Mittwoch, 31. Dezember 2014

ZÜRICH: ICHWOTTHÜTTNÖDVERNÜMPFTIGSII

wer über die feiertage keine k.o.-tropfen, sondern ein bisschen viel familie erwischt hat, vielleicht gar eine überdosis, der sollte sich im zürcher schauspielhaus paul burkhards musikalische komödie „der schwarze hecht“ anschauen. da bekommt er dann vorgeführt, wie’s ausartet, wenn’s wirklich ausartet. herbert fritsch (ja, der) macht sich einen riesenspass daraus, den schweizer klassiker aus dem jahr 1939 auf die allerletzte spitze zu treiben: die geburtstagsfeier bei albert oberholzer (101), bei der all die tanten mit ihren mätzchen und die onkel mit ihren marotten und völlig unerwartet auch der beim zirkus gestrandete bruder samt manegenprinzessin einfallen, stattet fritsch mit den üblichen üppigen fritsch-perücken, den dick bemalten fritsch-gesichtern, den grellbunten fritsch-kostümen und kiloweise fritsch-klamauk aus. ichwotthüttnödvernümpftigsii, singt oberholzer-tochter anna – das motto steht über dem ganzen, nicht nur leicht windschiefen, sondern total schrägen abend. mit einem minimum an inhalt schaffen fritsch und sein lustvoll züritüütsch parlierendes ensemble ein maximum an parodie; parodie auf den bauernschwank und parodie auf die grosse oper gleichermassen. ichwotthüttnödvernümpftigsii. einzig als glitter-diva ruth rosenfeld mit blonder mähne und prächtigem sopran und polnischem akzent zum „o mein papa“ ansetzt, da weicht jeder klamauk von der bühne, da ist plötzlich platz für reinen kitsch und reine poesie: der ohrwurm als magischer moment. so viel stil hat herr fritsch.

Dienstag, 2. Dezember 2014

MÜNCHEN: OPHELIA

marie jung sagt o. wieder und wieder o. hübsche idee, einen one-woman-abend (oder 50 minuten, um genau zu sein), der ophelia ins zentrum rückt, zu beginnen mit gefühlt 36 variationen des buchstabens o. eine etude des sprechens, flüsterns, singens, stockens für die schauspielerin, eine etude des zuhörens und imaginierens fürs publikum. was dann folgt im werkraum der münchner kammerspiele: die geschichte des prinzen hamlet, des intrigierens und mordens am dänischen hof, aus der sicht seiner von shakespeare doch eher an den rand gedrängten freundin. jetzt rede ich! marie jung, adrett mit blauem kleidchen, modischer hornbrille und kurzhaarschnitt, erzählt dann allerdings vor allem, was wir längst wissen. regisseur kristof van boven, selber schauspieler im ensemble, bewegt seine kollegin rein narrativ voran: kaum ein neues fragezeichen, kaum ein einwand, kaum eine reflexion. ophelia wird so zwar zur eigenständigen und durchaus sympathischen person, eigene konturen allerdings gewinnt sie nicht. was sie bei hofe gesehen und gehört hat, wissen wir danach, was und ob sie sich dabei etwas (überraschendes, unübliches, unerhörtes, unanständiges) gedacht hat, wissen wir nicht. – das erfreuliche: dass die ensemblemitglieder der kammerspiele auch zwischen ihren grossen produktionen aktiv sind, neue formen ausprobieren, auch mal scheitern und wir ihnen dabei sogar zugucken dürfen.

Montag, 1. Dezember 2014

MÜNCHEN: GUTE NOTEN FÜR DIE SCHWEIZ

nach dem überraschend deutlichen nein zur ecopop-initiative attestiert die "süddeutsche zeitung" den schweizer stimmbürgerinnen und stimmbürgern ökonomische vernunft und politische mässigung: "die vorstellung, man könne in der schweiz jedes volksbegehren durchsetzen, das die welt vereinfacht und in freund und feind einteilt, ist mit dieser abstimmung deutlich widerlegt worden."

Sonntag, 30. November 2014

BASEL: OTELLO UNTERM HAFENKRAN

"un bacio! un altro bacio!" otello bekommt den kuss von desdemona, doch umarmen kann er sie nicht in ihrem weissen kleid, seine hände sind blutig (kriegshandwerk? vorahnung?). stumm und einsam gehen die beiden unter dem riesigen hafenkran, der die bühne dominiert, auseinander, in entgegengesetzte richtungen, in die dunkelheit: das grosse liebesduett im ersten akt ist der anfang vom ende. liebe, intrige, eifersucht, rache - was verdi mit dramatischen motiven steigert und gabriel feltz mit dem sinfonieorchester basel wuchtig und plastisch herausarbeitet, bringt regisseur calixto bieito immer wieder zu figurenkonstellationen, die unter die haut gehen: er seziert die echten und die falschen gefühle mit leidenschaftlicher präzision. daneben illustriert er, permanent und penetrant, den explosiven politischen kontext dieses an sich privaten dramas: bühnenbreiter stacheldrahtverhau, flüchtlinge, ein erhängter vermummter, blutverschmierte gefangene, kopulierendes machtpersonal. das basler premièrenpublikum braucht diese wohldosierten provokatiönchen, um seine wohldosierte entrüstung abzusondern. es funktioniert, auch diesmal. dabei liegt das problem dieser aufführung anderswo. der litauische tenor kristian benedikt singt sich als otello dies- und jenseits seiner grenzen entlang, zu wenig strahlkraft für diese rolle, kaum farben, kaum glanz in der stimme. immerhin, was ihm stimmlich abgeht, macht er darstellerisch wett; als verzweifelter, als rasender und, als er die intrige gegen ihn zu spät erkennt, als gebrochener mann, allein, zuoberst auf dem hafenkran. er muss den tod nicht suchen, der tod sucht ihn.

Freitag, 28. November 2014

MÜNCHEN: OPER IST GEGENWART ODER GAR NICHTS

"oper ist gegenwart oder sie ist gar nichts", sagt nikolaus bachler, seit 2008 intendant der bayerischen staatsoper in münchen, die zum "opernhaus des jahres" gekürt wurde, in der "opernwelt". und: "ich halte nichts von einer historisierenden, vermeintlich werkgerechten buchstabentreue. (...) das ist reines verkleidungstheater, das uns als 'werktreu' verkauft wird. mich erinnert das an den mainzer karneval, wo sich menschen eine toga anziehen und als römer fühlen." oper ist gegenwart oder sie ist gar nichts: "es geht nicht um eine bestimmte ästhetik, sondern um interpretationen, die für uns und unsere zeit relevant sind."

Sonntag, 9. November 2014

SURSEE: BAROCK, MON AMOUR

barock, mon amour, nicht nur bei srf 2 kultur. trompeten, celli, cembalo, gambe - und: blockflöten. dass es der komponist und dirigent peter meyer schafft, den jugendchor sursee für eine barock-oper zu begeistern, zeugt doch von einer aussergewöhnlichen leidenschaft und ausstrahlung. ein überzeugungstäter. über 30 jugendliche, ergänzt mit jungen solistinnen und solisten, singen im stadttheater sursee die selten gespielte "sémélé" von marin marais (1709). zwei stunden singen sie, französisch singen sie, kraftvoll und farbig singen sie, als wäre barockmusik für sie so alltäglich wie red bull. meyer hat sie, auf der musikalischen ebene, total angefixt. da geht die post ab. wogegen die inszenierung von dirk vittinghoff diesen esprit nicht immer mitzutragen vermag. er bewegt den chor wie im yoga-seminar zeitlupenhaft und überdeutlich durch die bewegte und für jugendliche sehr nachvollziehbare geschichte von sémélé, die sich an jupiter ran macht, es dann mit dessen gattin juno zu tun bekommt und realisieren muss, dass man die götter besser nicht versuchen sollte. louis XIV. freute sich, göttergleich, über dieses lehrstück an die adresse seines volkes. und wir freuen uns, dank der ausgrabung dieser rarität in sursee eine vorstellung davon zu bekommen, wie lustvoll am hof des sonnenkönigs seinerzeit musiziert wurde. une soirée pleine de charme. dem verein zur ausrottung der blockflöte werde ich trotzdem noch beitreten.

