er
hatte hohe wangenknochen und schrägstehende augen – und trotzdem nannten sie ihn „das
achte weltwunder“. weil er tanzen konnte wie ein gott. vaslav nijinsky
(1889-1950) war so etwas wie der erste globale megastar, tourneen, gastspiele,
volle häuser bis nach südamerika. „j’ai peur, j’ai peur, car je vois l’acteur plus
grand du monde“, sagte sarah bernhardt voller bewunderung, immerhin selbst eine
quasi ultimative diva. exakt heute vor 100 jahren sorgte nijinsky mit seiner
interpretation von stravinskys „le sacre du printemps“ am théâtre des
champs-élysées in paris für einen nachhaltigen skandal. er revolutionierte die
ballettkunst: nicht mehr gepflegte ästhetik, sondern radikale körperlichkeit,
expressiv und erotisch. musik und choreographie überforderten die pariser
bildungsbürger dermassen, dass der abend in tumult, beschimpfungen,
nervenzusammenbrüchen, chaos endete. rückblickend wissen wir: dieses ballett war
der sprung in die moderne, weit vor der zeit. - nijinsky ist aber auch eines der
eindrücklichsten beispiele für die verbindung von genie und wahnsinn: „meine
krankheit ist zu schwer, als dass ich bald geheilt werden könnte. ich bin nicht
zu heilen. ich bin seelisch krank. ich bin arm.“ depression, schizophrenie,
apathie füllten mehr als die hälfte seines lebens. der psychiater peter
ostwald hat ein faszinierendes buch darüber geschrieben (europäische verlagsanstalt),
das biographie und anamnese in einem ist, kunstroman und psychokrimi. den titel
hat nijinsky selbst geliefert: „ich bin gott“. allerdings nahm sich die
originalsequenz in seinen notizbüchern mehr raum: „ich bin gott. ich bin gott.
ich bin gott.“
Mittwoch, 29. Mai 2013
Sonntag, 19. Mai 2013
MÜNCHEN: VON GEORG BÜCHNER UND ALBAN BERG
das
messer…! ist nicht nur zum brotschneiden da…! kristof van boven ist woyzeck und
blinzelt vielsagend, wenn er über das messer und seine möglichkeiten nachdenkt.
dieser woyzeck zuckt während eineinhalb stunden, mal ganz offensichtlich mit armen
oder beinen, mal nur beiläufig mit den wimpern oder lippen. seine blicke sind
fiebrige stiche, sie stechen die mitmenschen und sie stechen ins leere. dazu
watet er ununterbrochen durch das enorme wasserbecken, das die bühne im
werkraum der münchner kammerspiele diesmal ausfüllt: ein spiegel der unruhigen
seele. die anderen figuren tauchen wie üble träume im oder am wasser auf, im
zentrum: immer woyzeck. die grösste leistung von kristof van boven ist, dass er
dieser geschundenen kreatur, die zum mörder wird, aller ausgestelltheit zum
trotz sämtliche geheimnisse lässt. wie viel dunkelheit ist in diesem menschen
drin und wie viel kommt durch die anderen dazu? eine krankheitsgeschichte mit
offenem ergebnis. sie hat den mediziner georg büchner 1836 zu seinem
dramenfragment inspiriert, und der komponist alban berg entwickelte die szenen
1921 zu einer expressionistischen oper. barbara wysocka nun überlagert in ihrer
inszenierung material aus schauspiel und oper, verdichtet und verfremdet es mit
neuen bildern und neuen klängen zu einem albtraum des kleinen mannes. düster,
monströs, ergreifend.
