die eu-gegner nicht stark genug sein, um auf die gesetzgebung einfluss zu nehmen. viele davon wollen das ohnehin nicht, wie die vergangenheit lehrt. sie werden es sich als hinterbänkler gemütlich machen und fünf jahre lang für eine hübsche diät wenig oder gar nichts tun. das ist schon ein witz: all die vielen protestwähler, die eu-abgeordnete für faule säcke halten, werden mit ihrem votum eine neue truppe parlamentarischer müssiggänger schaffen." (nikolas busse in der "frankfurter allgemeine - sonntagszeitung")
Samstag, 10. Mai 2014
LUZERN: JOHANNA!
marine
le pen wettert in breitem ostschweizer dialekt. sie wettert gegen die
herrschende klasse, die die krise zu verantworten hat, die krise, die krise,
die krise. immer lauter, immer aggressiver schreit sie einen text ihres vaters,
und selbstverständlich landet die grosse patriotin, immer noch in breitem ostschweizer
dialekt, bei jeanne d’arc, mit der natürlich alles ganz anders wäre. ein
steiler einstieg, der subito die brücke schlägt von der vergangenheit in die
gegenwart und von frankreich zu uns. „johanna!“ heisst der abend am luzerner
theater, mit dem sich die junge regisseurin sabine von der heyde der jungen
frau aus dem 15.jahrhundert annähert, die für ihre ideale gestorben ist und
seither für alle möglichen zwecke vereinnahmt wird. die bühne ist ein steil in
den zuschauerraum abfallender hörsaal, in dem vier frauen und ein mädchen die
rolle der johanna studieren und sie sich aufteilen. wild mischen sie zitate aus
den johanna-stücken von schiller, shaw und anouilh mit aussagen von
whistleblower snowden und terrorist breivik. was eine trocken-theoretische textcollage
hätte werden können, ist eine durchaus sinnlich-theatralische reflexion über
idealismus und seine grenzen und über die frage, wie weit religion als antrieb
taugt und sinnvoll ist. mal wird dieser hörsaal zum schlachtfeld, mal ist er
folterkammer, mal denkfabrik. nein, eine naive gläubige, die blauäugig zum
kampf schreitet, ist diese johanna nicht, sondern eine differenziert denkende,
agierende, verletzliche frau. und sie so, multipliziert auf diese vier unterschiedlichen,
allesamt hervorragenden schauspielerinnen und das tolle mädchen, aus nächster
nähe zu erleben, das ist ein starkes stück.
Donnerstag, 8. Mai 2014
LEIPZIG: RADIO ALS GEGENWELT
"je nervöser die netzwelt wird, desto wichtiger werden gegenwelten wie das radio, die heimat bieten", sagte johann michael möller, hörfunkdirektor des mdr, beim medientreffpunkt in leipzig. "radio ist ein medium, das eine seele hat und das über eine emotionale bindung funktioniert", sagte ernst swoboda, chef des österreichischen privatsenders kronehit, ebenfalls in leipzig. worte des trostes? wenn ja, für wen? für uns macherinnen und macher? fürs publikum? und ist es denn nicht so, dass auch die online-medien bereits über eine emotionale bindung funktionieren, stichwort community?
Montag, 5. Mai 2014
KRIENS: DIE REISEN DES HERRN XU
xu xixian, der heute 72 ist, arbeitete bis 2009 als reisverkäufer in shanghai. er reiste sehr gerne. eine weltreise lag leider nicht drin und auch eine reise quer durch china nicht. deshalb entschloss sich herr xu, die dörfer in der umgebung von shanghai zu bereisen. und zu fotografieren. so entstanden 40'000 schwarzweissbilder, deren entstehungsort und -zeit er in heften akribisch notierte. das museum im bellpark in kriens zeigt jetzt einen teil dieses schatzes, der einen faszinierenden blick auf die entwicklung der metropole shanghai ermöglicht. dorfansichten noch aus den neunziger jahren wirken in ihrer schwarzweissen unaufgeregtheit wie bilder aus der po-ebene um 1940: menschen mit handkarren, reisfelder, boote auf kanälen. doch dann, gegen die jahrtausendwende, bahnt sich der boom seinen weg: monströse betonbrücken queren ungeteerte landstrassen, shoppingmalls wuchern auf landwirtschaftsland, wolkenkratzer neben holzhütten. es sind brachiale eingriffe. herr xu schafft es immer wieder, zwei welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, auf ein bild zu bannen. und obwohl er nur dokumentieren will, drängt er permanent zur frage, was mit menschen passiert, die in derart schwindelerregendem tempo in eine andere zeit katapultiert werden. eine serie mit 15 bildern von 15 alten bäumen gibt indirekt eine antwort: man liess diese bäume zwar stehen, inmitten der bauwut, sie bewahrten ihre stolze form, doch es ist ein staubiger, lebloser stolz.
Sonntag, 4. Mai 2014
ZÜRICH: EINE HALBE PIQUE DAME
ganz
vergessen, dass es im opernhaus zürich auch richtig schlechte plätze gibt.
1.rang links, loge 6, platz 4, von hier sieht man nur die halbe bühne. pech
gehabt und selber schuld. auf der rechten bühnenhälfte wird tschaikowskys „pique
dame“ gegeben, auf der linken vermutlich auch. regisseur robert carsen
reduziert die zahlreichen schauplätze dieser oper auf einen einzigen: es ist ein
düsterer spielsaal, der mit dunkelgrünen teppichen, dunkelgrün bespannten
tischen und dunkelgrün gepolsterten wänden den ultimativ klaustrophobischen
rahmen abgibt für die ausweglose geschichte des mittellosen offiziers hermann,
der der spielsucht verfällt, in seinem wahn seine liebe zu lisa verscherzt und
den tod ihrer grossmutter, der gräfin, verschuldet. carsen fokussiert ganz
stark auf diesen hermann und seine obsession, rückt ihn im abgedunkelten raum immer
wieder in einen grellen lichtkegel, lässt ihn so zum beispiel auf der gräfin bett
im imaginierten geldregen tanzen, während die russische gesellschaft im
schatten verstummt und sich zunehmend abwendet. gespenstische bilder. hermann
wird gesungen von aleksandrs antonenko – ein name wie ein russischer
flugzeugträger und eine kräftige, farbenreiche stimme, mit der er sich
chancenreich für die nachfolgeorganisation der drei tenöre bewerben kann. nicht
sehr subtil wird im orchestergraben angerichtet: jiri belohlavek dirigiert
wenig dynamisch und wenig differenziert; der zauber und die geheimnisse von
tschaikowskys personenzeichnungen fallen der lautstärke zum opfer, die
problemlos für die arena di verona reichen würde. oder liegt das auch an meinem
unvorteilhaften platz?
Abonnieren
Posts (Atom)