Montag, 3. November 2014

MÜNCHEN: GERI STILLER

geri müller ist auf der suche nach seinem wahren ich. geri müller, stirnglatze vor grau-schwarzer wuschelmähne, elegante schwarze hornbrille, graue strickjacke, fahrige bewegungen. nein, es ist nicht geri müller, sondern anatol ludwig stiller, respektive james larkin white, respektive max frisch. aber dass der 58jährige schauspieler august zirner als „stiller“ am münchner residenztheater exakt wie der 54jährige politiker geri müller ausschaut, irritiert den schweizer besucher doch sehr. „warum wollt ihr männer immer so grossartig sein?“ die deutlich jüngere regisseurin tina lanik montiert romanfetzen geschickt zu einer temporeichen, dichten studie über den ü50-mann, den geri müller in uns allen. stiller ist umstellt von den figuren aus seinem leben und – er ist ja bildhauer – von lebensgrossen, giacomettihaften puppen (handspring puppet company), die ihn in gespenstischer choreografie permanent umzingeln und bedrängen und an entscheidende episoden erinnern. läuft so die suche nach dem wahren ich? oder ist es die flucht vor dem wahren ich? kein glück und keine erlösung, nirgends, sondern bloss ein schweisstreibender, oft panischer spiessrutenlauf durch die eigene biografie. identität als wackelpudding. wenn der grelle scheinwerfer zwischendurch immer wieder stillers umrisse scharf auf die seitenwand wirft, dann sieht man dort nicht mehr geri müller, sondern max frisch. kantig. er ist noch unter uns, ein fixpunkt. gutes bild, guter gedanke.

Samstag, 1. November 2014

MÜNCHEN: TOTALLY HAPPY

„seit meiner kindheit wurde mir gesagt, ich müsse eine kleine schraube in der grossen, revolutionären maschinerie werden. nur auf diese weise könne ein leben bedeutungsvoll werden.“ der pekinger regisseur und choreograf tian gebing ist nicht nur geprägt vom chinesischen drill, er ist traumatisiert. mit „totally happy“ an den münchner kammerspielen arbeitet er diese belastung auf und ab. fünf chinesische tänzer, die auch sprechen, und fünf deutsche schauspieler, die auch tanzen, setzen sich während zwei stunden mit dem gespenst der masse auseinander: textfragmente von mao, baudrillard, canetti, einzelne gesten, gelegentlich zusammenhängende szenen. alles taucht auf und verschwindet wieder, der kollektive wahn, der kollektive lachanfall, die kollektive wut, der kollektive epileptische anfall, der kollektive untergang. die chinesen und die deutschen tragen da ihre je eigenen erfahrungen zusammen, mit schaudern und, ja, gelegentlich auch mit humor. eine collage, halt auch etwas beliebig. höhepunkt ist der kraftakt eines chinesischen solisten, der den kampf eines menschen tanzt, der ausbrechen will aus dieser masse, der seine individualität, die in china immer als sünde abgestempelt war, ergründen will; er wälzt und würgt sich, schlägt um sich, voller verzweiflung und hart an der schmerzgrenze – die geburt eines ichs, höchst kompliziert und mit offenem ausgang. und dann skandiert die masse wieder: „gesetz“, „durchschnitt“, „teilhaben“, „totally happy“. totally happy, maos nachhaltige gehirnwäsche.

Freitag, 31. Oktober 2014

LUZERN: URBANSCAPES

leere strassen in mailand. leere strassen in san francisco. leere strassen in istanbul. in paris. in beirut. in shanghai. der italiener gabriele basilico fotografierte seit den 1970er-jahren stadtlandschaften. es sind statische bilder, die das kunstmuseum luzern zeigt; dass sich auf diesen strassen, zwischen industriearealen oder wohnblocks, keine menschen befinden und bewegen, irritiert im ersten moment. gabriele basilico (1944-2013), ursprünglich architekt, dann architekturfotograf, wirft einen scharfen blick auf das gebaute und schafft dabei oft das kunststück, die diskrepanz zwischen dem gedachten und dem daraus gewordenen einzufangen. die menschen sind ihm also nur scheinbar abhanden gekommen – sie stehen, ohne dass man sie sieht, im zentrum seines interesses: er verfolgt, wie sich architektur, wie sich quartiere, wie sich ganze städte für die menschen und durch die menschen verändern. fotografische feldforschung, exakt und eindrücklich. und immer wieder gewinnt basilico der realität unmittelbar eine eigenwillige poesie ab: blendende mittagssonne über einer nigelnagelneuen fabrik und einer nigelnagelneuen strasse im mailänder speckgürtel, alles bereit für die zukunft, doch am rand das schild „strada senza uscita“.

Montag, 27. Oktober 2014

AVIGNON: GUTE FRAGE

olivier py, seit diesem sommer direktor des theaterfestivals von avignon, fragt: "erinnern sie sich mal an ihren letzten theaterbesuch und dann an die tagesschau von vor einer woche. was bleibt?"

Samstag, 25. Oktober 2014

LUZERN: DON JUAN - VIELE KÜSSE, VIELE ÄNGSTE

herzallerliebst! wie die tanztruppe des luzerner theaters die geschichte vom begnadeten verführer don juan präsentiert, das ist ein wahres bijou. zu mix-musik aus opern, balletten und sinfonien von christoph willibald gluck und inmitten wild wechselnder barocker bühnenprospekte entwirft der brasilianische choreograf fernando melo figuren-konstellationen, so filigran und fulminant, dass man sich nicht satt sehen kann. wo zum beispiel hat man schon einen mehrere minuten dauernden pas de deux geboten bekommen, bei dem sich die beiden ununterbrochen küssen, erotik und akrobatik aufs köstlichste verbindend? das kommen und gehen 2065 weiblicher schönheiten in don juans leben wird mit atemberaubendem slapstick und verblüffenden theatertricks auf die spitze getrieben, ein permanentes trompe-l’oeil. mit diesem die tänzer wie das publikum gleichermassen elektrisierenden gewusel könnte der abend endlos an der oberfläche bleiben. tut er aber nicht. ganz bewusst verdeutlicht die choreografie, wie die zahllosen verführungen und versuchungen nicht nur die gefühlswelt der damen durcheinander bringen, sondern durchaus nachhaltig vor allem don juans eigene, hier also deutlich von mozarts einigermassen unreflektiertem don giovanni abweichend. samuel déniz falcón ist für diese sichtweise die ideale besetzung: ein junger strahlemann, hinter der fassade mit selbstzweifeln, existenzängsten, todesahnungen ringend – ein differenziertes rollenporträt. und am schluss, zu glucks betörenden schatten-melodien, eine durchaus attraktive leiche.

