Dienstag, 31. Dezember 2013

LUZERN: CIAO, VERDI! TSCHÜSS, WAGNER!

200 jahre giuseppe verdi, 200 jahre richard wagner – schön war’s, inspirierend war’s, üppig war’s: „un ballo in maschera“ in basel, „la traviata“ in luzern, „nabucco“ in stuttgart, „der fliegende holländer“ in st.petersburg, „messa da requiem“ in münchen, „wagner – wie ich welt wurde“ in zürich, „aida“ in verona, „die walküre“ in luzern, „il trovatore“ in münchen. erfreulich viele neue ansätze, ziemlich nahe an der überdosis. jetzt geht dieses kunterbunte verdi-und-wagner-jahr zu ende, jetzt freuen wir uns wieder auf all die anderen komponisten, sie müssen auch gar nicht extra einen runden gedenktag mit sich rumschleppen. aber das schlusswort nach diesem monatelangen musik-marathon sei den beiden herren doch noch gegönnt. giuseppe verdi: „das publikum soll streng sein, soll pfeifen, aber sein beifall soll mich zu nichts verpflichten.“ richard wagner: „in dem wogenden schwall, in dem tönenden schall, in des welt-atems wehendem all – ertrinken, versinken – unbewusst – höchste lust!“ stille. sonne. vorhang.

Samstag, 21. Dezember 2013

MÜNCHEN: DISGRACE/SCHANDE

mal ist der täter schwarz und das opfer weiss, mal ist der täter weiss und das opfer schwarz. erniedrigung, schiessereien, nötigung, raub, vergewaltigung, das volle programm, kein leichter abend. weshalb dieses stück, weshalb jetzt? „disgrace“ von j.m. coetzee erschien 1999, ein roman über das schwierige zusammenleben im südafrika der post-apartheid. regisseur luk perceval bevölkert die bühne der münchner kammerspiele für seine version von „schande“ mit vier dutzend schwarzen schaufensterpuppen, stummen farbigen beobachtern, doch mehr als die politische dimension interessiert ihn die universelle (deshalb dieses stück, deshalb jetzt): was die triebe mit den menschen anrichten und wie sexuelle übergriffe jedes leben aufs radikalste verändern. stephan bissmeier zeigt professor lurie, der gerne eine kammeroper über lord byron schreiben würde, wegen einer affäre mit seiner studentin melanie dann aber den uni-job verliert, als gefangenen seiner begierden, in brenzligen situationen wahlweise zynisch oder aggressiv reagierend. vielschichtiger angelegt ist seine tochter lucy, lesbisch und auf dem land lebend, wohin sich lurie flüchtet; nach einer vergewaltigung durch schwarze jungs entscheidet sie sich, das kind zu behalten. warum, das bleibt ihr geheimnis, sie macht nicht viele worte, doch brigitte hobmeier lässt keinen zweifel, wie sehr sie um diese entscheidung gerungen hat und wie sehr sie hofft, die richtige antwort gefunden zu haben. diese inszenierung bietet eine tiefenbohrung in einer welt, die nicht einfach schwarz/weiss ist. unmittelbar vor mir, in reihe 1, sitzt ein pärchen, er ü60 mit akkurat geföhnter grauer mähne, sie u30; sie halten händchen, turteln, flüstern sich pennälermässig dinge ins ohr. sie könnten professor lurie und seine studentin sein, doch das stück scheint ihnen nichts zu sagen. seltsam.

Sonntag, 15. Dezember 2013

BEIJING: CHANG'E 3

14.12.2013 - dieses datum sollte man sich merken. erstmals ist ein chinesisches raumschiff auf dem mond gelandet. ein moment von grosser symbolischer bedeutung: china holt auf. und zwar exakt so, wie chang'e 3 auf dem mond aufgesetzt hat, "ohne viel staub aufzuwirbeln" (o-ton chinesisches staatsfernsehen).

Samstag, 23. November 2013

MÜNCHEN: GHETTO

berge von kleidern bedecken die grosse bühne im münchner volkstheater, schwarze kittel, schwarze hosen, schwarze hemden. es sind die kleider der toten juden aus dem ghetto von wilna/vilnius, 50´000, 60´000, vielleicht noch mehr. leichenberge als kleiderberge – auf diesem chaotisch-düsteren terrain siedelt christian stückl „ghetto“ von joshua sobol an. ein paar ghetto-juden spielen hier ghetto-theater, weil theater hilft, das schöne und gute nicht zu vergessen; weil theater hilft, die richtigen fragen zu stellen; weil theater hilft im kampf, ein mensch zu bleiben; weil theater ablenkt. srulik und seine freche bauchrednerpuppe mit unnachahmlichem reich-ranicki-sprech halten die truppe über wasser, robert joseph bartl spielt das absolut berührend zwischen abnehmender hoffnung und zunehmendem humor. er bleibt das warmherzige zentrum in diesem stück, das ganz beiläufig immer wieder die harten moralischen fragen stellt: darf man einige menschen opfern, wenn man viele andere retten kann? darf man die medikamente der todgeweihten zurückhalten für jene mit überlebenschancen? darf man mit nazis kollaborieren, wenn es den juden nützt? obwohl die jungen schauspieler ihre figuren (den ss-offizier, den jüdischen ghetto-chef, den geschäftstüchtigen schneider) oft gefährlich nahe am klischee spielen, wird der abend nie oberflächlich, sondern bleibt – dank srulik und dank der sensiblen präsenz von drei klezmer-musikern auf offener bühne – ein melancholischer und beklemmender totentanz. eine hoffnung gibt es nicht, für niemanden, aber es gibt das theater.

Donnerstag, 21. November 2013

MÜNCHEN: DIE FRAU OHNE SCHATTEN

am 21.november 1963 wurde die wiederaufgebaute bayerische staatsoper mit richard strauss´ „die frau ohne schatten“ eingeweiht. auf den tag genau 50 jahre später gibt kirill petrenko, der kleine prinz des musiktheaters, mit dem gleichen werk sein début als generalmusikdirektor an diesem haus. und wie! das märchen von zwei ungleichen paaren, einem aus der zauberwelt und einem irdischen, die beide keine kinder kriegen, weil die eine frau nicht will und die andere nicht kann (also „ohne schatten“ ist), und die dann fruchtbarkeit gegen ewige jugend tauschen wollen, dieses komplexe märchen leuchtet petrenko in allen farben aus; traumwandlerisch findet er mit dem bayerischen staatsorchester und hochkarätigen solisten den mittelweg zwischen transparenz und geheimnissen und liefert so den perfekten soundtrack zur psychoanalyse oder, sehr treffend im programmbuch, zur „pathografie der zeitgenössischen ehe“. kongenial verlegen der polnische regisseur krzysztof warlikowski und seine bühnenbildnerin malgorzata szczesniak (die psychologie studiert hat!) die handlung in ein kurhaus, spielen mit visuellen elementen aus „zauberberg“, „l’année dernière à marienbad“ und „rosenkavalier“ und tauchen ein in die wünsche, träume und blockaden der beiden paare. betörend und verstörend. einem scheuen reh entschlüpft ein kleines mädchen mit feuerrotem haar und blutrotem kleid, in einem riesigen aquarium schwimmen nur fünf (tote) fische, auch king kong schaut vorbei und wir werden mit den protagonisten durch furchterregende wälder und menschenleere friedhöfe gejagt, prüfung und erlösung: willkommen in der praxis dr. freud! und am ende die utopie: „die stimmen der ungeborenen“ als 80köpfige, bühnenfüllende kinderschar, bunt und wild und von heute. 80 möglichkeiten für morgen.

Mittwoch, 20. November 2013

LUZERN/BAYREUTH: FRAU WAGNER UND HERR HITLER

sie war meine nachbarin. luzern, schweizerhausstrasse 5, gute gegend. für mich (3.etage) war es die erste eigene wohnung, für frau wagner (1.etage) die letzte, den estrich teilten wir uns. friedelind wagner war die enkelin von richard wagner. durch eine glückliche fügung sind mir jetzt, viele jahre später, ihre jugenderinnerungen in die hand gekommen: „nacht über bayreuth“, dittrich-verlag. als mädchen und junge frau erlebte sie, wie hitler bei ihren eltern ein und aus ging, ein stammgast bei den festspielen, die vier kinder nannten ihn „onkel wolf“, friedelind besuchte ihn mehrmals auch in berlin. das buch liest sich wie eine reportage - nicht nur aus der villa wahnfried, sondern aus dem innersten zirkel der nazi-hölle. friedelind beobachtete scharf und schrieb mit spitzer feder: „es wollte mir nicht in den kopf, wieso männer und frauen, die sonst völlig normal zu sein schienen, in seiner gegenwart offensichtlich den verstand verloren, puterrot im gesicht wurden, ihre tassen fallen liessen und in hysterische wein- oder lachkrämpfe ausbrachen. oft hoben sie, wenn sie mit ihm sprachen, ihre stimme ganz unbewusst um mindestens eine oktave.“ friedelind sagte sich los von ihrer mutter winifred, einer der glühendsten und unverbesserlichsten hitler-verehrerinnen, und von ihrer familie, sie emigrierte und gilt vielen wagnerianern noch heute als schwarzes schaf des clans. ihr weg war die ebenso mutige wie konsequente emanzipation einer damals 26jährigen: „im festspielhaus hatte der nazismus mit seiner falschen emphase und seiner falschen bewertung der dinge alles so beschmutzt, dass ich den kaum zu unterdrückenden wunsch empfand, das ganze gebäude zu verbrennen.“ friedelind wagner starb 1991. nur einige wenige leute wissen, wo sie ihre letzte ruhe fand. in bayreuth liegt sie nicht.

