Mittwoch, 29. Mai 2013

PARIS: DER NIJINSKY-TUMULT

er hatte hohe wangenknochen und schrägstehende augen – und trotzdem nannten sie ihn „das achte weltwunder“. weil er tanzen konnte wie ein gott. vaslav nijinsky (1889-1950) war so etwas wie der erste globale megastar, tourneen, gastspiele, volle häuser bis nach südamerika. „j’ai peur, j’ai peur, car je vois l’acteur plus grand du monde“, sagte sarah bernhardt voller bewunderung, immerhin selbst eine quasi ultimative diva. exakt heute vor 100 jahren sorgte nijinsky mit seiner interpretation von stravinskys „le sacre du printemps“ am théâtre des champs-élysées in paris für einen nachhaltigen skandal. er revolutionierte die ballettkunst: nicht mehr gepflegte ästhetik, sondern radikale körperlichkeit, expressiv und erotisch. musik und choreographie überforderten die pariser bildungsbürger dermassen, dass der abend in tumult, beschimpfungen, nervenzusammenbrüchen, chaos endete. rückblickend wissen wir: dieses ballett war der sprung in die moderne, weit vor der zeit. - nijinsky ist aber auch eines der eindrücklichsten beispiele für die verbindung von genie und wahnsinn: „meine krankheit ist zu schwer, als dass ich bald geheilt werden könnte. ich bin nicht zu heilen. ich bin seelisch krank. ich bin arm.“ depression, schizophrenie, apathie füllten mehr als die hälfte seines lebens. der psychiater peter ostwald hat ein faszinierendes buch darüber geschrieben (europäische verlagsanstalt), das biographie und anamnese in einem ist, kunstroman und psychokrimi. den titel hat nijinsky selbst geliefert: „ich bin gott“. allerdings nahm sich die originalsequenz in seinen notizbüchern mehr raum: „ich bin gott. ich bin gott. ich bin gott.“

Sonntag, 19. Mai 2013

MÜNCHEN: VON GEORG BÜCHNER UND ALBAN BERG

das messer…! ist nicht nur zum brotschneiden da…! kristof van boven ist woyzeck und blinzelt vielsagend, wenn er über das messer und seine möglichkeiten nachdenkt. dieser woyzeck zuckt während eineinhalb stunden, mal ganz offensichtlich mit armen oder beinen, mal nur beiläufig mit den wimpern oder lippen. seine blicke sind fiebrige stiche, sie stechen die mitmenschen und sie stechen ins leere. dazu watet er ununterbrochen durch das enorme wasserbecken, das die bühne im werkraum der münchner kammerspiele diesmal ausfüllt: ein spiegel der unruhigen seele. die anderen figuren tauchen wie üble träume im oder am wasser auf, im zentrum: immer woyzeck. die grösste leistung von kristof van boven ist, dass er dieser geschundenen kreatur, die zum mörder wird, aller ausgestelltheit zum trotz sämtliche geheimnisse lässt. wie viel dunkelheit ist in diesem menschen drin und wie viel kommt durch die anderen dazu? eine krankheitsgeschichte mit offenem ergebnis. sie hat den mediziner georg büchner 1836 zu seinem dramenfragment inspiriert, und der komponist alban berg entwickelte die szenen 1921 zu einer expressionistischen oper. barbara wysocka nun überlagert in ihrer inszenierung material aus schauspiel und oper, verdichtet und verfremdet es mit neuen bildern und neuen klängen zu einem albtraum des kleinen mannes. düster, monströs, ergreifend.