Donnerstag, 9. Oktober 2014

ESSAOUIRA: DENKEN AM MEER

"das denken fiel schwer so nah am meer. man verlor seine grenzen, man gab gern auf." lutz seiler, "kruso", eben mit dem deutschen buchpreis geadelt. dies an der marokkanischen atlantikküste sitzend gelesen. und einige seiten später noch dies: "niemand, der wirklich zur insel gehörte, brauchte ein warum." ein roman von betörender poesie. denken am meer. und nicht denken.

Samstag, 13. September 2014

ZÜRICH: DREI SCHWESTERN

ein schäbiges landhaus in der russischen provinz, die fenster sind schmutzig und die sofas durchgesessen, das leder abgewetzt, es mieft zwischen möbeln und menschen. leben, falls überhaupt, war früher. jetzt nur noch: hohe räume, tiefe melancholie. alle wollen weg hier, alle wollen nach moskau. olga (friederike wagner) ist unglücklich als lehrerin und versucht das erfolglos zu überspielen, mascha (sylvie rohrer) ist unglücklich verheiratet, stürzt sich auf den nächstbesten und kann dem leben selbst aus einem spektakulären kopfstand heraus keine neue perspektive abgewinnen, irina (dagna litzenberger vinet) ist unglücklich verliebt und irgendwie auch ins unglück verliebt. barbara frey findet in ihrer inszenierung von tschechows „drei schwestern“ am schauspielhaus zürich gestochen scharfe figurenzeichnungen, mit den drei hervorragenden protagonistinnen ebenso wie beim sie umgebenden jammerhaufen von männern. zu diesen zeichnungen entwickelt sie eine atemberaubende sprach-choreografie: rhythmuswechsel, modulationen, immer wieder auch stumme szenen, zwischentöne von geheucheltem mitgefühl bis gift und galle, alles stimmt perfekt in diesen dialogen. nach moskau also? natürlich nicht, keiner hebt den arsch, die energie wird vom selbstmitleid gegen null gefahren. bei der uraufführung 1901 in moskau war das publikum zu tränen gerührt. was tschechow, der gegen die lethargie stacheln wollte, verständlicherweise sehr ärgerte. in zürich sitzt der stachel.

Dienstag, 9. September 2014

LUZERN: HANNIGAN ÉTOILE

was für ein schlussbouquet: barbara hannigans letzter auftritt als artiste étoile am lucerne festival, sie singt den vierten satz von mahlers vierter sinfonie. "johannes das lämmlein auslasset, der metzger herodes d'rauf passet, wir führen ein geduldig's, unschuldig's, geduldig's, ein liebliches lämmlein zu tod!" ein kind, das sich den himmel voll fantasiert und dann erschrickt über seine wilden gedanken. für jede facette dieses übermütigen kindes findet barbara hannigans stimme die richtige nuance, schmeichelnd, sinnierend, säuselnd, strahlend, klirrend. nur neun minuten dauert dieses himmlische gedankenspiel, und trotzdem eröffnen sich hier all die emotionalen zwischenreiche, die das lucerne festival academy orchestra unter matthias pintscher in den vorangegangenen drei sätzen allenfalls streifte. der vokale schlusssatz erst und hannigans überragende interpretation führten mahlers blick aufs himmlische leben weg vom banalen, allenfalls ironischen, hin zum doppelbödigen, zwischen paradiesischen freuden und todesängsten schillernden.

Sonntag, 17. August 2014

HALDENSTEIN: ALTERSWEISHEIT

die "süddeutsche zeitung" hat den architekten peter zumthor in seinem büro in haldenstein zu einem langen interview getroffen. thema: "ziele". der schönste von vielen schönen sätzen darin: "ich bin zu alt für generelle antworten."

Mittwoch, 30. Juli 2014

MÜNCHEN: STEVEN SCHARF ALS LILIOM

er tänzelt, probiert ein paar schritte, zunächst ohne musik, unsicher und total ausgestellt auf der leeren bühne, über der eine riesige discokugel schwebt. ein mensch, ganz allein, verletzlich und verloren: steven scharf, der schauspieler des jahres, als liliom, der jahrmarktbudenausrufer. sein leben läuft beschissen: er verliert den job, macht seiner julie ein kind, für das kein geld da ist, wird bei einem raubüberfall verhaftet, nimmt sich das leben. stephan kimmig zeigt franz molnárs „vorstadtlegende in sieben bildern“ an den münchner kammerspielen in einer hochkonzentrierten form (und bis in die letzte nebenrolle exzellent besetzt). er verknappt die dialoge und setzt auf präzise gestik und mimik, sozialdrama pur. liliom tänzelt, er tänzelt dem abgrund entgegen, er schwitzt zunehmend, aus dem tänzeln wird ein taumeln, ein taumeln zum tode. steven scharf ist kein grober hallodri, sondern ein zärtlicher versager, einer, der dem leben schutz- und hilflos gegenübersteht. wenn er nach 16 jahren im himmel kurz runter darf, um ein einziges mal seine tochter zu sehen, und ihr als stern von oben die riesige discokugel mitbringt, dann könnte das in grenzenlosem kitsch enden. hier gerät dieser moment sehr berührend, weil kein wort zu viel ist und keine bewegung aufgesetzt. und weil in lilioms glänzenden augen kein falsches glück erwacht, sondern einzig die verzweiflung für ein paar kurze sekunden verschwindet.

Donnerstag, 24. Juli 2014

WIEN: DER TRAFIKANT

immer mehr leute grüssten mit „heil hitler!“ und reckten dabei ihren arm in die höhe. franz, dem das ein bisschen übertrieben vorkam, gewöhnte sich an, darauf mit einem unverbindlichen: „danke, ihnen auch!“ zu antworten. – wien, 1938. ein 17jähriger bursche aus dem salzkammergut kommt zwecks lehre in einer tabaktrafik (kiosk) in die hauptstadt, verliebt sich unsterblich und unglücklich und versucht seinen liebeskummer in regelmässigen gesprächen mit seinem kunden, prof. dr. sigmund freud, zu kurieren. „der trafikant“ von robert seethaler ist die geschichte der freundschaft zweier ungleicher männer in schwierigen zeiten und eine ferienlektüre, wie man sie sich nur wünschen kann: liebevoll und launig, poetisch und politisch. und sprachlich überbordend, in der schilderung von franz´ träumen beispielsweise: „schweineblut tropfte von der decke direkt in das runde fass, das sein schädel war, das bett schaukelte hoch und höher, bis in dieses sonnenhelle juchzen hinaus, durch eine riesige, schwarze lücke hindurch und mit einem blauen wägelchen in die ewige grottendunkelheit hinein. seine mutter erschien und strich otto trsnjek mit dem handrücken übers bein, worüber sigmund freud so herzhaft lachen musste, dass ihm der hut vom kopf flog und er seine flügel ausbreitete und hoch über den votivkirchenspitzen der untergehenden sonne hinterhersegelte.“ man müsste wieder mal nach wien. zu freud an die berggasse 19. wie franz.