Sonntag, 17. November 2013

MÜNCHEN: DER FLUCH DER DREHBÜHNE

für verdis „trovatore“ hat pierre-andré weitz der bayerischen staatsoper eine gigantische drehbühne mit einer art bergwerk gebaut, mit blechhütten und einer dampflok, mit leitern, aufzügen und riesigen zahnrädern (nun ja, die oper als kraftwerk der gefühle wieder mal). ein bühnenbild fast noch komplexer als die story von den zwei brüdern luna und manrico, die für unterschiedliche politische ideale, aber um die gleiche frau kämpfen, ohne zu wissen, dass sie brüder sind. weil so eine drehbühne enorm aufwändig ist, muss sie amortisiert, also dauerbewegt werden. nicht sopran, mezzo, tenor und bariton sind hier die protagonisten, sondern geschätzte 40 bühnenarbeiter, die das monströse teil permanent schieben, drehen, wenden. bei so viel aktivismus und so vielen visuellen reizen bleibt paolo carignanis dirigat, das nicht auf vordergründige effekte, sondern auf differenzierte zeichnung setzt, einigermassen chancenlos. die bühne stiehlt verdi die show. und regisseur olivier py setzt noch einen drauf: einmal wird der tenor variétémässig in zwei teile zersägt, einmal fesselt ihn seine vermeintliche mutter mit einer langen roten leine an sich (aha, nabelschnur-kompensation, erkennt der vulgärpsychologe sofort). und dann: im vierten akt kommt die überstrapazierte drehbühne endlich mal zur ruhe und krassimira stoyanova (leonora) singt, ganz allein im grossen dunklen raum, ihre arie von den seelenqualen und der todessehnsucht der zwischen den beiden männern hin- und hergerissenen, berührend und beklemmend. die melodie steht erstmals an diesem abend im mittelpunkt, ein grossartiger moment für eine grossartige stimme. wogegen die stimme von lokalmatador jonas kaufmann (manrico), dem die älteren groupies hier nach wie vor ungebremst zujubeln, im piano und in tieferen lagen glanzlos bis gequetscht wirkt, kurz: die zukunft schon hinter sich hat.

Montag, 11. November 2013

FRANKFURT AM MAIN: EZIO. EZIO WHO?

eine winzige gipsstatue des römischen kaisers valentinian, kaum 40 zentimeter gross, steht auf der spiegelglatten, schwarz lackierten bühne der frankfurter oper. sonst nichts. so klein, so verloren können die grossen posen der mächtigen wirken. und so gross dagegen die gefühle, die diese menschen hinter der fassade tatsächlich umtreiben: um die weisse statuette herum lässt regisseur vincent boussard die menschen hinter den posen in originalgrösse agieren und die geschichte des feldherrn ezio erzählen. ezio? der hiess im richtigen leben flavius und verlor selbiges, weil er in der folge einer liebesintrige fälschlicherweise eines mordkomplotts gegen den kaiser verdächtigt wurde. doch christoph willibald gluck komponierte seinen selten gespielten "ezio" 1750, als nicht historische übereinstimmung gefragt war, sondern der didaktische optimismus der aufklärung. weshalb ezio hier vom kaiser begnadigt wird - nach ellenlangen rezitativen und wortkaskaden, die die handlung nur referieren, nicht vorantreiben. boussard nutzt die fehlende action, um das machtpersonal mit all seinen nöten und neurosen, seinen obsessionen und narzisstischen störungen äusserst präzis zu zeichnen. christian curnyn unterstützt ihn aus dem orchestergraben aufs trefflichste, und die altistin sonia prina als ezio ist das zentrum eines ensembles, das das volle spektrum der musikalischen farben zum glänzen bringt. apropos farben: stardesigner christian lacroix hüllt die protagonisten in edle stoffe und joachim klein taucht sie in edles licht, üppigste opern-kulinarik also. kulinarik immerhin mit klugem konzept. begeisterter premièrenapplaus.

Samstag, 2. November 2013

ZÜRICH: HUNDEHERZ

wollten sie auch immer schon mal einer hirnoperation beiwohnen, live? bitte: zunächst wird der patient notdürftig geduscht, ein bisschen dreck bleibt noch kleben, dann ein scharfer schnitt quer über die stirn, blut spritzt in alle richtungen, die brechzange kommt zum einsatz, auf dem tisch liegt das ersatzorgan, eine menschliche hypophyse, bereit unter, sagen wir mal, hygienisch suboptimalen bedingungen, der ausführende professor preobraschenski atmet schwer, der patient atmet noch. der patient heisst sharik und ist ein hund. die operation geht schief: statt einem verjüngten hund resultiert ein mensch mit animalischen instinkten, die er bis zum finalen abmurksen seiner entourage voll auslebt. die schöpfung wendet sich gegen ihren schöpfer; kein wunder, war michail bulgakows erzählung „hundeherz“ in der sowjetunion zu zeiten der kommunistischen volksbeglückung verboten. jetzt hat sich pedro martins beja diese ätzende satire im zürcher theater neumarkt vorgeknöpft – und nicht nur die zentrale operation, sondern der ganze abend ist ein fulminantes spektakel für augen und ohren und, ja eben, hirn: das gesellschaftliche experiment wird in jeder beziehung ausgeweidet. maximilian kraus als sharik winselt und schnaubt und hetzt, dass man zum hundefreund werden könnte, und sagt dann plötzlich mal ganz ordinäre und mal ganz kluge dinge. ein durchtriebener hund. ein gefährlicher hund. ein genialer hund, dieser junge mann.

Samstag, 26. Oktober 2013

GENÈVE: RESESTENCE!

widerstand ist wichtig. also sperrt der junge genfer informatiker, autor und theatermacher nicolas vivier in seinem neuen stück drei typen und eine junge frau in einen keller. dort grübeln sie und faseln und trinken und planen: la résistance. gegen die kleingeistigen beamten, gegen die konsumindustrie, gegen den staat, der hier sogar die sprechdauer und die vokale rationiert hat (deshalb „resestence!“). die energie der vier reicht jedoch nicht über den keller hinaus, ihre revolution findet nicht statt, trotzdem werden sie verhaftet. vivier hat seinen ionesco und seinen beckett gelesen und versteht es hervorragend, kluge reflexionen über widerstand und freiheit in absurdes theater zu übersetzen. ein schmieriger präsentator mit geschmackloser langhaarmähne und weisser plastikbrille hilft ihm dabei, lullt zu beginn lästig die leute ein („l’industrie prend soin de nous“) und moderiert später den schauprozess gegen die widerständler als widerliche tv-reality-show, wo er ihre zeugenaussagen mit zynischem piano-gesäusel kommentiert; dario brander lebt in dieser rolle seine dunklen seiten aus. die compagnie la ruche verhandelt während kurzweiligen 75 minuten die grenzen zwischen wunsch und wirklichkeit, zwischen realität und phantasie, zwischen politik und wahnsinn. am schluss grübeln sie wieder und faseln und trinken. und über ihren köpfen flimmern die menschenrechte richtung bühnenhimmel, mit rationierten vokalen. der überaus amüsante abend ist auch ein überaus philosophischer abend.

Donnerstag, 24. Oktober 2013

ORANGE COUNTY: USA LIVE

sda-meldung heute: "ein fünfjähriger bub hat sich in den usa mit einer pistole erschossen, die seine babysitterin achtlos auf dem wohnzimmertisch liegen gelassen hatte." pistole. achtlos. auf dem wohnzimmertisch. und, ja, gleichzeitig wird bekannt, dass der us-geheimdienst vermutlich das handy von angela merkel abgehört hat. usa today.

Samstag, 19. Oktober 2013

ZÜRICH: ROCCO UND SEINE BRÜDER

der zehnjährige luca steigt zu beginn auf den apennin, im theater neumarkt ein kleiner steinhaufen in der mitte, der nord- und süditalien trennt, und erzählt anrührend, wie die älteren brüder den vater im meer bestattet haben. es braucht nur diese paar wenigen italienischen sätze und man ist schon mittendrin in der trostlosigkeit (und der schwarz-weiss-ästhetik) der frühen sechziger jahre, als die verarmten familien aus dem süden zu tausenden nach mailand zogen. mit „rocco e i suoi fratelli“ hat ihnen luchino visconti ein geradezu dokumentarisches denkmal gesetzt. und peter kastenmüller eröffnet mit dieser geschichte jetzt seine intendanz am zürcher neumarkt, weil ihn das thema migration interessiert und dabei die ankunft am neuen ort mehr als der abschied vom alten. er verdichtet das epos auf eineinhalb stunden, schafft tempo mit einer schienenkarre, die quer durch den raum rattert, und ruhe mit dezenten videoeinspielungen, wechselt rasant die perspektiven vom erzählen zum spielen und zurück, verkürzt massiv und gibt den figuren trotzdem scharfe und unverwechselbare konturen. nein, diesen fünf brüdern geht es nicht um träume und utopien, sondern um die nackte existenz. die einen versuchen es mit boxen, die anderen strampeln nur und straucheln. das leben als kampf, als fortwährende versuchung, als tödliche rivalität. theater ist immer live, deshalb entwickelt dieses drama, das fürs kino geschrieben wurde, in diesem kleinen raum einen enormen sog, durch die bewegung, durch die nähe, durch die präsenz dieser jungen schauspieler. ein ausgesprochen kraftvoller zürcher einstand für kastenmüller und sein ensemble.

Freitag, 18. Oktober 2013

LUZERN: TIĀN'É DÍFANG

saisonende? keine spur, nicht in luzern. hier bevölkern die chinesischen touristen den schwanenplatz nach wie vor zu hunderten, zu tausenden - und machen ihn zum tiān'é dífang. sie stürzen sich in die uhrenboutiquen, von denen fast im wochenrhythmus neue eröffnet werden. "der soziale druck, freunden und verwandten teure geschenke mitbringen zu müssen - das lässt chinesische gruppenreisen oft in wahre einkaufsorgien ausarten", schreibt china-korrespondent kai strittmatter im "tages-anzeiger". das erklärt die jagdstimmung am schwanenplatz. die nackten zahlen zu diesem sozialen druck: auf rund 90 millionen auslandreisen geben chinesinnen und chinesen dieses jahr mehr als 100 milliarden dollar für shopping aus. rechne.

