Sonntag, 27. April 2014

MÜNCHEN: GASOLINE BILL

wer tagsüber seinen füllfederhalter verlegt hat und abends ins theater geht, der wird bestimmt bis zum ende der vorstellung wissen, wo er ihn wiederfindet. weil: im theater übernehmen die schauspieler fürs publikum die gewaltige denkarbeit und die emotionale belastung – und der kopf des zuschauers wird leer und frei für die wirklich wichtigen dinge. den füllfederhalter zum beispiel. diese ebenso grossartige wie naheliegende theorie der rezeption und nicht-rezeption äussert einer der vier schauspieler in „gasoline bill“, der neusten produktion von rené pollesch an den münchner kammerspielen. einmal mehr hat pollesch seinen dialektischen textwolf mit ziemlich viel adorno und max weber gefüttert. inhalt, wie gehabt: kritik an den herrschenden zuständen, diesmal unter besonderer berücksichtigung der zwischenmenschlichen beziehungen (frau/mann, mann/mann und eben zuschauer/schauspieler). pollesch ist sich seit seinen anfängen mit der soap „java in a box“ am luzerner theater treu geblieben: er mutet dem ensemble gewaltige textmengen und ein höllisches tempo zu, so dass nach wie vor der souffleur zu einer hauptfigur wird (spezial-applaus für joachim wörmsdorf) – vor allem, wenn eine rolle in dieser hochintellektuellen, sagen wir, revue noch kurzfristig umbesetzt werden muss (spezial-applaus für den grandiosen einspringer bernhard schütz). warum das stück „gasoline bill“ heisst, erschliesst sich nicht auf anhieb; vermutlich weil die vier schauspieler als cowboys verkleidet sind. warum die vier schauspieler als cowboys verkleidet sind, das erschliesst sich auch auf den zweiten blick nicht. so, und jetzt geh´ ich meinen füllfederhalter suchen.

Samstag, 26. April 2014

MÜNCHEN: DEAD-END-OPERETTE

west side story. kennt man ja. der brutale kampf zwischen den jets und den sharks, zwischen eingeborenen und secondos in new york, inclusive eine bandenübergreifende liebesgeschichte und zehn hartnäckige ohrwürmer. man guckt sich so eine musical-produktion dann aber doch ganz anders an, wenn man mit zwei jungen leuten im theater sitzt, die aus der honduranischen hauptstadt tegucigalpa kommen, wo täglich bis zu 20 menschen ermordet werden, wo die kriege der gangs den alltag vieler menschen aus allen generationen zum teil aufs gröbste beeinflussen. dann wirkt jerome robbins´ original-choreografie von 1957, wie sie jetzt für die wiedereröffnung des deutschen theaters in münchen restauriert wurde, bei aller tänzerischen professionalität und musikalischen perfektion in erster linie verharmlosend bis absurd. bandenkrieg als hübsch fetzig arrangiertes ballett, das berührt aus dieser optik plötzlich ganz unangenehm und peinlich, und dass die von romeo und julia inspirierte utopie einer gewaltfreien gesellschaft in dieser aus den usa importierten produktion ungebremst im zuckersüssen kitsch landet, macht´s nicht besser. die west side story kann durchaus als kritisches musical durchgehen, das haben neuere inszenierungen immer wieder bewiesen. hier ist sie nicht mehr als eine operette mit tödlichem ausgang.

Freitag, 25. April 2014

BERLIN: OHNE UMSTEIGEN NACH LUZERN

1927 gab´s direkte züge von berlin nach luzern! da waren halt beides noch weltstädte. 1927 drehte walther rutschmann den stummfilm „berlin. die sinfonie der großstadt“, den das münchner filmmuseum in seiner raritätenreihe jetzt wieder einmal präsentiert hat. ein pracht- und prallvoller blick auf das pulsierende leben einer selbstbewussten metropole und ihre selbstbewussten bürgerinnen und bürger (alle, wirklich alle, mit hut). und irgendwann, für sekunden nur, sieht man in einer sequenz aus einem bahnhof dieses schild an einem zug. schöne vorstellung: berlin-luzern direkt. oder umgekehrt.

Donnerstag, 17. April 2014

BERN: THREE WOMEN

"wer sein leben für ein paar tage entschleunigen will, ist auf einem kreuzfahrtschiff genau richtig", steht heute auf der reiseseite des "tages-anzeigers". es geht auch anders. mit bill viola zum beispiel. der amerikanische video- und installationskünstler zwingt uns zur langsamkeit. in seinen videos passiert nichts. oder fast nichts. und dieses fast nichts zudem in extremer zeitlupe. fünf dieser videos sind jetzt im berner münster zu sehen, wo der grosse sakrale raum einen stimmigen rahmen bildet für violas stille kunst. "three women" zum beispiel: drei frauen stehen, unscharf, in einem grauen hintergrund, kommen allmählich näher, durchqueren eine wand aus wasser, gewinnen konturen und farbe, freuen sich, schauen sich um und ziehen sich ebenso langsam wieder zurück, durchs wasser in den grauen hintergrund. in der karwoche liest pfarrerin maja zimmermann über mittag, begleitet von subtilen orgelklängen, gedichte zu violas exponaten. auch zu den drei frauen: "ich bin und weiss nicht wer. ich komm' und weiss nicht woher. ich geh', ich weiss nicht wohin. mich wundert, dass ich so fröhlich bin." diese mittagsmeditation ersetzt ein halbes kreuzfahrtschiff.

Donnerstag, 10. April 2014

ZÜRICH: MURMELN IM MUND, MANN IN DER BIRNE

zwei starschauspieler. michael maertens und robert hunger-bühler. das zürcher publikum liebt sie. und die zürcher intendantin barbara frey liebt sie auch. im „diener zweier herren“ dürfen sie jetzt wieder zeigen, wie toll sie sind und weshalb man sie lieben muss. doch nicht alle lieben maertens und hunger-bühler. egbert tholl zum beispiel, theaterkritiker der „süddeutschen zeitung“: „nun hat man genug von michael maertens und seinem manierierten sprachduktus, der immer so klingt, als rollten ihm murmeln durch den mund und zwischen ihnen suchten die wörter nach einem ausgang. da hat man auch die abgeklärtheit hunger-bühlers begriffen, bei der man immer denkt, er wolle beweisen, dass er eine thomas-mann-gesamtausgabe inhaliert hat und nun mit weit aufgerissenen augen kultivierte überlegenheit demonstriert.“ kleinen extra-applaus heute für herrn tholl.