Samstag, 19. Juli 2014

GSTAAD: B-DUR

erster tag, warmlaufen: vom col du pillon via arnensee nach feutersoey. zweiter tag, noch mehr warmlaufen: von lauenen über die chrine zur höhi wispile. nach so viel warmlaufen machen sich beim nicht eben bewanderten stadtkind muskelkater und blasen bemerkbar. zur entspannung gibt’s nicht schwimmen, nicht sauna, keine relax-cd – sondern das eröffnungskonzert des menuhin festival gstaad. in der prachtvollen alten kirche von saanen setzt sich christian zacharias an den flügel, spielt zunächst zwei mozart-sonaten und nach der pause franz schuberts letzte, die klaviersonate nr. 21 in b-dur. ein werk voller todesahnung, die musik einer gequälten seele, die um fassung ringt, die immer wieder nach lichtblicken verlangt, die es nicht schafft, das dunkel zu verscheuchen. dur, permanent von moll umzingelt. zacharias spielt das sehr innig, sehr plastisch: er kommt schubert auf seiner letzten reise zwischen hoffnung und verzweiflung sehr nahe, es gelingt ihm das intime porträt eines bald sterbenden. während dem zweiten, dem stillen satz kippt ein zuhörer hinten im halbdunkel der kirche ohnmächtig und krachend zwischen die bänke. diese musik und dieser zwischenfall führen zu einer art kollektivem schauder. würden nicht die letzten sonnenstrahlen eines prächtigen bergsommertages durch die kirchenfenster grüssen, verliesse man diesen ort tieftraurig.

Dienstag, 15. Juli 2014

LAUENEN: HEITERE BESESSENHEIT

„gelassenheit – was wir gewinnen, wenn wir älter werden“ heisst das buch von wilhelm schmid, das auf der sachbuch-bestsellerliste des „spiegel“ unangefochten die spitze hält. überhaupt hat der ruf nach mehr gelassenheit gerade mal wieder hochkonjunktur. brauchen wir das, gelassenheit? wer „mehr gelassenheit“ fordert, meint meist mensch-ärgere-dich-nicht, meint weniger stress für sich oder den, der ihn gerade nervt. in wirklichkeit ist gelassenheit also für sehr, sehr viele menschen nur eine positiv parfümierte entschuldigung fürs abkoppeln, wegtreten, durchhängen, aufgeben. fürs sich-nicht-mehr-engagieren. kann da stolz sein, wer sich seiner endlich gewonnenen gelassenheit rühmt? gelassenheit ist die schwester der bequemlichkeit und müsste eigentlich ein schimpfwort sein. um mit den hartnäckigen und unerfreulichen seiten des alltags (oder berufslebens) fertig zu werden, brauchen wir nicht gelassenheit, sondern „heitere besessenheit“. diesen begriff hat der organisations- und managementberater klaus doppler geprägt. ihm geht es darum, sich einzusetzen für eine sache, zu kämpfen, das ziel nicht aus den augen zu verlieren und vor allem: das ziel höher zu gewichten als die ärgerlichen lappalien am oder im weg. dranbleiben, dranbleiben, konsequent, aber eben nicht verbissen und nicht verkrampft, das meint doppler: leidenschaftlich und locker. passt. mehr heitere besessenheit also.

Montag, 7. Juli 2014

GISWIL: VERS LE CIEL

"obwald", das sympathische festival in der waldlichtung bei giswil, strahlt bereits weit über die grenzen: dieses jahr wurden auf dem parkplatz selbst nummernschilder aus norddeutschland gesichtet. doch auch wenn man das volkskulturfest definitiv nicht mehr als geheimtipp handeln kann, seinen ausserordentlichen charme hat es auch bei der neunten auflage bewahrt. für einmal fehlten im programm zwar die spektakulären highlights, vielleicht entwickelte sich aber gerade deshalb eine besonders herzliche, familiäre atmosphäre zwischen den beteiligten formationen. eines verband sie alle ganz besonders: glockenhelle stimmen voller wärme und energie, die sich immer wieder "vers le ciel" schwingen, wie es in einer liedzeile der gäste aus dem kanton freiburg einmal hiess. die guardianes de la huasteca aus mexiko nutzten diese stimmen für witzige balz- und andere freudengesänge, der einheimische jodlerklub fruttklänge berührte mit dem steimandli-jodel auch manch durch und durch urbanes herz, und als der choeur des armaillis de la gruyère dann spätabends zu "lyoba" ansetzte und die vielen hundert menschen unter dem zeltdach allesamt herzergreifend in dieses ranz des vaches einstimmten, da war es wieder da, dieses ganz spezielle "obwald"-gefühl, das sich subtil an der grenze zwischen festfreude und andacht bewegt.

Dienstag, 1. Juli 2014

BASEL: DAS WEISSE VOM EI

französische komödien leben von türen, die sich im falschen moment öffnen, von den falschen menschen, die durch diese türen treten, von sprachwitz, von anzüglichkeiten und vor allem von einem teuflischen tempo. christoph marthaler gönnt sich am theater basel ein spässchen damit, er riskiert eine paradoxe intervention. er packt sich die farcen "la poudre aux yeux" und "un mouton à l'entresol" von eugène labiche, garniert sie mit jelinek, carroll, jonke und meyrinck, nennt das ganze "das weisse vom ei", lässt in der comme en france schrecklichen kulisse die comme en france schrägen vögel auftreten - aber: keine spur von tempo, das stück wird bis zur unkenntlichkeit entschleunigt, die bürgerliche gesellschaft in ihre einzelteile zerlegt. man bekommt noch knapp mit, dass sich emmeline und frédéric zugetan sind und dass sie beide in einem hochkomplexen verhältnis zu ihren jeweiligen eltern stehen, die sich gegenseitig aufs übelste beschnuppern. diese handlung allerdings wird zur blossen folie, auf der sich marthaler austobt, indem er zum beispiel die unsitte des à-part-sprechens (ans publikum gerichtete vertraulichkeiten) ad absurdum treibt oder indem er seinen fulminanten protagonisten kollektives nasenbluten verordnet oder indem er ausgestopfte vögel in die harfe und hirschgeweihe zwischen oberschenkel klemmen lässt. nur, sehr viele spässchen ergeben nicht zwingend einen spass. auf der bühne darf einer reichlich und redundant schnarchen.

Montag, 30. Juni 2014

SACHSELN: DURCH DIE BLUME

blumen. zugegeben nicht gerade mein bevorzugtes thema in kunstausstellungen. bin jetzt trotzdem hingefahren zur vernissage der schau "durch die blume" im museum bruder klaus in sachseln. und? positiv überrascht: originelle und erfrischende angelegenheit. sechs künstlerinnen und ein künstler setzen sich auf ganz unterschiedliche weise und mit ganz unterschiedlichen materialien mit blumen auseinander. das treibt wunderliche blüten. mireille tscholitsch zum beispiel wirft durch alte blumenmuster-spitzenvorhänge prächtige schattenbilder in einen dunklen kellerraum und damit ein neues licht auf diese traditionellen textilien. barbara jäggi zum beispiel fertigt aus dosendeckeln dutzendweise blütenstände und kronenblätter und hämmert sie als vertikale wiese an die wände eines langen korridors. und irene naef verteilt eine bewegte szene vor dem cinema rialto in nizza auf 81 kleinformatige bilder, neun in der höhe und neun in der breite, und bereichert jedes dieser puzzleteile mit einer rose - als grandiose hommage ans kino. blumen sind nicht einfach blumen. in diesem rosenregen steckt viel poesie und viel melancholie.