Dienstag, 8. Oktober 2013

SERPA UND TAVIRA: 43x DIES UND DAS

theresia und christoph, alentejo und algarve, landleben und strandleben, thunfisch und zwiebeln, marlise und maria angela, romantische friedhöfe und gigantische flutlichtanlagen, pink wc-papier und smaragd wc-papier, fiat punto und eselkarre, moacyr scliar und florian illies, nicole und simone, luftmatratzen und fischerboote, engländer und holländer, cantinho do emigrante und restaurante sal, frankfurter allgemeine und informação, super bock und sagres, travessa de lisboa und cantar do grilo, sonja und felix, blauer himmel und rote erde, olivenbäume und eukalyptus, morgensonne und feldhasen, kürbiskonfitüre und pflaumenkonfitüre, syrah und lucky, ansichtskarten und whatsapp, pferdeflüsterer und hundeflüsterer, sonnenbrille und lesebrille, reife granatäpfel und keine eier, swimming-pool und stauseen, kieswege und schnellstrassen, portugiesische dorfplätze und spanische dorfplätze, anna und luis, schweinebacke und erbsen, minze und lavendel, fado und vivaldi, ziegenkäse und schafkäse, kein kanu und kein segelschiff, melancholie in den dörfern und monotonie in den tälern,  olá und obrigado, eugen ruge und gaito gasdanow, ebbe und flut, rotkraut und rüben, piz buin und la roche-posay, mandeleis und mandala, nichts tun und gar nichts tun.

Montag, 23. September 2013

MÜNCHEN: DIE TOTEN AUGEN VON GAUTING

es gibt in münchen die alte pinakothek und die neue pinakothek und die pinakothek der moderne. sollte reichen, sollte man meinen. reicht aber offensichtlich nicht, denn da gab's und gibt's auch noch die pläne für die komische pinakothek, ein münchner satire-museum, für das loriot hätte pate stehen sollen. hätte, der tod war schneller. dass es auch ohne komische pinakothek geht, beweist jetzt das münchner literaturhaus mit einer überaus charmanten loriot-ausstellung: "spätlese", unbekanntes, halbprivates und privates aus dem nachlass des humoristen ("ein leben ohne mops ist möglich, aber sinnlos"). wie er zum beispiel die deutschen im auftrag der post auf die umstellung von den vier- auf die fünfstelligen postleitzahlen vorbereitete; wo sonst gibt's mehr fürs gleiche geld? ein philosoph des alltags, hintergründig und verspielt - und manchmal auch einfach schräg bis in den abgrund: mit gästen in seinem haus drehte er mal spontan eine verwackelte edgar-wallace-persiflage, wo schon der titel das ganze grauen erahnen lässt: "die toten augen von gauting". blut, schwarz-weiss. wer da noch ruhig schlafen kann. wie wär's übrigens mit einer pinakothek des horrors? und loriot als pate?

Donnerstag, 12. September 2013

MÜNCHEN: PAPER WEIGHT

während die szene gerade mal wieder intensiv bis erbittert diskutiert, ob print morgen oder übermorgen untergeht, ob mit getöse oder nur mit gejammer, präsentiert das haus der kunst in münchen eine hübsche kleine ausstellung, die zeigen will, dass papier gewicht hat: paper weight. gewicht und zukunft. in zwei räumen stehen überdimensionale und ausgarnierte doppelseiten von 15 unabhängigen und stilbildenden magazinen, die alle in diesem jahrtausend gegründet wurden und die alle, egal ob sie sich design, sex, essen oder architektur widmen, prächtig pendeln zwischen verführung und manifest. sinnlich und politisch sein, das ist ihr erfolgsrezept. damit will so ein schweres magazin ein anker sein in einer flüchtigen welt. und es hat tatsächlich welche drunter, über die man sich freut, weil es sie schon längst geben sollte. „apartamento“ zum beispiel, ein magazin übers wohnen: keine hochglanzpostille mit aseptischer architektur, keine unbelebten wahnsinnsräume, sondern lauter behausungen mit menschen aus aller welt, die im schlafzimmer gerade den neuen bh anprobieren, in der küche die brotzeit für den hund präparieren oder ziemlich unbeobachtet auf ihrem lieblingssofa lümmeln. diese architektur lebt, diese bildstrecken inspirieren mehr als alle kunst- und wohnkataloge. natürlich ist „apartamento“ im museumsshop längst ausverkauft.

Sonntag, 1. September 2013

LUZERN: DIE WALKÜRE (OHNE REGIE)

luzern spielt bayreuth. das lucerne festival bietet wagners „ring“ komplett, vier abende, currywurst und flammkuchen in den langen pausen, weiss gedeckte tische vor dem kkl, b-promis im a-outfit. wir gönnen uns „die walküre“ (nicht nur weil man den walkürenritt einmal im leben live erlebt haben muss). angesagt ist eine konzertante aufführung, „weil die sänger dann eine freiheit bekommen, die sie auf der bühne nie haben können. diese freiheit verstärkt ihre erzählkraft.“ dies versprach jonathan nott vorab, der frühere chef des luzerner sinfonieorchesters, der jetzt mit seinen bamberger symphonikern diesen wagner-marathon absolviert. irgendwie müssen ihn die sänger missverstanden haben: sie singen nicht einfach konzertant, sondern bewegen sich vor dem orchester, deuten szenen an und liefern ihre handelsüblichen posen, gesten, blicke. wenn zwischen sieglinde (meagan miller) und ihrem zwillingsbruder siegmund (klaus florian vogt) eine zarte liebe erwacht, schleichen sie auf dem podium hin und her wie hänsel und gretel im wald. theäterle. so spielen opernstars, wenn kein regisseur und kein konzept sie bändigen. das ist nicht konzertant, sondern ärgerlich, richtig ärgerlich! und sonst? nott erzählt die geschichte um machtstreben und liebesverzicht in schönen, strömenden farben, taucht in die emotionen ein, entwickelt die grossen bogen, lässt die kleinen motive glänzen – und kämpft zwischendurch immer wieder mit einer unpräzisen und retardierten blech-sektion, die der aufgabe nicht gewachsen ist. ganz ist luzern noch nicht in bayreuth angekommen.

Dienstag, 27. August 2013

LUZERN: ORIENTALISCH ANGEHAUCHT

huhn mit minze und fenchelkompott. hat ausnahmslos allen geschmeckt. also kurz festhalten, auf dass es nicht vergessen gehe. für vier personen etwa so: gratinform bei 200 grad im ofen vorwärmen; ein grosses glas sherry (mind. 2 dl), dazu wenig zitronensaft, geriebene zitronenschale, wenig ingwer, kurkuma, salz umrühren und kalt bereitstellen; 750 gramm pouletbrust grob würfeln, mit zitronenschale, salz, pfeffer, paprika und kurkuma würzen und kurz anbraten; das fleisch und den kalten jus in die gratinform geben und im ofen bei 70 grad garen; vor dem servieren mit fein geschnittener minze und allenfalls etwas basilikum garnieren. – vier fenchel in feine streifen schneiden, im olivenöl kurz andünsten und auf kleinem feuer mit wenig bouillon köcheln; eine handvoll datteln in feinen scheiben, einen esslöffel lavendel und einen teelöffel kreuzkümel dazu geben. – der vielfalt der farben und geschmäcker zuliebe mit schwarzem reis und weissem yoghurt servieren.

Sonntag, 25. August 2013

LUZERN: 75 JAHRE LUCERNE FESTIVAL

die stadt feiert ihr festival! es begann schon am samstag mit einem blumenmeer: alle passantinnen - luzernerinnen und chinesinnen und inderinnen und obwaldnerinnen - bekamen auf den plätzen eine festival-rose überreicht. ausgesprochen sympathischer auftakt. und am sonntag folgt jetzt ein musikalisches feuerwerk quer durch epochen und stilrichtungen. zum beispiel das „siegfried-idyll“, das wagner seiner cosima 1870 im tribschen-haus als geburtstagsüberraschung komponierte und mit dem arturo toscanini 1938 daselbst den grundstein zum lucerne festival legte; wenn das jetzt, auf den tag 75 jahre später, 13 solisten des lucerne festival orchestra in der kammermusikalischen originalfassung spielen, dann streift einen nicht weit von tribschen aufgewachsenen luzerner doch kurz der schauder der (festival-)geschichte. oder dann der österreichische multiperkussionist martin grubinger, der mit seiner salsa-session den europaplatz vor dem kkl rockt und den allerheftigsten beweis liefert, wie sehr dieses internationale festival mittlerweile auch bei sämtlichen altersklassen und schichten dieser stadt angekommen ist. schliesslich habe ich mir auch noch „von toscanini bis abbado“ angeschaut, den dokumentarfilm über die geschichte des festivals, und festgestellt, dass das durchschnittsalter des publikums in den historischen aufnahmen (1960, 1971, 1998) höher ist als heute, und zwar massiv höher. dies der allererfreulichste befund an diesem tag: das publikum klassischer konzerte ist jünger geworden, das festival hat eine zukunft.

Freitag, 9. August 2013

PFÄFFIKON: DER ZÜRI-GRÖSSENWAHN

in jeder waldlichtung und in jeder einigermassen idyllischen bucht lauert ein freilichttheater. jetzt also auch noch „aida“ in pfäffikon, open-air am pfäffikersee, mit der unvermeidlichen noëmi nadelmann. zur première heute hat festival-chef george egloff ceos von börsenkotierten unternehmen und nationalräte eingeladen, die crème de la crème, wie er dem „züritipp“ verriet: „wir haben darauf verzichtet, b- und c-promis einzuladen. das bringt keine wertschöpfung.“ klar doch, oper nicht als gesamtkunstwerk, sondern als geldmaschine, schliesslich war herr egloff in seinem früheren leben ceo von ticketcorner. aber es kommt noch dicker: ganz beiläufig schreibt der „züritipp“ den durchaus bemerkenswerten satz, der opernevent im oberland wolle „mit bregenz und verona in der gleichen liga“ spielen. nach bregenz pilgern jahr für jahr 200‘000 zuschauerinnen und zuschauer (umsatz 20 millionen €), nach verona 500‘000 (umsatz 23 millionen €). die sieben vorstellungen von egloffs „aida“, die übrigens mal verdis „aida“ war, sind nicht ausverkauft. der züri-grössenwahn schwappt über die ufer des pfäffikersees.

