Sonntag, 23. Juni 2013

MÜNCHEN: ZUCCO - IKONE ODER NICHT?

es ist ein uralter traum, unsichtbar zu sein. sagt der verbrecher roberto zucco, und es ist nicht seine einzige sehnsucht. er möchte auch ein strassenköter sein, der in den abfällen der menschen wühlt. und er möchte den schnee von afrika auf seiner haut spüren. bernard-marie koltès hat diesen mann, der vater und mutter und einen polizisten und ein kind umbrachte und sich mit einer flucht durch halb europa quasi unsichtbar machte, 1989 in seinem letzten theaterstück „roberto zucco“ zur ikone erhoben. leon pfannenmüller spielt zucco am münchner volkstheater als harmlosen jungen, der ohne not und ohne leidenschaft mordet; harmlos und rastlos geht er im riesigen, abgedunkelten bühnenraum auf und ab, ein endlos suchender. am schluss stürzt er sich vom gefängnisdach „in die sonne“. die mythische überhöhung zum todesengel hat zwar tradition in der literatur (genet), doch regisseur milos lolic mag sich koltès` verklärung des verbrechens nicht einfach anschliessen. sein zugriff hat die züge eines doku-dramas mit gelegentlich gar parodistischen elementen. indem er die menschen um zucco herum ununterbrochen wirkliche ikonen aus dem kollektiven gedächtnis und andere visuelle codes der menschheit an ein baugerüst pinnen lässt, stutzt lolic den mörder auf ein menschliches mass zurück. dieser zucco ist keine ikone, er bleibt eine kleine schwarze episode.

Samstag, 22. Juni 2013

MÜNCHEN: KÖNIG LEAR UNTER SCHWEINEN

sei´s der britische königshof, sei´s ein bauernhof in unseren tagen – die grossen themen bleiben: macht, würde, liebe, die suche nach dem sinn. deshalb zeigt intendant johan simons shakespeares „könig lear“ an den münchner kammerspielen als spiel einer laientruppe auf einem bauernhof; er will die fragen, die die welt immer umgetrieben haben, in menschlichen proportionen angehen. eine leicht schiefe, mit grasziegeln belegte holzrondelle von kaum fünf metern durchmesser ist die ganze welt, ist schloss, ist heide, ist heerlager. hier spielen sie in gummistiefeln und kleidern vom dachboden, umwuselt von echten schweinen, diesen grossen düsteren text als herrenbauerndrama: prall, drastisch und damit sehr nahe an shakespeares idee von volkstheater. andré jung als tyrann ohne innere grösse, der königreiche verteilt und töchter enterbt, rennt in roten strumpfhosen durch sein britannien und lässt uns eindrücklich teilhaben an der zunehmenden verdunstung seines gehirns. „du hättst nicht alt werden solln, eh du weise wurdst“, seufzt ihm sein narr voller mitleid zu. dass dieser lear bei der kleinsten unplanmässigkeit aggressiv und laut wird, nährt die vermutung, er sei womöglich nicht dem wahnsinn verfallen, sondern leide an einer perfiden form von demenz. „könig lear“ als welttheater und endspiel – ein grosser abend.

Freitag, 21. Juni 2013

MÜNCHEN: BAUERN STERBEN

„solang ich leb, wird nicht umgestellt. nichts wird umgestellt. gar nichts wird umgestellt. und gehören tut alles noch mir. alles gehört noch mir. mein ist alles noch. das milchgeld und der fernseher auch.“ eng ist sie, diese bauernwelt, die jungen wollen so nicht leben und ziehen in die stadt, wo ihnen dann auch wieder kalt ist. „bauern sterben“ heisst das dramatische fragment, das franz xaver kroetz 1985 geschrieben und an den münchner kammerspielen uraufgeführt hat, und daselbst entwickelt armin petras daraus jetzt eine szenische phantasie über heimatverlust und heimatsuche, die zeigt, das kroetz´ kraftvoller text an relevanz nichts eingebüsst hat. die bühne ist ein labyrinth aus gerüststangen, in denen sich marie jung und thomas schmauser als schwester und bruder auf der suche nach dem richtigen leben hoffnungslos verirren und verfangen. wurzeln können sie hier nicht schlagen. auch der heiland aus der heimat (lasse myhr wie frisch vom kreuz) turnt allgegenwärtig herum – und auch er erliegt später den versuchungen der grossstadt und endet erschlagen und blutüberströmt in der gasse. „in der stadt ist das leben ein grosses sterben, die stadt reitet das leben zuschanden“, sagt der bruder. er hat heimweh. wonach?