Sonntag, 29. Juni 2014

LUZERN: LAMMCURRY MIT PFLAUMEN UND MANDELN

für vier personen: 800 gramm lammhuft, 1 grosse zwiebel, 1 tomate, 3-4 stiele vom stangensellerie, 250 gr entsteinte dörrpflaumen, 100 gr mandeln, 3-4 dl rotwein, sri lanka oder delhi curry, salz, pfeffer, anis, kümmel. schön langsam auf kleinem feuer köcheln, ca. 75 minuten (variante: lammeintopf ohne curry und mit dörraprikosen statt pflaumen). – dazu salzkartoffeln, mit wenig curry, wenig lavendel und viel kurkuma kochen und färben, fein geschnittene minze und koriander darüber streuen.

Sonntag, 22. Juni 2014

MÜNCHEN: DIE ZOFEN

„die gnädige frau vergiftet uns mit ihrer güte.“ die beiden schwestern claire und solange planen und proben deshalb den mord an ihrer reichen herrin, das spiel entwickelt eine grausige eigendynamik, am schluss ist nicht die gnädige frau tot, sondern claire. jean genet hat „die zofen“ 1947 nicht als kampfstück im auftrag der dienstbotengewerkschaft geschrieben, sondern als rabenschwarzes märchen. stefan pucher, der seine inszenierungen sonst gerne mit visuellem, akustischem und dramaturgischem trash zumüllt, hält sich an den münchner kammerspielen für einmal vornehm zurück: ein paar live-videos zwar im konsequent schwarz ausgekleideten salon, ein paar gehauchte balladen, aber sonst ist das feld völlig frei für drei aussergewöhnliche schauspielerinnen. brigitte hobmeier, annette paulmann und wiebke puls sind weiss geschminkt wie stummfilmstars, drei todesengel, die sich ihre verwundeten seelen gegenseitig mit giftigen sätzen einreiben. grossartig, wie sie ihre stimmen in sekundenbruchteilen vom säuselnden domestiken-ton zwei oktaven abstürzen lassen ins gegurgel eiskalter rächerinnen, und wieder zurück. das permanente rummachen an der grenze von fiktion und realität und an der grenze von demütigung und quälerei gibt blicke frei in menschliche abgründe. drei tollen schauspielerinnen dabei zuzugucken, das hat einen durchaus speziellen reiz. gnadenlos.

Samstag, 21. Juni 2014

MÜNCHEN: RIVER OF FUNDAMENT

unglaublicher hype im märz, als im haus der kunst in münchen die grosse schau von matthew barney eröffnet wurde. irgendwie überraschte mich damals schon, dass selbst ausgefuchste kunstkritiker keine worte fanden, die den gegenstand dieses hypes, den sie mitveranstalteten, auch nur einigermassen erklären konnten oder wollten. und jetzt? jetzt liegen sie verlassen da in diesen grossen hallen, die absurden und absurd grossen objekte: aus bronze gegossene oder aus gelbem schwefelschaum modellierte negativ-abdrücke von autos (chrysler, pontiac, ford). und in einem nebenraum das storyboard zur mehrstündigen filmoper „river of fundament“, in welcher goldene stossstangen und ähnliches autozubehör die hauptrollen spielen und mehrheitlich männliche geschlechtsteile die nebenrollen. noch selten in dermassen leeren hallen dermassen viele ratlose gesichter gesichtet. was mich doch irgendwie beruhigt. der hinweis auf den kanopenschrein der alten ägypter im katalog hilft auch nicht wirklich weiter; ich bringe den chrysler und osiris trotz diesen museumspädagogischen krücken einfach nicht zusammen.

Mittwoch, 18. Juni 2014

MÜNCHEN: REISE ANS ENDE DER NACHT

„ich bin schriftsteller, ich bin arzt, ich bin mörder.“ ferdinand bardamu, der ich-erzähler in louis-ferdinand célines autobiografischem roman „reise ans ende der nacht“, überlebte verwundet den ersten weltkrieg, landete in der psychiatrie, als hygieniker in afrika, am fliessband bei ford in detroit und wurde schliesslich armenarzt in einer pariser vorstadt. das hinterlässt spuren. das resultat: 650 seiten hirngespinste. das war 1932 literatur jenseits aller konventionen und ist ein gefundenes fressen für frank castorf, der den ganzen schmutz dieses lebens am münchner residenztheater als viereinhalbstündigen fiebertraum inszeniert. aleksandar denic baut ihm dafür ein verwinkeltes kongo-hüttendorf auf die drehbühne, mit benzinkanistern, riesenventilatoren, alten waschmaschinen und einer demolierten croix-rouge-ambulanz. auf diesem spielplatz der hoffnungslosigkeit wird selbst für castorf-verhältnisse viel gebrüllt und geplärrt, selbst für castorf-verhältnisse viel per video aus dem off gebeamt. dieser abend ist literatur, theater, kino und verzweiflungsakt in einem und wurde konsequenterweise ans berliner theatertreffen eingeladen. verschwitzt und verzweifelt torkeln bibiana beglau und franz pätzold, die sich bardamu und sein alter ego robinson furios teilen und darin abwechseln, über verblutende frauen, irre soldaten, zuhälter und machtmenschen – ein erbarmungsloser, bewegend gespielter marathon des grauens. im stillsten moment des abends monologisiert beglau ein lebendes huhn in die offensichtliche bewusstlosigkeit. es ist eine reise ans ende der nacht. keine ankunft dort. keine erlösung.

Montag, 16. Juni 2014

MÜNCHEN: I CAPULETI E I MONTECCHI

vorsicht, belcanto-falle. vincenzo bellinis romeo-und-julia-vertonung “i capuleti e i montecchi” von 1830 ist ein belcanto-heuler, süffige melodien à discretion, hohes ohrwurmpotenzial, nur geübte opernbesucher pfeifen nicht gleich mit. da lauert bei der szenischen umsetzung die grosse falle der banalität, der oberflächlichen opernkulinarik. dass es auch anders geht, beweist der französische regisseur vincent boussard mit seiner inszenierung an der bayerischen staatsoper. boussard (auf den ich vor einem halben jahr bei „ezio“ in frankfurt erstmals aufmerksam wurde) ist ein meister der personenführung.  in hohen, leeren, dezent ausgeleuchteten räumen fokussiert er voll auf die figuren. die grosse begegnung von romeo und julia im ersten akt wird so zu einer berührenden annäherung zweier jugendlicher aus verfeindeten familien: unsichere blicke, zaghaftes vortasten, verlegenheit und übermut in jeder geste, glück und verzweiflung in jeder faser des körpers – und: 30 minuten lang keine einzige der handelsüblichen opernposen und rampenschleichereien. silvia tro santafé (romeo) und ekaterina siurina (giulietta) erweisen sich als idealbesetzung für diesen differenzierten ansatz, darstellerisch und auch stimmlich: der spanische mezzosopran und der russische sopran harmonieren vortrefflich. riccardo frizza dirigiert das staatsorchester mit federnder eleganz und setzt der kalten geschichte verführerisch warme klänge entgegen, ein kontrast ganz ohne effekthascherei. ein rundum geglückter belcanto-abend. gibt´s also.

Sonntag, 15. Juni 2014

MÜNCHEN: DER BRANDER BEIM BRANDNER

die 271. vorstellung seit der première im april 2005! der boandlkramer (vulgo tod) is scho a hartnäckiger kerl, a harter hund. 271 mal hat er sich im münchner volkstheater schon an den brandner rangemacht. "der brandner kaspar und das ewig´ leben" - das ist grosses welttheater als aberwitzige bayerische komödie. die 271. vorstellung ist meine 3. - oder 4.? kult.