Samstag, 3. August 2013

MÜNCHEN: BESCHRÄNKE NICHT DEN UNBESCHRÄNKTEN

grösster wunsch? meine kinder wiederzusehen! grösster fussballer aller zeiten werden! strassenkindern helfen! drei schöne kinder und star-psychologin werden! leuten helfen, die schwach sind! reich werden und ein moralisches leben führen! meine familie in brasilien besuchen! millionär werden! hip-hop-star werden! beschränke nicht den unbeschränkten herrn! musik machen! meinen platz zu finden! star werden! leute glücklich machen, probleme lösen! entertainer/comedian werden! tanzschule eröffnen! – das sind die grössten wünsche von 16 jungen flüchtlingen aus nigeria, senegal, sierra leone und sozial benachteiligten jugendlichen in münchen. im rahmen des projekts „on stage – kultur im sozialraum“ hat der regisseur laurenz leky mit ihnen das stück „unsere münchner freiheit“ entwickelt, das sich ans märchen von den bremer stadtmusikanten anlehnt: gemeinsam einen traum verwirklichen. das hat enorm viel afrikanischen charme, und trotz einer überdosis europäischer sozial- und theaterpädagogik überwiegen der rhythmus, die spiellust, der drang nach freiheit. wir freuen uns an diesen schwarzen energiebündeln und müssen immer wieder an das riesenplakat denken, das zurzeit an der fassade des residenztheaters hängt: „die realität ist für diejenigen, die ihre träume nicht aushalten.“

Montag, 29. Juli 2013

MÜNCHEN: WANJA, FINAL CURTAIN

„was für ein schönes wetter heute. nicht heiss.“ „bei solchem wetter ist es schön, sich aufzuhängen.“ willkommen in der enge der russischen provinz. karin henkel (und johan simons, der die proben an den münchner kammerspielen nach ihrer erkrankung zu ende führte) stecken das personal von tschechows „onkel wanja“ in einen kaum fünf meter breiten, schwarzen passepartout, eine art kasperletheater für erwachsene. sieben leute auf engstem raum, das zwingt zu totaler reduktion und führt zu brillanter konzentration: jedes wort, jede geste, jeder blick sitzt – und verletzt mindestens einen der anwesenden. alle nörgeln an allen herum, keiner gönnt einem ein quäntchen glück, es sind verpfuschte und vergeudete leben auf diesem landgut; es dominiert die „skúka“, das leere warten auf ferne, unbestimmte ereignisse. „aus mir hätte ein dostojewskij werden können… ein schopenhauer…“, sinniert benny claessens´ von sich selbst erschöpfter onkel wanja und schiebt seine phlegmatischen pfunde vor sich her. langeweile und perspektivenlosigkeit weichen allmählich schierer verzweiflung: dieser mann heult und schwitzt und zittert am ganzen körper, als er realisiert, dass die zukunft auch nicht mehr das ist, was sie noch nie war. vorhang. begeisterter applaus. es ist the final curtain: saisonende jetzt auch hier.

Sonntag, 28. Juli 2013

MÜNCHEN: REQUIEM UNTERM STERNENHIMMEL

es beginnt zur heure bleue. die leute legen ihre badetücher, wolldecken und sitzkissen aus, drappieren ihre picknickkörbe, futtern knackwurst und tomatensalat aus plastikbehältern, suchen verzweifelt ihre brillen oder vergnügen sich mit ihrem iphone. es sind tausende. der stattliche max-joseph-platz vor der staatsoper und der residenz in münchen präsentiert sich an diesem abend wie ein stark überbuchtes strandbad. „oper für alle“ heisst das happening, bmw zahlt. und jetzt giuseppe verdis „messa da requiem“? totenmesse, hier und jetzt? geht nicht! geht doch: kaum erklingt, pianissimo, der erste ton, legt sich eine grosse andacht über die szenerie, und sie hält an, die ganzen 85 requiem-minuten lang. es liegt nicht nur am dirigenten zubin mehta (den die „süddeutsche zeitung“ gerade eben als „gefühlsüberschwangentfacher“ bezeichnete) – es ist die musik, die auch dieses wunder schafft: alt und jung in meditative stille gebeamt. wie ekaterina gubanova und rené pape das „lacrimosa“ in die nacht hinaus mehr beten als singen, das geht tatsächlich tief, selbst in dieser open-air-kulisse. und zum schluss das hoffnungsfrohe „libera me“, der wunsch, von allen qualen befreit zu werden, unter dem sternenklaren nachthimmel. was will man mehr?

Dienstag, 23. Juli 2013

VENEZIA: DIE SCHLANGE UND DAS TÖFFLI

es muss, nach all den biennale-freuden, doch noch gesagt sein: der schweizer pavillon in venedig ist eine herbe enttäuschung. der walliser künstler valentin carron zeigt dort eine metallschlange, die sich durch die praktisch leeren räume windet, und ein töffli (ciao n.6), das im vorhof parkiert ist. ziemlich schlichte angelegenheit, die dann allerdings auf dem aufliegenden handzettel durch üppigste kuratoren-prosa aufs heftigste geadelt wird: „er findet seine inspiration meist in der region, aus der er stammt und in welcher er nach wie vor lebt. der künstler entwickelt so einen diskurs über das regionale, aber auch über die ästhetischen und interpretatorischen missverständnisse, mit denen sich die idee des ‚modernen‘ häufig konfrontiert sieht.“ wir sahen vor lauter schlange die missverständnisse gar nicht… und zum töffli: „carrons kunst wechselt oft und gern die ebene, und der künstler vermag, wie nur wenige andere, in ein und demselben raum brutalität und eleganz nebeneinander bestehen zu lassen. (…) das ergebnis kommt dem nahe, was wir als modifiziertes readymade definieren könnten. (…) dank der überraschenden veränderungen des kontextes und der heterogenität der ausgestellten werke gelingt es dem künstler, dem publikum die komplexität der frage nach skulptur zu vermitteln, ohne dabei jemals didaktisch zu werden.“ ganz im gegensatz zum kuratoren-handzettel. der kontrast zwischen dem schwulst dieser mitgelieferten texte und der einfachheit der exponate führt immerhin zum rätselraten, ob das ganze nun als parodie oder als provokation gedacht sein mag. vielen besucherinnen und besuchern ist allerdings nicht nach rätseln zumute; sie verlassen den pavillon lustlos oder grimmig.

Montag, 22. Juli 2013

VENEZIA: IL PALAZZO ENCICLOPEDICO

und plötzlich diese ruhe. venedig im sommer ist ziemlich überbevölkert, man weiss es ja, doch die beiden grossen biennale-areale, giardini und arsenale, sind wahre inseln der kontemplation. und ein fest für die sinne. einer dieser sinnlichen höhepunkte ist der „campo de color“ im lateinamerika-pavillon, weit über 100 tonteller mit kleinen gewürzbergen, intensiver curry-geruch, doch nicht nur gelb und orange, auch blau, türkis, purpur – alle farben dieser welt. das will die biennale 2013 ganz offensichtlich, alle farben dieser welt abbilden, wissen und reflexion aus allen erdteilen, und sie steht unter dem ganz hübsch unbescheidenen motto „il palazzo enciclopedico“. da sieht man türkische bodybuilder, eine überdimensionierte chinesische pissoir-schüssel in silber, sterbende finnische bäume, pferde mit bein-prothesen, einen zu klein geratenen picasso in bronze. diese kunst setzt sich ganz intensiv mit dem richtigen leben auseinander. man schaut und staunt und schmunzelt und denkt nach. es ist ein stundenlanges lustvolles eintauchen. apropos eintauchen: im chilenischen pavillon hat alfredo jaar ein fünf mal fünf meter grosses modell des biennale-areals nachgebaut, das in einem grossen wasserbecken steht und plötzlich in den trüben fluten versinkt. biennale am ende? venedig am ende? kunst am ende? welt am ende? während man meditiert, taucht das durchnässte gelände plötzlich wieder auf. gerade noch mal gut gegangen.

Sonntag, 21. Juli 2013

VERONA: ES LOHNT SICH MAL WIEDER

200 jahre verdi, 100 jahre opern-festival im historischen gemäuer: da musste sich sogar die total traditionell gestrickte arena di verona mal was einfallen lassen. sie zeigt im august eine rekonstruktion der „aida“-inszenierung von 1913 (eben!), aber sie liess die „aida“ parallel, resp. vorgängig auch neu inszenieren durch carlus padrissa und àlex ollé von la fura dels baus. „arena? klar, können wir!“ haben sich die beiden gesagt, immerhin gestählt durch die erfahrung mit der gigantischen eröffnungsfeier der olympischen spiele von barcelona. und diese neue „aida“ ist tatsächlich ein lichtblick! padrissa und ollé erzählen die dreiecksgeschichte von der äthiopischen sklavin, dem ägyptischen feldherrn und der rivalin als zeitloses (nicht modernes) märchen, mit dem absoluten gespür für tolle, aber nicht zu viele effekte: die überdimensionierten elefanten und kamele sehen aus wie hightech-kinderspielzeug, hunderte von sklaven tragen leuchtende mondkugeln durch parkett und bühnenrund, am arena-horizont flammen hieroglyphen-fackeln auf, und als aida und radames ihrem tod entgegensingen (im original: eingemauert in einem tempel-gewölbe), senkt sich ein gigantisches solarpanel über die beiden und bringt – wie die musik – licht, erlösung, seligkeit. ein spektakel für auge und ohr, volkstheater im besten sinn. besonders erfreulich: hui he (aida) und jorge de léon (radames) verfügen über stimmen, nicht einfach über voluminöse arena-trompeten. das hätte auch verdi gefallen.

