es ist
ein uralter traum, unsichtbar zu sein. sagt der verbrecher roberto zucco, und
es ist nicht seine einzige sehnsucht. er möchte auch ein strassenköter sein,
der in den abfällen der menschen wühlt. und er möchte den schnee von afrika auf
seiner haut spüren. bernard-marie koltès hat diesen mann, der vater und mutter
und einen polizisten und ein kind umbrachte und sich mit einer flucht durch
halb europa quasi unsichtbar machte, 1989 in seinem letzten theaterstück „roberto
zucco“ zur ikone erhoben. leon pfannenmüller spielt zucco am münchner
volkstheater als harmlosen jungen, der ohne not und ohne leidenschaft mordet;
harmlos und rastlos geht er im riesigen, abgedunkelten bühnenraum auf und ab, ein
endlos suchender. am schluss stürzt er sich vom gefängnisdach „in die sonne“. die
mythische überhöhung zum todesengel hat zwar tradition in der literatur
(genet), doch regisseur milos lolic mag sich koltès` verklärung des verbrechens
nicht einfach anschliessen. sein zugriff hat die züge eines doku-dramas mit
gelegentlich gar parodistischen elementen. indem er die menschen um zucco herum
ununterbrochen wirkliche ikonen aus dem kollektiven gedächtnis und andere
visuelle codes der menschheit an ein baugerüst pinnen lässt, stutzt lolic den
mörder auf ein menschliches mass zurück. dieser zucco ist keine ikone, er
bleibt eine kleine schwarze episode.
Sonntag, 23. Juni 2013
Samstag, 22. Juni 2013
MÜNCHEN: KÖNIG LEAR UNTER SCHWEINEN
sei´s
der britische königshof, sei´s ein bauernhof in unseren
tagen – die grossen themen bleiben: macht, würde, liebe, die suche nach dem
sinn. deshalb zeigt intendant johan simons shakespeares „könig lear“ an den
münchner kammerspielen als spiel einer laientruppe auf einem bauernhof; er will
die fragen, die die welt immer umgetrieben haben, in menschlichen proportionen
angehen. eine leicht schiefe, mit grasziegeln belegte holzrondelle von kaum
fünf metern durchmesser ist die ganze welt, ist schloss, ist heide, ist
heerlager. hier spielen sie in gummistiefeln und kleidern vom dachboden,
umwuselt von echten schweinen, diesen grossen düsteren text als herrenbauerndrama:
prall, drastisch und damit sehr nahe an shakespeares idee von volkstheater.
andré jung als tyrann ohne innere grösse, der königreiche verteilt und töchter
enterbt, rennt in roten strumpfhosen durch sein britannien und lässt uns
eindrücklich teilhaben an der zunehmenden verdunstung seines gehirns. „du
hättst nicht alt werden solln, eh du weise wurdst“, seufzt ihm sein narr voller
mitleid zu. dass dieser lear bei der kleinsten unplanmässigkeit aggressiv und
laut wird, nährt die vermutung, er sei womöglich nicht dem wahnsinn verfallen,
sondern leide an einer perfiden form von demenz. „könig lear“ als welttheater
und endspiel – ein grosser abend.
Freitag, 21. Juni 2013
MÜNCHEN: BAUERN STERBEN
„solang
ich leb, wird nicht umgestellt. nichts wird umgestellt. gar nichts wird
umgestellt. und gehören tut alles noch mir. alles gehört noch mir. mein ist
alles noch. das milchgeld und der fernseher auch.“ eng ist sie, diese bauernwelt,
die jungen wollen so nicht leben und ziehen in die stadt, wo ihnen dann auch
wieder kalt ist. „bauern sterben“ heisst das dramatische fragment, das franz
xaver kroetz 1985 geschrieben und an den münchner kammerspielen uraufgeführt
hat, und daselbst entwickelt armin petras daraus jetzt eine szenische phantasie
über heimatverlust und heimatsuche, die zeigt, das kroetz´ kraftvoller text an
relevanz nichts eingebüsst hat. die bühne ist ein labyrinth aus gerüststangen,
in denen sich marie jung und thomas schmauser als schwester und bruder auf der
suche nach dem richtigen leben hoffnungslos verirren und verfangen. wurzeln können sie hier nicht schlagen. auch der
heiland aus der heimat (lasse myhr wie frisch vom kreuz) turnt allgegenwärtig
herum – und auch er erliegt später den versuchungen der grossstadt und endet
erschlagen und blutüberströmt in der gasse. „in der stadt ist das leben ein
grosses sterben, die stadt reitet das leben zuschanden“, sagt der bruder. er
hat heimweh. wonach?