Donnerstag, 9. Mai 2013

MÜNCHEN: DAS GEHEIMNIS DER KAMMERSPIELE

nachrichten aus dem himmel. wir berichten aus der champions league des europäischen theaters. „glücklich das theater, welches solche schauspieler im ensemble hat! die münchner kammerspiele – und hier muss man jetzt einfach mal fan sein dürfen – haben immer noch die besten“, schrieb christine dössel in der „süddeutschen zeitung“. auch das „münchner feuilleton“ gab sich schon ganz euphorisch: „das ensemble der kammerspiele ist mittlerweile so gut, dass man sich von ihm selbst heizdecken im hochsommer verkaufen lassen würde.“ und die theaterzeitschrift „die deutsche bühne“ bilanziert die erst dreijährige aera von intendant johan simons: „in diesem haus rumort es kräftig.“ und meint das nur positiv. wo liegt es, das geheimnis dieses hauses, dieses ensembles, dieser theaterkunst auf der höhe der zeit? sandra hüller, die am theatertreffen in berlin gerade gefeiert wird für ihre rolle in jelineks „die strasse. die stadt. der überfall.“ hat das im „spiegel“ jetzt wunderschön auf den punkt gebracht: im dunstkreis von johan simons herrsche eine art trancezustand, „in dem es nicht um psychologie und nicht um spiel geht, sondern nur noch um eine bestimmte art von anwesenheit. keiner versucht, etwas zu tun, sondern man füllt gemeinsam einen raum. und selbst der text ergibt sich, er fliegt einem so zu.“ für sandra hüller ist diese herangehensweise an stoffe und texte „der himmel“. für uns zuschauer auch immer wieder (regelmässige besucher dieses blogs können das nachvollziehen). hoch leben die münchner kammerspiele, hoch lebe dieses ensemble, hoch lebe der theaterhimmel!

Mittwoch, 8. Mai 2013

BEIJING: ABWARTEN UND TEE TRINKEN

"der spiegel" (66): "wie fühlen sie sich auf dem gipfel ihrer laufbahn?" ai weiwei (56): "ich bin noch lange nicht auf dem gipfel. ich bin dabei, mich warm zu machen."

Samstag, 4. Mai 2013

MÜNCHEN: PLATTFORM

was verbindet dostojewski und houellebecq? dostojewskis figuren zweifeln an gott, an der liebe, am sinn des lebens. houellebecq treibt sein personal eine phase weiter: kein zweifel, kein gott, keine liebe, kein sinn des lebens. michel zum beispiel, die autobiografisch grundierte hauptfigur im roman „plattform“, arbeitet lust- und ziellos im kulturministerium, vögelt ebenso ziellos herum, leere, absolute leere. mit valérie gründet er eine plattform für sex-tourismus, doch valérie stirbt kurz darauf in einer bombe muslimischer terroristen. michel landet beim psychiater. hier setzt stephan kimmigs dramatisierung des romans an den münchner kammerspielen an, in der klinik. ein raumhoher kubus aus blendendweissen gazevorhängen und weissen sofas bildet den rahmen, in dem michel von einer psychiaterin und einem psychiater befragt wird. zum plot des romans montiert kimmig passagen aus einem gespräch, das star-interviewer andré müller 2002 mit houellebecq geführt hat („das beste mittel gegen die angst ist die gleichgültigkeit“). das ergibt zwei dichte, dokumentarische, deprimierende stunden. steven scharf, wie immer meisterhaft, irrt als mann ohne freude und ohne perspektiven rastlos in den gazeschleiern umher, verfolgt von einer videokamera, die seinen leicht verschwitzten und gebeugten körper live und porentief auf die vorhänge liefert. kein gramm optimismus, nix. man möchte nicht psychiater sein.

Freitag, 3. Mai 2013

ZÜRICH: DIE BÜRGERLICHE STADT

"in stark bürgerlichen städten wie zürich..." - sagt udo jürgens, unwidersprochen, im "züri-tipp" über die stadt, die gerade eben den siebten linken in die neunköpfige regierung gewählt hat. und: in den vergangenen 100 jahren waren von zehn zürcher stadtpräsidenten und -innen sechs sozialdemokraten und -innen. udo jürgens lebt übrigens in zürich. seit 1977.