Samstag, 23. November 2013

MÜNCHEN: GHETTO

berge von kleidern bedecken die grosse bühne im münchner volkstheater, schwarze kittel, schwarze hosen, schwarze hemden. es sind die kleider der toten juden aus dem ghetto von wilna/vilnius, 50´000, 60´000, vielleicht noch mehr. leichenberge als kleiderberge – auf diesem chaotisch-düsteren terrain siedelt christian stückl „ghetto“ von joshua sobol an. ein paar ghetto-juden spielen hier ghetto-theater, weil theater hilft, das schöne und gute nicht zu vergessen; weil theater hilft, die richtigen fragen zu stellen; weil theater hilft im kampf, ein mensch zu bleiben; weil theater ablenkt. srulik und seine freche bauchrednerpuppe mit unnachahmlichem reich-ranicki-sprech halten die truppe über wasser, robert joseph bartl spielt das absolut berührend zwischen abnehmender hoffnung und zunehmendem humor. er bleibt das warmherzige zentrum in diesem stück, das ganz beiläufig immer wieder die harten moralischen fragen stellt: darf man einige menschen opfern, wenn man viele andere retten kann? darf man die medikamente der todgeweihten zurückhalten für jene mit überlebenschancen? darf man mit nazis kollaborieren, wenn es den juden nützt? obwohl die jungen schauspieler ihre figuren (den ss-offizier, den jüdischen ghetto-chef, den geschäftstüchtigen schneider) oft gefährlich nahe am klischee spielen, wird der abend nie oberflächlich, sondern bleibt – dank srulik und dank der sensiblen präsenz von drei klezmer-musikern auf offener bühne – ein melancholischer und beklemmender totentanz. eine hoffnung gibt es nicht, für niemanden, aber es gibt das theater.

Donnerstag, 21. November 2013

MÜNCHEN: DIE FRAU OHNE SCHATTEN

am 21.november 1963 wurde die wiederaufgebaute bayerische staatsoper mit richard strauss´ „die frau ohne schatten“ eingeweiht. auf den tag genau 50 jahre später gibt kirill petrenko, der kleine prinz des musiktheaters, mit dem gleichen werk sein début als generalmusikdirektor an diesem haus. und wie! das märchen von zwei ungleichen paaren, einem aus der zauberwelt und einem irdischen, die beide keine kinder kriegen, weil die eine frau nicht will und die andere nicht kann (also „ohne schatten“ ist), und die dann fruchtbarkeit gegen ewige jugend tauschen wollen, dieses komplexe märchen leuchtet petrenko in allen farben aus; traumwandlerisch findet er mit dem bayerischen staatsorchester und hochkarätigen solisten den mittelweg zwischen transparenz und geheimnissen und liefert so den perfekten soundtrack zur psychoanalyse oder, sehr treffend im programmbuch, zur „pathografie der zeitgenössischen ehe“. kongenial verlegen der polnische regisseur krzysztof warlikowski und seine bühnenbildnerin malgorzata szczesniak (die psychologie studiert hat!) die handlung in ein kurhaus, spielen mit visuellen elementen aus „zauberberg“, „l’année dernière à marienbad“ und „rosenkavalier“ und tauchen ein in die wünsche, träume und blockaden der beiden paare. betörend und verstörend. einem scheuen reh entschlüpft ein kleines mädchen mit feuerrotem haar und blutrotem kleid, in einem riesigen aquarium schwimmen nur fünf (tote) fische, auch king kong schaut vorbei und wir werden mit den protagonisten durch furchterregende wälder und menschenleere friedhöfe gejagt, prüfung und erlösung: willkommen in der praxis dr. freud! und am ende die utopie: „die stimmen der ungeborenen“ als 80köpfige, bühnenfüllende kinderschar, bunt und wild und von heute. 80 möglichkeiten für morgen.

Mittwoch, 20. November 2013

LUZERN/BAYREUTH: FRAU WAGNER UND HERR HITLER

sie war meine nachbarin. luzern, schweizerhausstrasse 5, gute gegend. für mich (3.etage) war es die erste eigene wohnung, für frau wagner (1.etage) die letzte, den estrich teilten wir uns. friedelind wagner war die enkelin von richard wagner. durch eine glückliche fügung sind mir jetzt, viele jahre später, ihre jugenderinnerungen in die hand gekommen: „nacht über bayreuth“, dittrich-verlag. als mädchen und junge frau erlebte sie, wie hitler bei ihren eltern ein und aus ging, ein stammgast bei den festspielen, die vier kinder nannten ihn „onkel wolf“, friedelind besuchte ihn mehrmals auch in berlin. das buch liest sich wie eine reportage - nicht nur aus der villa wahnfried, sondern aus dem innersten zirkel der nazi-hölle. friedelind beobachtete scharf und schrieb mit spitzer feder: „es wollte mir nicht in den kopf, wieso männer und frauen, die sonst völlig normal zu sein schienen, in seiner gegenwart offensichtlich den verstand verloren, puterrot im gesicht wurden, ihre tassen fallen liessen und in hysterische wein- oder lachkrämpfe ausbrachen. oft hoben sie, wenn sie mit ihm sprachen, ihre stimme ganz unbewusst um mindestens eine oktave.“ friedelind sagte sich los von ihrer mutter winifred, einer der glühendsten und unverbesserlichsten hitler-verehrerinnen, und von ihrer familie, sie emigrierte und gilt vielen wagnerianern noch heute als schwarzes schaf des clans. ihr weg war die ebenso mutige wie konsequente emanzipation einer damals 26jährigen: „im festspielhaus hatte der nazismus mit seiner falschen emphase und seiner falschen bewertung der dinge alles so beschmutzt, dass ich den kaum zu unterdrückenden wunsch empfand, das ganze gebäude zu verbrennen.“ friedelind wagner starb 1991. nur einige wenige leute wissen, wo sie ihre letzte ruhe fand. in bayreuth liegt sie nicht.