Samstag, 31. Mai 2014

LUZERN: TRIFONOV WAS HERE

ist das normal? er hat diesen mai in moskau gespielt (am 2.), in madrid (5.), in warschau (7.), in tel aviv (13.), in schwetzingen (18.), in prag (19.), in berlin (22.), in münchen (23.), in bergamo (25.) und zum schluss jetzt noch zwei konzerte in luzern (28. und 30.). ist das gesund? wer den 23jährigen ausnahmepianisten daniil trifonov mit rachmaninoffs erstem klavierkonzert im kkl erlebt hat (und beim cd-signieren nach dem konzert), wird bestätigen: man muss sich keine sorgen machen um den jungen mann aus nizhny novgorod. andererseits: erklären kann man sich das auch nicht, was man da sieht und hört („eines der unbegreiflichsten klaviertalente der letzten jahrzehnte“, staunte auch die sz). wie ein völlig entfesselter wichtel zuckt und pflügt er sich durch das stürmische notenmaterial und modelliert und moduliert daraus phänomenale klangwelten. gelegentlich steht bei diesem vollen körpereinsatz zu befürchten, dass ihm die nase zwischen zwei tasten gerät oder die langen haare in die saiten. wie er diesen rachmaninoff richtiggehend rausfiebert, wächst die vermutung, dass trifonov die tasten gar nicht anschlagen muss, sondern dass ihm die tonfluten gleichsam durch arme und finger gleiten oder rasen und nach draussen drängen - und er dann nur noch gewährleisten muss, dass sich die akustischen explosionen im richtigen moment ereignen. das hat schon was tendenziell überirdisches.

Montag, 26. Mai 2014

MÜNCHEN: DIE SOLDATEN

nach zweieinhalb stunden ist man von den bildern überwältigt und von den tönen aufgewühlt: lärm, leichensäcke, wilde horden von bechernden soldaten, dutzendweise vergewaltigungen, irre und huren, übergriffige mütter und väter, geschundene, gequälte, blutlachen, gellende schreie. "die soldaten" von bernd alois zimmermann, die bis zur uraufführung 1965 als unspielbar galten und jetzt an der bayerischen staatsoper première hatten, sind ein apokalyptischer albtraum. "ein werk, bei dem man aufpassen muss, dass die manische dimension der musik nicht zu sehr von einem besitz ergreift", warnte regisseur andreas kriegenburg sich und das publikum. ihn interessiert, denkbar nahe an dieser musik, wie der mensch in der masse mutiert; sehr körperhaft und entsprechend drastisch entwickelt und choreografiert er die figuren an der unheimlichen grenze von der marionette zum monster. auch marie, ein bürgerliches mädchen, gerät in die hände dieser meute; die kanadische sopranistin barbara hannigan zeigt mit berührender verletzlichkeit, wie ein freier geist in dieser welt von macht, strukturen und gewalt keinen platz und keine perspektiven finden kann. kirill petrenko dirigiert das orchester und die 18 solistinnen und solisten, die auf mehrere ebenen verteilt sind, mit grosser geste genial durch die hochkomplexen expressionistischen klangwelten bis hin zum finalen akustischen atompilz. ein monumentales werk. zimmermann wusste und wollte das, seine regieanweisung lautet: "die handlung spielt gestern, heute und morgen." trostloser ansatz mit pazifistischer absicht.

Sonntag, 25. Mai 2014

MÜNCHEN: DIE BEFRISTETEN

ein kind stirbt mit sieben. ob sie darob nicht völlig verzweifle, wird die mutter gefragt. nein, antwortet sie, sie habe ja gewusst, dass das kind nur so alt werde, und ihre ganze zuneigung deshalb auf diese sieben jahre verteilt. das kind hiess "sieben", die anderen personen im szenischen gedankenspiel "die befristeten" heissen "fünfzig", "achtunddreissig" usw. elias canetti ging darin der zeitlosen frage nach, wie der mensch leben würde, wenn er von geburt an wüsste, wie alt er wird. welche ökonomisierung der kräfte das bewirken würde. in nicola hümpels inszenierung in münchen ist die welt eine kahle, graue drehbühne; die menschen springen auf und ab oder halten dagegen, der unrat des lebens dreht sich mit. optisch ein krasser und effektvoller kontrast zum putzigen rokoko-intérieur des cuvilliés-theaters. in wechselnden konstellationen debattieren die figuren mal kurzweilig, mal konfus über die konsequenzen der fixierten lebensjahre für die gestaltung von paarbeziehungen, für emotionen, für verbrechen, für die letzten monate und tage ("meine aura faltet sich richtiggehend zusammen"). detlev glanert hat im auftrag der münchner biennale für neues musiktheater einen spannungs- und farbenreichen soundtrack komponiert, der canettis 60 jahre alten text grundiert, überlagert, rhythmisiert. so entsteht eine aktuelle oper mit differenzierten gedanken über die determiniertheit, mit präziser sprache, aber ganz ohne gesang.

Samstag, 24. Mai 2014

MÜNCHEN: KAMMERSPIELE. AUSRUFEZEICHEN!

das "theater des jahres" legt in der spielzeit 14/15 noch einen zu: "dies ist unser letztes münchner spielzeitbuch. jetzt versuche ich mit diesem haus, das ich noch eine spielzeit lang mein haus nennen darf, einen punkt zu setzen. nein, ein ausrufezeichen!" toll, wenn jemand so abschied nimmt wie johan simons. "es gab keine revolution, wohl aber einen wandel. einen wandel in richtung einer sehr grossen offenheit. einer offenheit für andere arten von theater, für tanz und performance. einer offenheit für schauspieler aus ganz europa, für mehrsprachigkeit auf der bühne, für eine körperlichkeit, die genauso wichtig wird, wie die texte, die man spricht." die renommierte bühne als experimentierfeld. ausrufezeichen.

Sonntag, 18. Mai 2014

BRÜSSEL: DIE HINTERBÄNKLER

interessanter gedanke zur bevorstehenden europa-wahl: "im neuen europaparlament werden die eu-gegner nicht stark genug sein, um auf die gesetzgebung einfluss zu nehmen. viele davon wollen das ohnehin nicht, wie die vergangenheit lehrt. sie werden es sich als hinterbänkler gemütlich machen und fünf jahre lang für eine hübsche diät wenig oder gar nichts tun. das ist schon ein witz: all die vielen protestwähler, die eu-abgeordnete für faule säcke halten, werden mit ihrem votum eine neue truppe parlamentarischer müssiggänger schaffen." (nikolas busse in der "frankfurter allgemeine - sonntagszeitung")

Samstag, 10. Mai 2014

LUZERN: JOHANNA!

marine le pen wettert in breitem ostschweizer dialekt. sie wettert gegen die herrschende klasse, die die krise zu verantworten hat, die krise, die krise, die krise. immer lauter, immer aggressiver schreit sie einen text ihres vaters, und selbstverständlich landet die grosse patriotin, immer noch in breitem ostschweizer dialekt, bei jeanne d’arc, mit der natürlich alles ganz anders wäre. ein steiler einstieg, der subito die brücke schlägt von der vergangenheit in die gegenwart und von frankreich zu uns. „johanna!“ heisst der abend am luzerner theater, mit dem sich die junge regisseurin sabine von der heyde der jungen frau aus dem 15.jahrhundert annähert, die für ihre ideale gestorben ist und seither für alle möglichen zwecke vereinnahmt wird. die bühne ist ein steil in den zuschauerraum abfallender hörsaal, in dem vier frauen und ein mädchen die rolle der johanna studieren und sie sich aufteilen. wild mischen sie zitate aus den johanna-stücken von schiller, shaw und anouilh mit aussagen von whistleblower snowden und terrorist breivik. was eine trocken-theoretische textcollage hätte werden können, ist eine durchaus sinnlich-theatralische reflexion über idealismus und seine grenzen und über die frage, wie weit religion als antrieb taugt und sinnvoll ist. mal wird dieser hörsaal zum schlachtfeld, mal ist er folterkammer, mal denkfabrik. nein, eine naive gläubige, die blauäugig zum kampf schreitet, ist diese johanna nicht, sondern eine differenziert denkende, agierende, verletzliche frau. und sie so, multipliziert auf diese vier unterschiedlichen, allesamt hervorragenden schauspielerinnen und das tolle mädchen, aus nächster nähe zu erleben, das ist ein starkes stück.