Sonntag, 14. Juli 2013

VYRITSA: DAS LEBEN AUF DER DATSCHA

"das leben auf der datscha besteht aus dem leben auf der datscha." hat möglicherweise tschechow gesagt. hat aber ganz bestimmt irene fleischlin gesagt, unsere russische freundin mit dem schweizer namen. und wie recht sie hat. 

Samstag, 13. Juli 2013

ST. PETERSBURG: KAZNACEJSKAJA-TRÄUMEREIEN

grazdanskaja ulica, kanala griboedova, voznesenskij most, allein schon die strassennamen sind poetische miniaturen, voller phantasie und voller melodie. wir flanieren im quartier, wo dostojewskij gelebt hat; es ist eine pracht, eine vergangene pracht. aus dem eckfenster an der kaznacejskaja ulica nr. 7, wo die petersburger heute noch liebevoll blumen deponieren, hat er das leben beobachtet – und verdichtet. „dieses geschäftig eilende egoistische und stets gedankenverlorene volk hat für mich um acht uhr früh etwas besonders anziehendes. (…) sie alle hasten und überschlagen sich, aber wer weiss, vielleicht wird das alles von irgend jemand geträumt, und es gibt hier nicht einen einzigen menschen, einen echten, richtigen menschen, und nicht eine einzige wirkliche tat? irgend jemand, dem dies alles träumt, wird plötzlich aufwachen – und alles ist plötzlich verschwunden.“ (fjodor dostojewskij, ein grüner junge) – auch die befindlichkeit nach den kulinarischen, alkoholischen, musikalischen und anderweitigen freuden der weissen nächte hat good old fjodor in diesem eher unbekannten roman schon wunderbar auf den punkt gebracht: „ich weiss nicht mehr, wie ich eingeschlafen bin, aber ich schlief einen festen und süssen schlaf.“

Dienstag, 9. Juli 2013

ST. PETERSBURG: WAGNER AUF DER COSTA CONCORDIA

in einer coolen lounge am meer steht, ganz allein, eine frau in einem hautengen feuerroten cocktailkleid und blickt regungslos auf die wellen, die immer grösser werden. "der fliegende holländer", ouverture, ein vielversprechender anfang für die sage vom über alle weltmeere irrenden kapitän. doch dann ist vorbei mit ruhe und romantik, dann gibt's nur noch rambazamba: der holländer, in einer beziehungskrise, taucht in einem hotel den kopf zum goldfisch ins aquarium und stürzt mit einem rollkoffer durch die zimmer und die jahre; mädels lümmeln mit kopfhörern in den liegestühlen herum; jungs interessieren sich (achtung, matrosenchor!) nur für ihr neues surfbrett; in den hintergrund werden ausschnitte aus einer holländer-verfilmung von 1953 gebeamt, während senta kette raucht, was ihre stimme auch nicht runder macht; als der holländer ihr seine sehnsucht erklärt, stapelt sie die wäsche vom vortag, und beim liebesduett im 2. akt kleidet sie ihn ein wie francesco schettino, den unglückskapitän der costa concordia - womit diese neuinszenierung am mikhailovsky-theater in st. petersburg definitiv bei der buffonesken parodie gelandet ist. der junge regisseur vasily barkhatov degradiert wagners oper zum oberflächlichen spass-musical, zu laut, zu grell, zu üppig, alles überladen und alles so konsequent sinnfrei, dass die ganze oper absäuft wie die costa concordia und dann in totaler schieflage auf grund liegt. was dem armen wagner (und dem armen wagner-liebhaber) in diesem jubiläumsjahr nicht alles zugemutet wird!

Montag, 8. Juli 2013

GISWIL: ANDALUCIA MEETS MUOTATHAL

überschäumendes temperament gehört nicht zu den herausragendsten eigenschaften der obwaldner. deshalb laden sie sich das temperament einfach immer wieder ein. dieses jahr zum beispiel die familia bermudez aus andalusien als gasttruppe am volkskulturfest "obwald" im wald bei giswil. der feurige flamenco-clan bretterte mit einer wucht über die open-air-bühne, dass man hoffte, eine der vielen schreinereien in obwalden biete einen 24-stunden-notfalldienst. mit zittern, stampfen, beben und mit teils diabolischer mimik erzählten sie geschichten voller glut. bis zu 240 schläge pro minute, steht im programmheft; ich bin restlos überzeugt, dass es teilweise noch deutlich mehr waren. nicht ganz einfach, diese ausgangslage, für die muotathaler, die als zweite gastregion den beweis anzutreten hatten, dass es der entfesselte klopftanz (vulgo: bödälä, oder im muotathal gäuerlä) auch in den alpinen gegenden durchaus weit gebracht hat. doch auch die schweizer zeigten faszinierende holzschuh-und-balz-akrobatik. den totalen kontrast zu dieser rast- und grenzenlosen bretterei lieferte dann "natur pur" ebenfalls aus dem muotathal, sechs junge männer, die den naturjuiz von ihren vätern erlernt haben, in seiner reinsten, ehrlichsten form, klar und hell und aus tiefster seele. auch das ist feuer. höhenfeuer.

Samstag, 6. Juli 2013

LUZERN: SEITE 133

wenn ich in einer buchhandlung rumstöbere und nicht sicher bin, ob ich ein buch kaufen soll oder nicht, dann schlage ich immer seite 133 auf. es ist die entscheidende seite. „hoch über dieser stille, über der welt, über zwei verfeindeten städten, rabat und salé, und ein paar rätselhaften ruinen, hingen khalid und ich, jeder für sich, unseren träumen nach.“ (abdellah taïa, der tag des königs, s.133) - „es ist nichts los, schon lange kein krieg mehr, die internationale verwaltung hat alles verboten, was die menschen in dieser gegend aufregend finden, und so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als katzen zu überfahren.“ (miljenko jergovic, freelander, s.133) - „durch einen spalt zwischen den vorhängen sah ich lenins söhne, die im hof auf und ab gingen. wieder war etwas zeit vergangen, denn am oberen ende der langen tafel hatten turchina und ihr bräutigam eine andere farbe angenommen.“ (antonio moresco, aufbrüche, s.133) - „meine mutter drehte fast durch. mein vater hatte mich – ein achtjähriges kind – zurückgelassen, um auf den bmw aufzupassen, mitten im wald voller wölfe und vielleicht auch mörder vom schlag eines charles manson.“ (alberto fuguet, die filme meines lebens, s.133) - auf seite 133 sind die autorinnen und autoren in fahrt und am ehrlichsten. hier packen sie mich. oder nicht. bedeutend mehr als mit dem ersten satz, wo sie den erwartungsdruck im genick sitzen haben und entsprechend nervös sind, oder mit dem letzten, wo sie noch so viel zu sagen hätten. seite 133 ist enttäuschung oder versprechen. seite 133 entscheidet.

Freitag, 5. Juli 2013

LUZERN: MEHR ZEIT DANK KLEINSCHREIBUNG

da stiess ich doch neulich auf dieses zitat, eine rhetorische frage: "welche kräfte werden gespart, wenn die schreibmaschine die grossen staben fallen lässt?" das fragt walter porstmann, der erfinder des din-formats. respektive: er fragte, nämlich bereits 1920. es war dies ein frühes plädoyer für die kleinschreibung als zeit- und energiesparmassnahme. die frage liess mich nicht mehr los, und die antwort ist verblüffend: mal angenommen, man schreibt pro jahr 167 a4-seiten; mal angenommen, auf einer durchschnittlichen seite tummeln sich 200 grossbuchstaben; mal angenommen, der motorische und mechanische aufwand für einen grossbuchstaben nimmt 0,38 sekunden in anspruch - dann verschwendet man pro jahr 212 minuten. 212 minuten! pro jahr! so lange dauert "ben hur" oder eine eisenbahnfahrt von luzern nach mailand oder die zubereitung einer bouillabaisse für sechs personen. wenn das keine perspektiven sind. ab sofort schreibe ich nicht mehr nur aus gründen der visuellen ästhetik alles klein.

Sonntag, 23. Juni 2013

MÜNCHEN: ZUCCO - IKONE ODER NICHT?

es ist ein uralter traum, unsichtbar zu sein. sagt der verbrecher roberto zucco, und es ist nicht seine einzige sehnsucht. er möchte auch ein strassenköter sein, der in den abfällen der menschen wühlt. und er möchte den schnee von afrika auf seiner haut spüren. bernard-marie koltès hat diesen mann, der vater und mutter und einen polizisten und ein kind umbrachte und sich mit einer flucht durch halb europa quasi unsichtbar machte, 1989 in seinem letzten theaterstück „roberto zucco“ zur ikone erhoben. leon pfannenmüller spielt zucco am münchner volkstheater als harmlosen jungen, der ohne not und ohne leidenschaft mordet; harmlos und rastlos geht er im riesigen, abgedunkelten bühnenraum auf und ab, ein endlos suchender. am schluss stürzt er sich vom gefängnisdach „in die sonne“. die mythische überhöhung zum todesengel hat zwar tradition in der literatur (genet), doch regisseur milos lolic mag sich koltès` verklärung des verbrechens nicht einfach anschliessen. sein zugriff hat die züge eines doku-dramas mit gelegentlich gar parodistischen elementen. indem er die menschen um zucco herum ununterbrochen wirkliche ikonen aus dem kollektiven gedächtnis und andere visuelle codes der menschheit an ein baugerüst pinnen lässt, stutzt lolic den mörder auf ein menschliches mass zurück. dieser zucco ist keine ikone, er bleibt eine kleine schwarze episode.