Sonntag, 17. November 2013

MÜNCHEN: DER FLUCH DER DREHBÜHNE

für verdis „trovatore“ hat pierre-andré weitz der bayerischen staatsoper eine gigantische drehbühne mit einer art bergwerk gebaut, mit blechhütten und einer dampflok, mit leitern, aufzügen und riesigen zahnrädern (nun ja, die oper als kraftwerk der gefühle wieder mal). ein bühnenbild fast noch komplexer als die story von den zwei brüdern luna und manrico, die für unterschiedliche politische ideale, aber um die gleiche frau kämpfen, ohne zu wissen, dass sie brüder sind. weil so eine drehbühne enorm aufwändig ist, muss sie amortisiert, also dauerbewegt werden. nicht sopran, mezzo, tenor und bariton sind hier die protagonisten, sondern geschätzte 40 bühnenarbeiter, die das monströse teil permanent schieben, drehen, wenden. bei so viel aktivismus und so vielen visuellen reizen bleibt paolo carignanis dirigat, das nicht auf vordergründige effekte, sondern auf differenzierte zeichnung setzt, einigermassen chancenlos. die bühne stiehlt verdi die show. und regisseur olivier py setzt noch einen drauf: einmal wird der tenor variétémässig in zwei teile zersägt, einmal fesselt ihn seine vermeintliche mutter mit einer langen roten leine an sich (aha, nabelschnur-kompensation, erkennt der vulgärpsychologe sofort). und dann: im vierten akt kommt die überstrapazierte drehbühne endlich mal zur ruhe und krassimira stoyanova (leonora) singt, ganz allein im grossen dunklen raum, ihre arie von den seelenqualen und der todessehnsucht der zwischen den beiden männern hin- und hergerissenen, berührend und beklemmend. die melodie steht erstmals an diesem abend im mittelpunkt, ein grossartiger moment für eine grossartige stimme. wogegen die stimme von lokalmatador jonas kaufmann (manrico), dem die älteren groupies hier nach wie vor ungebremst zujubeln, im piano und in tieferen lagen glanzlos bis gequetscht wirkt, kurz: die zukunft schon hinter sich hat.

Montag, 11. November 2013

FRANKFURT AM MAIN: EZIO. EZIO WHO?

eine winzige gipsstatue des römischen kaisers valentinian, kaum 40 zentimeter gross, steht auf der spiegelglatten, schwarz lackierten bühne der frankfurter oper. sonst nichts. so klein, so verloren können die grossen posen der mächtigen wirken. und so gross dagegen die gefühle, die diese menschen hinter der fassade tatsächlich umtreiben: um die weisse statuette herum lässt regisseur vincent boussard die menschen hinter den posen in originalgrösse agieren und die geschichte des feldherrn ezio erzählen. ezio? der hiess im richtigen leben flavius und verlor selbiges, weil er in der folge einer liebesintrige fälschlicherweise eines mordkomplotts gegen den kaiser verdächtigt wurde. doch christoph willibald gluck komponierte seinen selten gespielten "ezio" 1750, als nicht historische übereinstimmung gefragt war, sondern der didaktische optimismus der aufklärung. weshalb ezio hier vom kaiser begnadigt wird - nach ellenlangen rezitativen und wortkaskaden, die die handlung nur referieren, nicht vorantreiben. boussard nutzt die fehlende action, um das machtpersonal mit all seinen nöten und neurosen, seinen obsessionen und narzisstischen störungen äusserst präzis zu zeichnen. christian curnyn unterstützt ihn aus dem orchestergraben aufs trefflichste, und die altistin sonia prina als ezio ist das zentrum eines ensembles, das das volle spektrum der musikalischen farben zum glänzen bringt. apropos farben: stardesigner christian lacroix hüllt die protagonisten in edle stoffe und joachim klein taucht sie in edles licht, üppigste opern-kulinarik also. kulinarik immerhin mit klugem konzept. begeisterter premièrenapplaus.

Samstag, 2. November 2013

ZÜRICH: HUNDEHERZ

wollten sie auch immer schon mal einer hirnoperation beiwohnen, live? bitte: zunächst wird der patient notdürftig geduscht, ein bisschen dreck bleibt noch kleben, dann ein scharfer schnitt quer über die stirn, blut spritzt in alle richtungen, die brechzange kommt zum einsatz, auf dem tisch liegt das ersatzorgan, eine menschliche hypophyse, bereit unter, sagen wir mal, hygienisch suboptimalen bedingungen, der ausführende professor preobraschenski atmet schwer, der patient atmet noch. der patient heisst sharik und ist ein hund. die operation geht schief: statt einem verjüngten hund resultiert ein mensch mit animalischen instinkten, die er bis zum finalen abmurksen seiner entourage voll auslebt. die schöpfung wendet sich gegen ihren schöpfer; kein wunder, war michail bulgakows erzählung „hundeherz“ in der sowjetunion zu zeiten der kommunistischen volksbeglückung verboten. jetzt hat sich pedro martins beja diese ätzende satire im zürcher theater neumarkt vorgeknöpft – und nicht nur die zentrale operation, sondern der ganze abend ist ein fulminantes spektakel für augen und ohren und, ja eben, hirn: das gesellschaftliche experiment wird in jeder beziehung ausgeweidet. maximilian kraus als sharik winselt und schnaubt und hetzt, dass man zum hundefreund werden könnte, und sagt dann plötzlich mal ganz ordinäre und mal ganz kluge dinge. ein durchtriebener hund. ein gefährlicher hund. ein genialer hund, dieser junge mann.