Donnerstag, 9. Mai 2013
MÜNCHEN: DAS GEHEIMNIS DER KAMMERSPIELE
nachrichten
aus dem himmel. wir berichten aus der champions league des europäischen
theaters. „glücklich das theater, welches solche schauspieler im ensemble hat!
die münchner kammerspiele – und hier muss man jetzt einfach mal fan sein dürfen
– haben immer noch die besten“, schrieb christine dössel in der „süddeutschen
zeitung“. auch das „münchner feuilleton“ gab sich schon ganz euphorisch: „das
ensemble der kammerspiele ist mittlerweile so gut, dass man sich von ihm selbst
heizdecken im hochsommer verkaufen lassen würde.“ und die theaterzeitschrift „die
deutsche bühne“ bilanziert die erst dreijährige aera von intendant johan simons:
„in diesem haus rumort es kräftig.“ und meint das nur positiv. wo liegt es, das
geheimnis dieses hauses, dieses ensembles, dieser theaterkunst auf der höhe der
zeit? sandra hüller, die am theatertreffen in berlin gerade gefeiert wird für
ihre rolle in jelineks „die strasse. die stadt. der überfall.“ hat das im „spiegel“
jetzt wunderschön auf den punkt gebracht: im dunstkreis von johan simons
herrsche eine art trancezustand, „in dem es nicht um psychologie und nicht um
spiel geht, sondern nur noch um eine bestimmte art von anwesenheit. keiner
versucht, etwas zu tun, sondern man füllt gemeinsam einen raum. und selbst der
text ergibt sich, er fliegt einem so zu.“ für sandra hüller ist diese
herangehensweise an stoffe und texte „der himmel“. für uns zuschauer auch immer
wieder (regelmässige besucher dieses blogs können das nachvollziehen). hoch
leben die münchner kammerspiele, hoch lebe dieses ensemble, hoch lebe der
theaterhimmel!
Mittwoch, 8. Mai 2013
BEIJING: ABWARTEN UND TEE TRINKEN
"der spiegel" (66): "wie fühlen sie sich auf dem gipfel ihrer laufbahn?" ai weiwei (56): "ich bin noch lange nicht auf dem gipfel. ich bin dabei, mich warm zu machen."
Samstag, 4. Mai 2013
MÜNCHEN: PLATTFORM
was
verbindet dostojewski und houellebecq? dostojewskis figuren zweifeln an gott,
an der liebe, am sinn des lebens. houellebecq treibt sein personal eine phase
weiter: kein zweifel, kein gott, keine liebe, kein sinn des lebens. michel zum
beispiel, die autobiografisch grundierte hauptfigur im roman „plattform“,
arbeitet lust- und ziellos im kulturministerium, vögelt ebenso ziellos herum,
leere, absolute leere. mit valérie gründet er eine plattform für sex-tourismus,
doch valérie stirbt kurz darauf in einer bombe muslimischer terroristen. michel
landet beim psychiater. hier setzt stephan kimmigs dramatisierung des romans an
den münchner kammerspielen an, in der klinik. ein raumhoher kubus aus
blendendweissen gazevorhängen und weissen sofas bildet den rahmen, in dem
michel von einer psychiaterin und einem psychiater befragt wird. zum plot des
romans montiert kimmig passagen aus einem gespräch, das star-interviewer andré
müller 2002 mit houellebecq geführt hat („das beste mittel gegen die angst ist
die gleichgültigkeit“). das ergibt zwei dichte, dokumentarische, deprimierende
stunden. steven scharf, wie immer meisterhaft, irrt als mann ohne freude und
ohne perspektiven rastlos in den gazeschleiern umher, verfolgt von einer
videokamera, die seinen leicht verschwitzten und gebeugten körper live und
porentief auf die vorhänge liefert. kein gramm optimismus, nix. man möchte
nicht psychiater sein.
Freitag, 3. Mai 2013
ZÜRICH: DIE BÜRGERLICHE STADT
"in stark bürgerlichen städten wie zürich..." - sagt udo jürgens, unwidersprochen, im "züri-tipp" über die stadt, die gerade eben den siebten linken in die neunköpfige regierung gewählt hat. und: in den vergangenen 100 jahren waren von zehn zürcher stadtpräsidenten und -innen sechs sozialdemokraten und -innen. udo jürgens lebt übrigens in zürich. seit 1977.
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