Mittwoch, 19. Juni 2013

MÜNCHEN: KÖRPER UNTER STROM

die muffathalle am isarufer in münchen ist die ehemalige turbinenhalle des städtischen elektrizitätswerks, ein industriedenkmal aus klassizistik und jugendstil, ein überaus stimmungsvoller ort. er bietet das treffende umfeld für meg stuarts choreographie „violet“, in der die amerikanische choreographin und ihre belgische company damaged goods pure energie zeigen – als stünden die körper unter strom. der musiker brendan dougherty liefert live einen mal grellen, mal versponnenen teppich aus elektronik und perkussion, akustik gewordene elektrizität. die zwei tänzerinnen und drei tänzer scheinen wie verkabelt mit diesem sound: er lädt sie auf, quält sie, stimuliert sie, sie winden sich und zucken, sie leiden und bäumen sich auf. jedes gelenk, jeder muskel, jede faser wird aktiviert und ausgereizt. alle fünf sind während 80 minuten permanent auf der bühne und spielen permanent mit allen varianten von körpereinsatz; und es sind dies nicht 100 oder 200 varianten, sondern gefühlte 50´000. der durchschnittlich mobile zuschauer sitzt da und kann es kaum fassen. „violet“ ist ein abstraktes ereignis, keine story, keine mission, sondern dynamik, die zu energie wird, körper, die zu bewegten und bewegenden skulpturen werden. kraftwerk im kraftwerk.

Montag, 17. Juni 2013

ZÜRICH: BLÄTTERN IM WAGNER-ALBUM

regisseur hans neuenfels war mal ein provokativer geist. war mal. bei den zürcher festspielen zeigt er sich jetzt von der ganz und gar zahmen seite und blättert mit uns gemütlich im wagner-album. „richard wagner – wie ich welt wurde“ heisst, ziemlich ambitioniert, neuenfels‘ beitrag zum wagner-jahr, ein potpourri von biographischen und musikalischen episoden aus des komponisten zürcher zeit, kunterbunt angerichtet mit opern- und schauspielstars im schiffbau. robert hunger-bühler spielt den komponisten eindimensional durchgeknallt, ein widerling, der seine umgebung ohne unterlass tyrannisiert und sich zu seiner eigenen lohengrin-ouverture am boden wälzt und aufgeilt bis zum feuchten ende – man möchte das so genau weder wissen noch sehen. um wagners grössenwahn werden inmitten putziger bergkulisse seine affären, seine gegner, seine mentoren drappiert; in seinen fieberschüben schauen otto wesendonk, gottfried keller und charles baudelaire vorbei, es gibt da ein bonmot, dort eine arie, da einen briefwechsel, dort ein duett. wagners leben als variété. der disput um sein grässliches pamphlet „über das judentum in der musik“ wird in so einem umfeld zur weiteren nummer degradiert. es fehlt dem abend an intellektueller tiefe und dramaturgischer stringenz. was bleibt, ist eine nicht wirklich inspirierte und inspirierende mischung aus wikipedia und (immerhin hochkarätigem) wunschkonzert. die zürcher festspiele bescheren uns hier die denkbar luxuriöseste variante einer volkshochschul-veranstaltung.

Freitag, 14. Juni 2013

MÜNCHEN: LUZERN ALS VORBILD

seit jahren jammern die münchner (und die weltklasse-dirigenten) über die üble akustik im gasteig-konzertsaal, seit jahren suchen sie nach alternativen. jetzt bekommt mariss jansons, chef des symphonieorchesters des bayerischen rundfunks, den siemens-musikpreis, stiftet das gesamte preisgeld – immerhin 250‘000 euro – für die planung eines international konkurrenzfähigen konzertsaales und bringt damit neuen schwung in die sache. das mass aller dinge scheint dabei jean nouvels kultur- und kongresszentrum in luzern zu sein. „eine halle von der qualität des luzerner konzertsaals“ schwebt der „süddeutschen zeitung“ vor. und auch manfred wutzlhofer, vorsitzender des vereins konzertsaal münchen und mitglied der arbeitsgruppe zur standortsuche, sagt in einem interview: „wir müssen uns sehr gut gelungene konzertbauten wie in luzern mit kosten zwischen 80 und 100 millionen euro zum vorbild nehmen.“ das freut den luzerner natürlich. allerdings, herr wutzlhofer, ganz so günstig war’s dann auch wieder nicht…