Samstag, 22. Juni 2013

MÜNCHEN: KÖNIG LEAR UNTER SCHWEINEN

sei´s der britische königshof, sei´s ein bauernhof in unseren tagen – die grossen themen bleiben: macht, würde, liebe, die suche nach dem sinn. deshalb zeigt intendant johan simons shakespeares „könig lear“ an den münchner kammerspielen als spiel einer laientruppe auf einem bauernhof; er will die fragen, die die welt immer umgetrieben haben, in menschlichen proportionen angehen. eine leicht schiefe, mit grasziegeln belegte holzrondelle von kaum fünf metern durchmesser ist die ganze welt, ist schloss, ist heide, ist heerlager. hier spielen sie in gummistiefeln und kleidern vom dachboden, umwuselt von echten schweinen, diesen grossen düsteren text als herrenbauerndrama: prall, drastisch und damit sehr nahe an shakespeares idee von volkstheater. andré jung als tyrann ohne innere grösse, der königreiche verteilt und töchter enterbt, rennt in roten strumpfhosen durch sein britannien und lässt uns eindrücklich teilhaben an der zunehmenden verdunstung seines gehirns. „du hättst nicht alt werden solln, eh du weise wurdst“, seufzt ihm sein narr voller mitleid zu. dass dieser lear bei der kleinsten unplanmässigkeit aggressiv und laut wird, nährt die vermutung, er sei womöglich nicht dem wahnsinn verfallen, sondern leide an einer perfiden form von demenz. „könig lear“ als welttheater und endspiel – ein grosser abend.

Freitag, 21. Juni 2013

MÜNCHEN: BAUERN STERBEN

„solang ich leb, wird nicht umgestellt. nichts wird umgestellt. gar nichts wird umgestellt. und gehören tut alles noch mir. alles gehört noch mir. mein ist alles noch. das milchgeld und der fernseher auch.“ eng ist sie, diese bauernwelt, die jungen wollen so nicht leben und ziehen in die stadt, wo ihnen dann auch wieder kalt ist. „bauern sterben“ heisst das dramatische fragment, das franz xaver kroetz 1985 geschrieben und an den münchner kammerspielen uraufgeführt hat, und daselbst entwickelt armin petras daraus jetzt eine szenische phantasie über heimatverlust und heimatsuche, die zeigt, das kroetz´ kraftvoller text an relevanz nichts eingebüsst hat. die bühne ist ein labyrinth aus gerüststangen, in denen sich marie jung und thomas schmauser als schwester und bruder auf der suche nach dem richtigen leben hoffnungslos verirren und verfangen. wurzeln können sie hier nicht schlagen. auch der heiland aus der heimat (lasse myhr wie frisch vom kreuz) turnt allgegenwärtig herum – und auch er erliegt später den versuchungen der grossstadt und endet erschlagen und blutüberströmt in der gasse. „in der stadt ist das leben ein grosses sterben, die stadt reitet das leben zuschanden“, sagt der bruder. er hat heimweh. wonach?

Mittwoch, 19. Juni 2013

MÜNCHEN: KÖRPER UNTER STROM

die muffathalle am isarufer in münchen ist die ehemalige turbinenhalle des städtischen elektrizitätswerks, ein industriedenkmal aus klassizistik und jugendstil, ein überaus stimmungsvoller ort. er bietet das treffende umfeld für meg stuarts choreographie „violet“, in der die amerikanische choreographin und ihre belgische company damaged goods pure energie zeigen – als stünden die körper unter strom. der musiker brendan dougherty liefert live einen mal grellen, mal versponnenen teppich aus elektronik und perkussion, akustik gewordene elektrizität. die zwei tänzerinnen und drei tänzer scheinen wie verkabelt mit diesem sound: er lädt sie auf, quält sie, stimuliert sie, sie winden sich und zucken, sie leiden und bäumen sich auf. jedes gelenk, jeder muskel, jede faser wird aktiviert und ausgereizt. alle fünf sind während 80 minuten permanent auf der bühne und spielen permanent mit allen varianten von körpereinsatz; und es sind dies nicht 100 oder 200 varianten, sondern gefühlte 50´000. der durchschnittlich mobile zuschauer sitzt da und kann es kaum fassen. „violet“ ist ein abstraktes ereignis, keine story, keine mission, sondern dynamik, die zu energie wird, körper, die zu bewegten und bewegenden skulpturen werden. kraftwerk im kraftwerk.

Montag, 17. Juni 2013

ZÜRICH: BLÄTTERN IM WAGNER-ALBUM

regisseur hans neuenfels war mal ein provokativer geist. war mal. bei den zürcher festspielen zeigt er sich jetzt von der ganz und gar zahmen seite und blättert mit uns gemütlich im wagner-album. „richard wagner – wie ich welt wurde“ heisst, ziemlich ambitioniert, neuenfels‘ beitrag zum wagner-jahr, ein potpourri von biographischen und musikalischen episoden aus des komponisten zürcher zeit, kunterbunt angerichtet mit opern- und schauspielstars im schiffbau. robert hunger-bühler spielt den komponisten eindimensional durchgeknallt, ein widerling, der seine umgebung ohne unterlass tyrannisiert und sich zu seiner eigenen lohengrin-ouverture am boden wälzt und aufgeilt bis zum feuchten ende – man möchte das so genau weder wissen noch sehen. um wagners grössenwahn werden inmitten putziger bergkulisse seine affären, seine gegner, seine mentoren drappiert; in seinen fieberschüben schauen otto wesendonk, gottfried keller und charles baudelaire vorbei, es gibt da ein bonmot, dort eine arie, da einen briefwechsel, dort ein duett. wagners leben als variété. der disput um sein grässliches pamphlet „über das judentum in der musik“ wird in so einem umfeld zur weiteren nummer degradiert. es fehlt dem abend an intellektueller tiefe und dramaturgischer stringenz. was bleibt, ist eine nicht wirklich inspirierte und inspirierende mischung aus wikipedia und (immerhin hochkarätigem) wunschkonzert. die zürcher festspiele bescheren uns hier die denkbar luxuriöseste variante einer volkshochschul-veranstaltung.

Freitag, 14. Juni 2013

MÜNCHEN: LUZERN ALS VORBILD

seit jahren jammern die münchner (und die weltklasse-dirigenten) über die üble akustik im gasteig-konzertsaal, seit jahren suchen sie nach alternativen. jetzt bekommt mariss jansons, chef des symphonieorchesters des bayerischen rundfunks, den siemens-musikpreis, stiftet das gesamte preisgeld – immerhin 250‘000 euro – für die planung eines international konkurrenzfähigen konzertsaales und bringt damit neuen schwung in die sache. das mass aller dinge scheint dabei jean nouvels kultur- und kongresszentrum in luzern zu sein. „eine halle von der qualität des luzerner konzertsaals“ schwebt der „süddeutschen zeitung“ vor. und auch manfred wutzlhofer, vorsitzender des vereins konzertsaal münchen und mitglied der arbeitsgruppe zur standortsuche, sagt in einem interview: „wir müssen uns sehr gut gelungene konzertbauten wie in luzern mit kosten zwischen 80 und 100 millionen euro zum vorbild nehmen.“ das freut den luzerner natürlich. allerdings, herr wutzlhofer, ganz so günstig war’s dann auch wieder nicht…

Mittwoch, 29. Mai 2013

PARIS: DER NIJINSKY-TUMULT

er hatte hohe wangenknochen und schrägstehende augen – und trotzdem nannten sie ihn „das achte weltwunder“. weil er tanzen konnte wie ein gott. vaslav nijinsky (1889-1950) war so etwas wie der erste globale megastar, tourneen, gastspiele, volle häuser bis nach südamerika. „j’ai peur, j’ai peur, car je vois l’acteur plus grand du monde“, sagte sarah bernhardt voller bewunderung, immerhin selbst eine quasi ultimative diva. exakt heute vor 100 jahren sorgte nijinsky mit seiner interpretation von stravinskys „le sacre du printemps“ am théâtre des champs-élysées in paris für einen nachhaltigen skandal. er revolutionierte die ballettkunst: nicht mehr gepflegte ästhetik, sondern radikale körperlichkeit, expressiv und erotisch. musik und choreographie überforderten die pariser bildungsbürger dermassen, dass der abend in tumult, beschimpfungen, nervenzusammenbrüchen, chaos endete. rückblickend wissen wir: dieses ballett war der sprung in die moderne, weit vor der zeit. - nijinsky ist aber auch eines der eindrücklichsten beispiele für die verbindung von genie und wahnsinn: „meine krankheit ist zu schwer, als dass ich bald geheilt werden könnte. ich bin nicht zu heilen. ich bin seelisch krank. ich bin arm.“ depression, schizophrenie, apathie füllten mehr als die hälfte seines lebens. der psychiater peter ostwald hat ein faszinierendes buch darüber geschrieben (europäische verlagsanstalt), das biographie und anamnese in einem ist, kunstroman und psychokrimi. den titel hat nijinsky selbst geliefert: „ich bin gott“. allerdings nahm sich die originalsequenz in seinen notizbüchern mehr raum: „ich bin gott. ich bin gott. ich bin gott.“

Sonntag, 19. Mai 2013

MÜNCHEN: VON GEORG BÜCHNER UND ALBAN BERG

das messer…! ist nicht nur zum brotschneiden da…! kristof van boven ist woyzeck und blinzelt vielsagend, wenn er über das messer und seine möglichkeiten nachdenkt. dieser woyzeck zuckt während eineinhalb stunden, mal ganz offensichtlich mit armen oder beinen, mal nur beiläufig mit den wimpern oder lippen. seine blicke sind fiebrige stiche, sie stechen die mitmenschen und sie stechen ins leere. dazu watet er ununterbrochen durch das enorme wasserbecken, das die bühne im werkraum der münchner kammerspiele diesmal ausfüllt: ein spiegel der unruhigen seele. die anderen figuren tauchen wie üble träume im oder am wasser auf, im zentrum: immer woyzeck. die grösste leistung von kristof van boven ist, dass er dieser geschundenen kreatur, die zum mörder wird, aller ausgestelltheit zum trotz sämtliche geheimnisse lässt. wie viel dunkelheit ist in diesem menschen drin und wie viel kommt durch die anderen dazu? eine krankheitsgeschichte mit offenem ergebnis. sie hat den mediziner georg büchner 1836 zu seinem dramenfragment inspiriert, und der komponist alban berg entwickelte die szenen 1921 zu einer expressionistischen oper. barbara wysocka nun überlagert in ihrer inszenierung material aus schauspiel und oper, verdichtet und verfremdet es mit neuen bildern und neuen klängen zu einem albtraum des kleinen mannes. düster, monströs, ergreifend.