Donnerstag, 8. Mai 2014

LEIPZIG: RADIO ALS GEGENWELT

"je nervöser die netzwelt wird, desto wichtiger werden gegenwelten wie das radio, die heimat bieten", sagte johann michael möller, hörfunkdirektor des mdr, beim medientreffpunkt in leipzig. "radio ist ein medium, das eine seele hat und das über eine emotionale bindung funktioniert", sagte ernst swoboda, chef des österreichischen privatsenders kronehit, ebenfalls in leipzig. worte des trostes? wenn ja, für wen? für uns macherinnen und macher? fürs publikum? und ist es denn nicht so, dass auch die online-medien bereits über eine emotionale bindung funktionieren, stichwort community?

Montag, 5. Mai 2014

KRIENS: DIE REISEN DES HERRN XU

xu xixian, der heute 72 ist, arbeitete bis 2009 als reisverkäufer in shanghai. er reiste sehr gerne. eine weltreise lag leider nicht drin und auch eine reise quer durch china nicht. deshalb entschloss sich herr xu, die dörfer in der umgebung von shanghai zu bereisen. und zu fotografieren. so entstanden 40'000 schwarzweissbilder, deren entstehungsort und -zeit er in heften akribisch notierte. das museum im bellpark in kriens zeigt jetzt einen teil dieses schatzes, der einen faszinierenden blick auf die entwicklung der metropole shanghai ermöglicht. dorfansichten noch aus den neunziger jahren wirken in ihrer schwarzweissen unaufgeregtheit wie bilder aus der po-ebene um 1940: menschen mit handkarren, reisfelder, boote auf kanälen. doch dann, gegen die jahrtausendwende, bahnt sich der boom seinen weg: monströse betonbrücken queren ungeteerte landstrassen, shoppingmalls wuchern auf landwirtschaftsland, wolkenkratzer neben holzhütten. es sind brachiale eingriffe. herr xu schafft es immer wieder, zwei welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten, auf ein bild zu bannen. und obwohl er nur dokumentieren will, drängt er permanent zur frage, was mit menschen passiert, die in derart schwindelerregendem tempo in eine andere zeit katapultiert werden. eine serie mit 15 bildern von 15 alten bäumen gibt indirekt eine antwort: man liess diese bäume zwar stehen, inmitten der bauwut, sie bewahrten ihre stolze form, doch es ist ein staubiger, lebloser stolz.

Sonntag, 4. Mai 2014

ZÜRICH: EINE HALBE PIQUE DAME

ganz vergessen, dass es im opernhaus zürich auch richtig schlechte plätze gibt. 1.rang links, loge 6, platz 4, von hier sieht man nur die halbe bühne. pech gehabt und selber schuld. auf der rechten bühnenhälfte wird tschaikowskys „pique dame“ gegeben, auf der linken vermutlich auch. regisseur robert carsen reduziert die zahlreichen schauplätze dieser oper auf einen einzigen: es ist ein düsterer spielsaal, der mit dunkelgrünen teppichen, dunkelgrün bespannten tischen und dunkelgrün gepolsterten wänden den ultimativ klaustrophobischen rahmen abgibt für die ausweglose geschichte des mittellosen offiziers hermann, der der spielsucht verfällt, in seinem wahn seine liebe zu lisa verscherzt und den tod ihrer grossmutter, der gräfin, verschuldet. carsen fokussiert ganz stark auf diesen hermann und seine obsession, rückt ihn im abgedunkelten raum immer wieder in einen grellen lichtkegel, lässt ihn so zum beispiel auf der gräfin bett im imaginierten geldregen tanzen, während die russische gesellschaft im schatten verstummt und sich zunehmend abwendet. gespenstische bilder. hermann wird gesungen von aleksandrs antonenko – ein name wie ein russischer flugzeugträger und eine kräftige, farbenreiche stimme, mit der er sich chancenreich für die nachfolgeorganisation der drei tenöre bewerben kann. nicht sehr subtil wird im orchestergraben angerichtet: jiri belohlavek dirigiert wenig dynamisch und wenig differenziert; der zauber und die geheimnisse von tschaikowskys personenzeichnungen fallen der lautstärke zum opfer, die problemlos für die arena di verona reichen würde. oder liegt das auch an meinem unvorteilhaften platz?

Sonntag, 27. April 2014

MÜNCHEN: GASOLINE BILL

wer tagsüber seinen füllfederhalter verlegt hat und abends ins theater geht, der wird bestimmt bis zum ende der vorstellung wissen, wo er ihn wiederfindet. weil: im theater übernehmen die schauspieler fürs publikum die gewaltige denkarbeit und die emotionale belastung – und der kopf des zuschauers wird leer und frei für die wirklich wichtigen dinge. den füllfederhalter zum beispiel. diese ebenso grossartige wie naheliegende theorie der rezeption und nicht-rezeption äussert einer der vier schauspieler in „gasoline bill“, der neusten produktion von rené pollesch an den münchner kammerspielen. einmal mehr hat pollesch seinen dialektischen textwolf mit ziemlich viel adorno und max weber gefüttert. inhalt, wie gehabt: kritik an den herrschenden zuständen, diesmal unter besonderer berücksichtigung der zwischenmenschlichen beziehungen (frau/mann, mann/mann und eben zuschauer/schauspieler). pollesch ist sich seit seinen anfängen mit der soap „java in a box“ am luzerner theater treu geblieben: er mutet dem ensemble gewaltige textmengen und ein höllisches tempo zu, so dass nach wie vor der souffleur zu einer hauptfigur wird (spezial-applaus für joachim wörmsdorf) – vor allem, wenn eine rolle in dieser hochintellektuellen, sagen wir, revue noch kurzfristig umbesetzt werden muss (spezial-applaus für den grandiosen einspringer bernhard schütz). warum das stück „gasoline bill“ heisst, erschliesst sich nicht auf anhieb; vermutlich weil die vier schauspieler als cowboys verkleidet sind. warum die vier schauspieler als cowboys verkleidet sind, das erschliesst sich auch auf den zweiten blick nicht. so, und jetzt geh´ ich meinen füllfederhalter suchen.