Mittwoch, 19. Juni 2013
MÜNCHEN: KÖRPER UNTER STROM
die
muffathalle am isarufer in münchen ist die ehemalige turbinenhalle des städtischen
elektrizitätswerks, ein industriedenkmal aus klassizistik und jugendstil, ein
überaus stimmungsvoller ort. er bietet das treffende umfeld für meg stuarts
choreographie „violet“, in der die amerikanische choreographin und ihre
belgische company damaged goods pure energie zeigen – als stünden die körper
unter strom. der musiker brendan dougherty liefert live einen mal grellen, mal
versponnenen teppich aus elektronik und perkussion, akustik gewordene
elektrizität. die zwei tänzerinnen und drei tänzer scheinen wie verkabelt mit
diesem sound: er lädt sie auf, quält sie, stimuliert sie, sie winden sich und
zucken, sie leiden und bäumen sich auf. jedes gelenk, jeder muskel, jede faser
wird aktiviert und ausgereizt. alle fünf sind während 80 minuten permanent auf
der bühne und spielen permanent mit allen varianten von körpereinsatz; und es
sind dies nicht 100 oder 200 varianten, sondern gefühlte 50´000. der durchschnittlich
mobile zuschauer sitzt da und kann es kaum fassen. „violet“ ist ein abstraktes
ereignis, keine story, keine mission, sondern dynamik, die zu energie wird,
körper, die zu bewegten und bewegenden skulpturen werden. kraftwerk im
kraftwerk.
Montag, 17. Juni 2013
ZÜRICH: BLÄTTERN IM WAGNER-ALBUM
regisseur
hans neuenfels war mal ein provokativer geist. war mal. bei den zürcher
festspielen zeigt er sich jetzt von der ganz und gar zahmen seite und blättert
mit uns gemütlich im wagner-album. „richard wagner – wie ich welt wurde“ heisst,
ziemlich ambitioniert, neuenfels‘ beitrag zum wagner-jahr, ein potpourri von
biographischen und musikalischen episoden aus des komponisten zürcher zeit, kunterbunt angerichtet mit opern- und schauspielstars im schiffbau. robert hunger-bühler
spielt den komponisten eindimensional durchgeknallt, ein widerling, der seine
umgebung ohne unterlass tyrannisiert und sich zu seiner eigenen
lohengrin-ouverture am boden wälzt und aufgeilt bis zum feuchten ende – man möchte
das so genau weder wissen noch sehen. um wagners grössenwahn werden inmitten
putziger bergkulisse seine affären, seine gegner, seine mentoren drappiert; in
seinen fieberschüben schauen otto wesendonk, gottfried keller und charles
baudelaire vorbei, es gibt da ein bonmot, dort eine arie, da einen
briefwechsel, dort ein duett. wagners leben als variété. der disput um sein
grässliches pamphlet „über das judentum in der musik“ wird in so einem umfeld zur weiteren
nummer degradiert. es fehlt dem abend an intellektueller tiefe und dramaturgischer
stringenz. was bleibt, ist eine nicht wirklich inspirierte und inspirierende
mischung aus wikipedia und (immerhin hochkarätigem) wunschkonzert. die zürcher festspiele bescheren uns hier die denkbar luxuriöseste variante einer volkshochschul-veranstaltung.
Freitag, 14. Juni 2013
MÜNCHEN: LUZERN ALS VORBILD
seit
jahren jammern die münchner (und die weltklasse-dirigenten) über die üble
akustik im gasteig-konzertsaal, seit jahren suchen sie nach alternativen. jetzt
bekommt mariss jansons, chef des symphonieorchesters des bayerischen rundfunks,
den siemens-musikpreis, stiftet das gesamte preisgeld – immerhin 250‘000 euro –
für die planung eines international konkurrenzfähigen konzertsaales und bringt
damit neuen schwung in die sache. das mass aller dinge scheint dabei jean
nouvels kultur- und kongresszentrum in luzern zu sein. „eine halle von der
qualität des luzerner konzertsaals“ schwebt der „süddeutschen zeitung“ vor. und
auch manfred wutzlhofer, vorsitzender des vereins konzertsaal münchen und
mitglied der arbeitsgruppe zur standortsuche, sagt in einem interview: „wir
müssen uns sehr gut gelungene konzertbauten wie in luzern mit kosten zwischen
80 und 100 millionen euro zum vorbild nehmen.“ das freut den luzerner
natürlich. allerdings, herr wutzlhofer, ganz so günstig war’s dann auch wieder
nicht…
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