Donnerstag, 9. Mai 2013

MÜNCHEN: DAS GEHEIMNIS DER KAMMERSPIELE

nachrichten aus dem himmel. wir berichten aus der champions league des europäischen theaters. „glücklich das theater, welches solche schauspieler im ensemble hat! die münchner kammerspiele – und hier muss man jetzt einfach mal fan sein dürfen – haben immer noch die besten“, schrieb christine dössel in der „süddeutschen zeitung“. auch das „münchner feuilleton“ gab sich schon ganz euphorisch: „das ensemble der kammerspiele ist mittlerweile so gut, dass man sich von ihm selbst heizdecken im hochsommer verkaufen lassen würde.“ und die theaterzeitschrift „die deutsche bühne“ bilanziert die erst dreijährige aera von intendant johan simons: „in diesem haus rumort es kräftig.“ und meint das nur positiv. wo liegt es, das geheimnis dieses hauses, dieses ensembles, dieser theaterkunst auf der höhe der zeit? sandra hüller, die am theatertreffen in berlin gerade gefeiert wird für ihre rolle in jelineks „die strasse. die stadt. der überfall.“ hat das im „spiegel“ jetzt wunderschön auf den punkt gebracht: im dunstkreis von johan simons herrsche eine art trancezustand, „in dem es nicht um psychologie und nicht um spiel geht, sondern nur noch um eine bestimmte art von anwesenheit. keiner versucht, etwas zu tun, sondern man füllt gemeinsam einen raum. und selbst der text ergibt sich, er fliegt einem so zu.“ für sandra hüller ist diese herangehensweise an stoffe und texte „der himmel“. für uns zuschauer auch immer wieder (regelmässige besucher dieses blogs können das nachvollziehen). hoch leben die münchner kammerspiele, hoch lebe dieses ensemble, hoch lebe der theaterhimmel!

Mittwoch, 8. Mai 2013

BEIJING: ABWARTEN UND TEE TRINKEN

"der spiegel" (66): "wie fühlen sie sich auf dem gipfel ihrer laufbahn?" ai weiwei (56): "ich bin noch lange nicht auf dem gipfel. ich bin dabei, mich warm zu machen."

Samstag, 4. Mai 2013

MÜNCHEN: PLATTFORM

was verbindet dostojewski und houellebecq? dostojewskis figuren zweifeln an gott, an der liebe, am sinn des lebens. houellebecq treibt sein personal eine phase weiter: kein zweifel, kein gott, keine liebe, kein sinn des lebens. michel zum beispiel, die autobiografisch grundierte hauptfigur im roman „plattform“, arbeitet lust- und ziellos im kulturministerium, vögelt ebenso ziellos herum, leere, absolute leere. mit valérie gründet er eine plattform für sex-tourismus, doch valérie stirbt kurz darauf in einer bombe muslimischer terroristen. michel landet beim psychiater. hier setzt stephan kimmigs dramatisierung des romans an den münchner kammerspielen an, in der klinik. ein raumhoher kubus aus blendendweissen gazevorhängen und weissen sofas bildet den rahmen, in dem michel von einer psychiaterin und einem psychiater befragt wird. zum plot des romans montiert kimmig passagen aus einem gespräch, das star-interviewer andré müller 2002 mit houellebecq geführt hat („das beste mittel gegen die angst ist die gleichgültigkeit“). das ergibt zwei dichte, dokumentarische, deprimierende stunden. steven scharf, wie immer meisterhaft, irrt als mann ohne freude und ohne perspektiven rastlos in den gazeschleiern umher, verfolgt von einer videokamera, die seinen leicht verschwitzten und gebeugten körper live und porentief auf die vorhänge liefert. kein gramm optimismus, nix. man möchte nicht psychiater sein.

Freitag, 3. Mai 2013

ZÜRICH: DIE BÜRGERLICHE STADT

"in stark bürgerlichen städten wie zürich..." - sagt udo jürgens, unwidersprochen, im "züri-tipp" über die stadt, die gerade eben den siebten linken in die neunköpfige regierung gewählt hat. und: in den vergangenen 100 jahren waren von zehn zürcher stadtpräsidenten und -innen sechs sozialdemokraten und -innen. udo jürgens lebt übrigens in zürich. seit 1977.

Donnerstag, 18. April 2013

MILANO: POESIE AUF DEM TELLER

carpaccio di polpo. der ganze teller ist liebevoll mit hauchdünn geschnittenen oktopus-scheiben ausgelegt (weiss), darüber reichlich granatapfelkerne (rot), ein wenig olivenöl (grün) und pfeffer (schwarz). eine freude fürs auge, eine freude für den gaumen. kulinarische poesie, so einfach. und das ist nur der anfang... dies ist der grund, weshalb es uns seit jahren immer, wenn wir in mailand sind, ins ristorante "rosa nera" treibt - und weshalb wir diesen geheimtipp auch gerne weitergeben: via solferino 12. unprätentiöses lokal an der unauffälligen strasse von der scala (opern-olymp) zum "corriere della sera" (zeitungs-olymp).

Montag, 15. April 2013

MILANO: IL SALONE

il salone internazionale del mobile, das sind auf dem messegelände milano-rho 24 gigantische hallen mit möbeln, möbeln, möbeln, möbeln. design total, inspiration total, man kann sich nicht satt sehen. jean nouvel liefert mit einer sonderschau ein flammendes plädoyer für mehr lebensqualität, individualität und farbe in unseren bürolandschaften. darüber hinaus erschliessen sich dem laien die trends angesichts der schieren fülle der exponate nicht auf anhieb. ausser dass sich auch die design-szene jetzt auf die senioren zu werfen beginnt: eine wachsende kundschaft mit geld einerseits und anderseits auch eine wachsende kundschaft mit ganz speziellen anforderungen an funktionales design im alltag. und auf der anderen seite fallen die jungen auf. in der äussersten ecke des salone (halle 24 von 24) haben die kreativen frischlinge ihre spielwiese, den „salone satellite“, ein wahres bijou an ideenreichtum. junge japaner (quartzd) schlagen uns als insel der erholung im alltag einen kleinen wald aus weissem japanpapier vor, nicht grösser als ein doppelbett; junge spanierinnen (mecedorama) entwerfen neonfarbige schaukelstühle, die büro und garten gleichermassen in bewegung bringen; junge deutsche (kunsthochschule halle) erfinden halboffene holzkisten in allen grössen und formen, die die phantasien in kinderzimmern und kindergärten neu beflügeln. statt cooler ästhetik begegnet man im „satellite“ überall wundervoller verspieltheit und wünscht, dass diese newcomer sich gerade diesen ansatz lange bewahren mögen.

Samstag, 13. April 2013

ZÜRICH: DICKDARMKRÄMPFE

big daddy (jean-pierre cornu) gaukelt sich und der welt vor, nicht ein tödlicher krebs habe ihn befallen, sondern bloss dickdarmkrämpfe. sein sohn brick (markus scheumann) gaukelt sich und der welt mit hilfe von reichlich alkohol vor, er sei nicht schwul. bricks frau maggie (julia jentschs comeback nach der babypause) hofft vergeblich, dass er auch für sie noch ein wenig wärme übrig hat. tennessee williams führt in „die katze auf dem heissen blechdach“ in ein erbärmliches kabinett der verlogenheiten und verschobenen wahrnehmungen. das erstklassige ensemble am schauspielhaus zürich hätte alle voraussetzungen, dieses spiel mit fassaden und abgründen, das zum geburtstag von big daddy die ganze sippe zusammenführt, so zu spielen, dass es richtig weh tut. diesen text, diese figuren muss man auf dem seziertisch präsentieren. doch regisseur stefan pucher tut, was er immer wieder tut: er erstickt die subtile vorlage mit einer bilderorgie. er macht auf grosse show, füllt die bühne mit sämtlichen amerikanischen 50er-jahre-scheusslichkeiten, die ihm in die hand kommen, steckt die leute in übertrieben geschmacklose kostüme, beamt unnötige filmchen auf die hässliche, höhlenartige deko, und einmal mehr geht’s auch nicht ohne mittelmässige gesangseinlagen. it’s too much for tennessee: kein heisses blechdach, sondern ein hoffnungslos überladenes. das resultat: dickdarmkrämpfe.

Freitag, 12. April 2013

MÜNCHEN: DIE KULISSE EXPLODIERT

ein aha-erlebnis. noch nie was von friederick kiesler gehört und jetzt trotzdem die ausstellung über diesen österreichischen architekten und bühnenbauer (1890-1965)  in der villa stuck in münchen besucht. sie trägt den alle theater-aficionados sofort neugierig machenden titel „die kulisse explodiert“. das aha-erlebnis: dieser mann war der zeit und der theaterkunst um jahrzehnte voraus; er hasste die traditionellen guckkastenbühnen mit ihren traditionellen kulissen und prospekten und baute deshalb schon vor hundert jahren bühnenbilder, bühnenräume, bühnenlandschaften, die sich jeglichem illusionismus verweigerten und platz schufen (oder besser: liessen) für das wort, für die figuren und – später an der renommierten juilliard school in den usa – für die musik. kiesler erfand raumbühnen und bühnenskulpturen, wie wir sie heute in den theatern der obersten liga zuhauf sehen (altmann, kriegenburg, wilson). natürlich wurde er wie alle visionäre verspottet – bei karl kraus etwa: „sie meinen also, herr kiesler, dass gretchen auf dem motorrad zur plattform hinaufjagt, oben das lied am spinnrad singt und dann im lift in die tiefe saust, während inzwischen faust und mephisto im kleinauto den serpentinenweg hinaufbrausen?“ kieslers kunst hat den spott überlebt.   