Samstag, 26. April 2014

MÜNCHEN: DEAD-END-OPERETTE

west side story. kennt man ja. der brutale kampf zwischen den jets und den sharks, zwischen eingeborenen und secondos in new york, inclusive eine bandenübergreifende liebesgeschichte und zehn hartnäckige ohrwürmer. man guckt sich so eine musical-produktion dann aber doch ganz anders an, wenn man mit zwei jungen leuten im theater sitzt, die aus der honduranischen hauptstadt tegucigalpa kommen, wo täglich bis zu 20 menschen ermordet werden, wo die kriege der gangs den alltag vieler menschen aus allen generationen zum teil aufs gröbste beeinflussen. dann wirkt jerome robbins´ original-choreografie von 1957, wie sie jetzt für die wiedereröffnung des deutschen theaters in münchen restauriert wurde, bei aller tänzerischen professionalität und musikalischen perfektion in erster linie verharmlosend bis absurd. bandenkrieg als hübsch fetzig arrangiertes ballett, das berührt aus dieser optik plötzlich ganz unangenehm und peinlich, und dass die von romeo und julia inspirierte utopie einer gewaltfreien gesellschaft in dieser aus den usa importierten produktion ungebremst im zuckersüssen kitsch landet, macht´s nicht besser. die west side story kann durchaus als kritisches musical durchgehen, das haben neuere inszenierungen immer wieder bewiesen. hier ist sie nicht mehr als eine operette mit tödlichem ausgang.

Freitag, 25. April 2014

BERLIN: OHNE UMSTEIGEN NACH LUZERN

1927 gab´s direkte züge von berlin nach luzern! da waren halt beides noch weltstädte. 1927 drehte walther rutschmann den stummfilm „berlin. die sinfonie der großstadt“, den das münchner filmmuseum in seiner raritätenreihe jetzt wieder einmal präsentiert hat. ein pracht- und prallvoller blick auf das pulsierende leben einer selbstbewussten metropole und ihre selbstbewussten bürgerinnen und bürger (alle, wirklich alle, mit hut). und irgendwann, für sekunden nur, sieht man in einer sequenz aus einem bahnhof dieses schild an einem zug. schöne vorstellung: berlin-luzern direkt. oder umgekehrt.

Donnerstag, 17. April 2014

BERN: THREE WOMEN

"wer sein leben für ein paar tage entschleunigen will, ist auf einem kreuzfahrtschiff genau richtig", steht heute auf der reiseseite des "tages-anzeigers". es geht auch anders. mit bill viola zum beispiel. der amerikanische video- und installationskünstler zwingt uns zur langsamkeit. in seinen videos passiert nichts. oder fast nichts. und dieses fast nichts zudem in extremer zeitlupe. fünf dieser videos sind jetzt im berner münster zu sehen, wo der grosse sakrale raum einen stimmigen rahmen bildet für violas stille kunst. "three women" zum beispiel: drei frauen stehen, unscharf, in einem grauen hintergrund, kommen allmählich näher, durchqueren eine wand aus wasser, gewinnen konturen und farbe, freuen sich, schauen sich um und ziehen sich ebenso langsam wieder zurück, durchs wasser in den grauen hintergrund. in der karwoche liest pfarrerin maja zimmermann über mittag, begleitet von subtilen orgelklängen, gedichte zu violas exponaten. auch zu den drei frauen: "ich bin und weiss nicht wer. ich komm' und weiss nicht woher. ich geh', ich weiss nicht wohin. mich wundert, dass ich so fröhlich bin." diese mittagsmeditation ersetzt ein halbes kreuzfahrtschiff.

Donnerstag, 10. April 2014

ZÜRICH: MURMELN IM MUND, MANN IN DER BIRNE

zwei starschauspieler. michael maertens und robert hunger-bühler. das zürcher publikum liebt sie. und die zürcher intendantin barbara frey liebt sie auch. im „diener zweier herren“ dürfen sie jetzt wieder zeigen, wie toll sie sind und weshalb man sie lieben muss. doch nicht alle lieben maertens und hunger-bühler. egbert tholl zum beispiel, theaterkritiker der „süddeutschen zeitung“: „nun hat man genug von michael maertens und seinem manierierten sprachduktus, der immer so klingt, als rollten ihm murmeln durch den mund und zwischen ihnen suchten die wörter nach einem ausgang. da hat man auch die abgeklärtheit hunger-bühlers begriffen, bei der man immer denkt, er wolle beweisen, dass er eine thomas-mann-gesamtausgabe inhaliert hat und nun mit weit aufgerissenen augen kultivierte überlegenheit demonstriert.“ kleinen extra-applaus heute für herrn tholl.

Samstag, 22. März 2014

MÜNCHEN: TAUBERBACH

estamira lebt auf einer müllhalde in rio de janeiro. seit über 20 jahren. es gibt einen dokumentarfilm über sie. jetzt spielt die holländische schauspielerin elsie de brauw diese estamira an den münchner kammerspielen. an einem ganz und gar aussergewöhnlichen abend. die bühne ist über und über mit kleidern bedeckt, in allen farben. estamira sucht darin sich und die welt: sie wühlt und wandert und schreit herum, mal sind es philosophische satzbrocken, mal chaotische. „did you hear the storm? it was inside me.“ der belgische choreograf alain platel konfrontiert diese frau mit zwei tänzerinnen und drei tänzern von les ballets c de la b, sie tauchen auf aus den kleiderbergen und verschwinden wieder, sie geben estamiras welt eine form und einen inhalt. dies zu behutsam eingespielter musik von johann sebastian bach, die teilweise – und sehr innig – von gehörlosen interpretiert wird, was dem abend auch den titel gab: „tauberbach“. so entsteht ein panorama der menschlichen regungen: mal erinnern die tänzer an glücklich spielende und experimentierende kinder, mal lieben sie sich ohne scham wie tiere, mal arrangieren sie szenen, die an christi leidensgeschichte erinnern, wild und zärtlich, exstatisch und verletztlich. jeder wird hier andere bilder sehen, jeder wird anderen gedanken nachhängen. auch estamira ist erstaunte beobachterin, gelegentlich kommentiert sie, gelegentlich greift sie ein. das ist sprechtheater, musiktheater und körpertheater in einem – und vor allem ist es eine vollkommene meditation über das menschsein.

Montag, 17. März 2014

SURSEE: DIE SCHWARZE SPINNE

es beginnt ganz harmlos. auf der kleinen bühne im somehuus sursee berichten drei frauen und drei männer mit barocker lust von einem üppigen taufessen im emmental, von züpfen und braten und vollen bäuchen. fast beiläufig tauchen die horrorgeschichten aus der vergangenheit auf, als die zugereiste christine einen pakt mit dem teufel einging, um die not der talbewohner zu lindern, und dann nicht zur retterin, sondern zum sündenbock wurde. regisseurin bernadette schürmann interessiert an gotthelfs novelle von der schwarzen spinne die zeitlose soziale dynamik, der umgang mit aussenseitern. flink lässt sie die figuren zwischen erzählen und spielen wechseln, minimale aktion, das wesentliche passiert in den worten und zwischen den worten: kein offener konflikt wird in diesem tal ausgetragen, sondern gemeinheiten und ausgrenzungen vergiften das klima. das gelingt den laiendarstellern ganz vortrefflich, dieses unterschwellige, heimliche, bedrohliche. kontrastierend zu diesem bewusst schlichten szenischen ansatz illustriert christian johannes koch das innenleben der dorfleute mit so raumfüllenden wie rauschhaften projektionen: blutrote wälder jagen vorbei, dunkle wolken werfen noch dunklere schatten, schwarze flecken wachsen bedrohlich über alle wände, dazwischen gellende schreie und gequälte akkordeontöne - keine idylle im emmental, sondern seelische not und grausamkeit. man versteht christine gut, wenn sie andeutet, "wie's grumoret hed i mim gmüet".