Donnerstag, 11. April 2013

MÜNCHEN: PLAYMOBIL IM WIENER WALD

„geschichten aus dem wiener wald“! na dann, hat sich christian stückl, der intendant des münchner volkstheaters, gesagt und eine tüchtige portion wiener wald auf die bühne bauen lassen: bäume, schilf, teich, nebelschwaden – die reinste idylle. das ist das eine. hier lässt er all die hallodris aus ödön von horváths traurigem volksstück rumplauschen, liebe machen, tanzen, tauchen, streiten. in ihren grellbunten kostümen wirken sie wie playmobil-püppchen. das ist das andere. dazu auch noch sting, meat loaf, wiener walzer, eine art wunschkonzert für 9 bis 99. das ist das dritte. üppigste reize also auf allen ebenen – und sie wollen nicht zusammenpassen: vor lauter effekthascherei kommt stückl die feingestrickte geschichte beinahe abhanden. die geschichte von marianne, die der enge ihrer herkunft, der spiessigkeit des alltags entkommen will, dabei immer nur an die falschen, die halbseidenen, die unfertigen gerät und am schluss dort landet, wo sie herkommt, in ihrer gasse bei ihrem fleischergesellen, der ihr schon immer gedroht hatte: „du wirst meiner liebe nicht entgehen.“ tote gefühle, tote liebe, ein totes kind. man würde, angesichts dieser befunde, den schauspielerinnen und schauspielern und sich selbst mehr poesie gönnen und weniger musical-rambazamba.

Montag, 1. April 2013

BEIJING: ZENTIMETER FÜR ZENTIMETER IN DIE ZUKUNFT

china ist auf dem weg in die zukunft. und viele im westen bekunden immer wieder mühe, sich das tempo dieses wandels konkret vorzustellen. vielleicht hilft dies: "wenn wir die rote linie um drei zentimeter überschreiten, werden wir zwar zurückgedrängt, aber einen zentimeter können wir vielleicht halten. diesen zentimeter können dann auch andere medien nutzen, und nach einiger zeit versuchen wir, den nächsten zentimeter zu erobern." (wu si, chefredaktor der kritischen geschichtszeitschrift "yanhuang chunqiu", im deutschen wirtschaftsmagazin "brand eins")

Sonntag, 31. März 2013

LUZERN: ABENDFÜLLENDE SILIKONBRÜSTE

so läuft’s wohl, wenn dragan, der autohändler, eine party schmeisst: bunga-bunga zwischen sperrholzwänden, überblonde glitter-flittchen mit abendfüllenden silikonbrüsten tanzen auf den tischen, alle mampfen spaghetti von plastiktellern und schmieren sich torten ins gesicht. und exakt so zeigt der tessiner regisseur lorenzo fioroni am luzerner theater den ersten akt von giuseppe verdis „la traviata“. violetta, die edelkurtisane, verkehrt hier nicht in noblen pariser salons, nicht in samt und gold, sondern in der trash-society. diese comicartige überzeichnung zum süssen melodienreigen ist erstens gewöhnungsbedürftig und zweitens überraschend sinnig. denn der kontrast zwischen der kaputten, falschen welt und den plötzlich aufkeimenden echten gefühlen wird dadurch vergrössert: die wahre liebe gewinnt an tiefe, die vielen konflikte gewinnen an schärfe, verdis musik erreicht neue dimensionen. noch selten hat man violettas liebhaber alfredo (carlo jung-heyk cho), dessen vater seine unstandesgemässe liaison um jeden preis unterbinden will, so ausweglos verzweifelt gesehen, so wütend, so nahe am wahnsinn. und noch selten hat man violettas sehnsucht nach einem anderen leben besser nachvollziehen können. die bulgarische sopranistin svetlana doneva gibt dieser rastlos zwischen hoffnung,  glück und tod hin und her eilenden frau in jedem moment grösse und würde; traumwandlerisch bewegt sie sich über alle musikalischen klippen und durch alle emotionalen hochs und tiefs dieser partie. eine überzeugende, eine sehenswerte arbeit.

Montag, 4. März 2013

STUTTGART: TOSCA NR. 79

„tosca“ an der staatsoper in stuttgart. die première fand im juli 1998 statt. die inszenierung ist also 15 jahre alt. wir sehen die 79. vorstellung. eine alarmierende ausgangslage, normalerweise: ausgelaugt, abgelutscht, mit sängern, die den regisseur nie gekannt haben und deshalb spielen, was sie in ihrer partie halt immer spielen zwischen moskau und madrid. es spricht schon sehr für die qualität eines hauses und einer inszenierung, wenn es ganz anders läuft. regisseur willy decker arbeitet mit minimaler dekoration (im ersten akt nur eine statue, im zweiten akt nur ein riesiger tisch, im dritten akt nur ein fenster zum sternenhimmel) und lässt so viel raum für die komplexen konstellationen zwischen den figuren, für das spannungsfeld zwischen politik und kunst, zwischen macht und erotik, raum für puccinis musik; so entstehen diese einfachen, grossen bilder, die auch 15 jahre unbeschadet überdauern. zumal die drei protagonisten – catherine naglestad als tosca (sie sang als einzige schon in der première), andrea carè als cavaradossi, michael ebbecke als scarpia – die bei diesem werk permanent als versuchung lauernde grosse opernpose vermeiden und, musikalisch wie darstellerisch, sehr persönliche rollenporträts entwickeln: drei intensive geschichten von der liebe, drei geschichten vom tod, die aufs verhängnisvollste miteinander verknüpft sind. oper als wuchtiges kraftwerk der gefühle: diese 79. vorstellung elektrisiert wie eine première.

Sonntag, 3. März 2013

STUTTGART: NABUCCO

giuseppe verdis „nabucco“ ist eine oper über kollektive und individuelle heimatsuche und heimatverlust und – eine choroper. stuttgart hat einen hervorragenden und vielgerühmten opernchor. eine steilvorlage also für den erst 29jährigen österreichischen regisseur rudolf frey. und wie er sie genutzt hat! zu „va pensiero“, dem chor der gefangenen hebräer, stellt er die 80 sängerinnen und sänger vor 80 schwarze stühle. eine statische graue masse. doch mit der melodie, dem musik gewordenen durst nach freiheit, entwickeln sich aus dieser masse 80 individuen. jedes einzelne hat seine not, jedes einzelne hat seine hoffnung, die stühle werden zu bewegten metaphern: einer nimmt ihn als schutzschild, einer packt ihn sich als waffe, eine sieht darin ihren geliebten, eine hält ihren stuhl mit verzweiflung hoch, einer den seinen mit einem leuchten in den augen. schlichte, ergreifende schicksale. man hat diesen gefangenenchor schon oft berührend gehört, so gesehen hat man ihn noch nie. dank solcher detailarbeit mit jedem einzelnen gelingt rudolf frey eine über weite strecken überzeugende deutung, zeitlos und weit entfernt von den überladenen arena-produktionen dieses werks. einzig die englische sopranistin catherine foster als nabuccos rivalisierende stieftochter abigaille macht auf diva und deckt das differenzierte ensemble mit dröhnender stimme zu; eine – das wort ist hier leider naheliegend – rampensau, die in dieser nuancenreichen inszenierung fehl am platz ist.

Donnerstag, 28. Februar 2013

MÜNCHEN: HEDDA GABLER, MONOTON KALT

innerhalb von zwei tagen bricht das bürgerliche kartenhaus zusammen. muss man sich mal vorstellen. innerhalb von zwei tagen. steht so im programmheft. henrik ibsens generalstochter hedda gabler kommt von der hochzeitsreise zurück und schafft es, innerhalb von zwei tagen ausnahmslos alle in ihrer umgebung mit ihrem eigenen unglück zu vergiften: keine zukunft, nur schatten, verleumdungen, verletzungen, ennui. hausherr martin kusej stellt die figuren in seiner inszenierung am münchner residenztheater (wo das stück 1891 uraufgeführt wurde) in einen riesigen schwarzen raum, kaum möbliert. hier haben alle schon verloren. fin de siècle, fin de vie. birgit minichmayr als hedda spannt die fäden, über die alle durch den dunklen raum taumeln und mit ihr in den abgrund stürzen. sie spielt diese frau, die keinen umgang mit den gesellschaftlichen konventionen findet, als kalte schlange. etwas gar monoton kalt, immer verschränkte arme, immer ungerührte miene, immer gleiche stimmlage. pessimismus kiloweise, und man fragt sich, wo der funke leben ist oder war, der dieser frau überhaupt freunde beschert hat. ein einziges mal rafft sie sich zu einer annähernd menschlichen geste auf und legt ihrem alten freund ejlert die hand auf die schulter. um ihm mit der anderen hand die pistole zu überreichen, auf dass er sich erschiesse.

Dienstag, 19. Februar 2013

MÜNCHEN: MCBW - AHA!

in münchen läuft gerade die mcbw. die munich creative business week. und wenn silke claus, die geschäftsführerin des veranstalters erklären muss, was diese mcbw denn ist und will, dann tönt das (im „münchner feuilleton“) so: „letztes jahr stand dieser name, der eigentlich nur als erläuternder untertitel gedacht war, noch im vordergrund. 2013 hingegen soll sich alles um das motto ‚meet the builders of quality‘ drehen.“ oder so: „hier gibt es eine ausgeprägte agenturszene – denken sie an ideo, designaffairs, designit, hyve oder frog design, die als innovationstreiber querdenken und bei vielen gesellschaftlichen fragestellungen schnittstellen zur gestaltung finden.“ oder so: „ganz ähnlich wie etwa bei der business of design week in hongkong oder der dutch design week in eindhoven, bei denen sich die kürzel bodw bzw. ddw etabliert haben, sprechen auch wir inzwischen von der mcbw.“  – aha! so viel zum thema kreativität.