am
anfang ist die bühne der münchner kammerspiele leer. leer und weit. diese weite
wird in nachtblaues licht getaucht und erweist sich schnell als trügerisch. wir
sind in einer kleinstadt im süden amerikas. zwei blonde tussen quatschen sich
voll und machen unvermittelt klar, dass die weite die gedanken der menschen hier
nicht zu erfassen vermag. in den köpfen herrschen enge, intoleranz, neid,
angst; die nachtblaue idylle ist nur fassade. in dieses system schleust
tennessee williams in „orpheus steigt herab“ einen vagabundierenden musiker ein
(marlon brando machte ihn bekannt in „the fugitive kind“). diese übungsanlage
nutzt sebastian nübling in seiner münchner inszenierung für ein geradezu
physikalisches experiment, wo unsichtbare kräfte sichtbar werden, wo körper und
seelen magnetischen wellen ausgeliefert sind, wo anziehendes und abstossendes zur
explosiven mischung geraten. dazu nimmt er im verlauf des abends ein
farbensattes kettenkarussell zu hilfe – und den 28jährigen risto kübar aus
estland, der nicht einfach schauspieler ist, sondern traumtänzer, sänger, poet,
akrobat; einer, der dieses provinzkaff nicht mit grossen gedanken oder grossen
gesten aufmischt, sondern durch seine blosse, unfassbare anwesenheit. eine mysteriöse
wucht, dieser mann. das menschenexperiment endet mit einem tödlichen schuss. er
verhallt schnell in der nachtblauen weite. und das karussell dreht sich weiter.
Montag, 26. November 2012
Sonntag, 25. November 2012
MÜNCHEN: DANTON (35)
warum
theater? „weil es eine total ehrliche form ist, eine geschichte zu erzählen. da
steht jemand, der mich mitnimmt auf eine reise, der stinkt, der schwitzt, der
komisch aussieht, der nicht sprechen kann, der fehler macht. aber der schafft
es, eine utopie loszuspinnen, mich zu entführen, mir mut zu machen.“ so sieht
das der regisseur simon solberg (33) im spielzeit-heft des münchner
volkstheaters. – wenn volkstheater-intendant christian stückl (51) jetzt georg
büchners (22) revolutionsdrama „dantons tod“ zeigt, dann scheint ihm genau diese „total
ehrliche form“ vorzuschweben: sechs junge hitzköpfe spielen sechs junge hitzköpfe.
ein schuppen, der vielleicht mal ein salon war, wo jetzt aber zwischen kaputten
brettern nur noch staub auf den wenigen sesseln und ein paar alten weinflaschen
liegt, bildet die ideale szenerie: auf diesem holzboden der geschichte ringen
danton (35) und seine jungen mit- und widerstreiter um die richtige idee, den
richtigen weg. historische kostüme und perücken – und trotzdem lässt dieses
kraftvolle junge ensemble büchners zwischen politik und poesie mäandrierende
sprache zeitlos, ja heutig strahlen. zögern, zaudern, zweifeln an der richtigen
idee, schwitzen und stinken und hartnäckig dranbleiben an der utopie, 1794 und
2012.
Montag, 19. November 2012
MÜNCHEN: LOHENGRIN IM REIHENHAUS
was
ist der unterschied zwischen dem operntenor klaus florian vogt und dem ski- und
schlagerhammer hansi hinterseer? nun ja, nicht ganz einfach zu beantworten…
jämmerlich schaut er aus, klaus florian vogt als schwanenritter lohengrin –
softblaues t-shirt, graue trainerhose mit silberstreifen, blonde langhaarfrisur
mit viel fön und noch mehr gel, ein hinterseer-wiedergänger. in der münchner
inszenierung (wo jonas kaufmann vor drei jahren die première sang) ist lohengrin
der kumpel von nebenan. der hilft, wo er kann. regisseur richard jones verlegt
die sage ins spiesser-milieu von heute und nennt seine inszenierung eine
„meditation über das scheitern“, eine überaus konsequente meditation: während
drei akten wird das reihenhaus, lebensperspektive für sicherheit und ordnung, aufgebaut
und am schluss lieblos abgefackelt. und hansi hinterseer? pardon: klaus florian
vogt? der ist mit einem traumhaft schönen tenor gesegnet, mit eleganter wärme
überstrahlt er alle und alles, im fortissimo wie im pianissimo, die
gralserzählung singt er wie in trance. grossartig. das problem: die zeit, wo
heldentenöre nur gut bei stimme und üppig blond zu sein hatten und den rest mit
dem verklärten blick in die ferne erledigten (gleich hinterm parkett beginnt
das meer…), diese zeit ist definitiv vorbei. vogt bleibt in dieser durchdachten
inszenierung mit ihrer raffinierten psychologie ein fremdkörper: hansi
hinterseer aus versehen bei wagner 2.0!
Sonntag, 18. November 2012
ISTANBUL: MITTEN IN LUZERN
die
alte tram rattert die istiklal caddesi entlang, vom taksim zum tünel, umringt
von viel fussvolk auf dieser sehen-und-gesehen-werden-meile. istanbul früher
oder heute? und neben der fähranlegestelle karaköy verkaufen die fischer ihre
ware auf ihrem kleinen markt gleich selber, mehr fischer als fische. istanbul
früher oder heute? die schwarz-weiss-bilder zeigen die gleiche welt wie die romane
von orhan pamuk: einst und jetzt, arm und reich, orient-traditionen und west-kapital,
istanbul mit all seinen widersprüchen. diese bilder dürfen auch im „istanbul“
an der frankenstrasse in luzern nicht fehlen. ein hauch von hüzün liegt im
raum: die lust der türken an ihrer melancholie. daneben: coole farben, coole
designermöbel (holz!), hellwache junge kellnerinnen und kellner - das neue, das
aufregende istanbul. natürlich gibt´s für die sehnsuchtsmomente, die jeder
kennt, der mal am bosporus war, immer noch das exzellente istanbul-kochbuch von
gabi kopp (bereits in der vierten auflage), doch wenn die zeit oder die zutaten
fehlen, kann dieses neue grill-and-more-restaurant ein veritabler erlebnisersatz
sein: üppige kebabs in x variationen, nicht eingetütet, sondern mit köstlichen
beilagen und saucen gediegen auf dem teller angerichtet, ein vielfältiges
vielfarbiges meze-buffet – und eben genau die atmosphäre, die istanbul so
anziehend macht: früher oder heute? heute oder übermorgen?
Samstag, 17. November 2012
MÜNCHEN: ASYMMETRISCHE BÜRGER
was
macht ein spärlich behaarter, schwarz gewandeter oberammergauer philosophielehrer,
der den rechten arm im gips und eine getrüffelte kartoffelsuppe vor sich hat?
er versucht nicht, die suppe mit der linken hand zu essen, sondern lässt sie
sich von seiner partnerin, einer schwarz gewandeten oberammergauer
lateinlehrerin, einlöffeln. was vom existentialismus halt so übrig bleibt. wir
gucken diskret in eine andere richtung. da sitzen sieben ultimative nerds
(hornbrillen, asymmetrische bärte, blackhawks-sweatshirts) tisch an tisch mit
weisshaarigen deutschen bildungsbürgern (die einsamkeit der baumwollfelder…).
existentialismus, blackhawks und baumwollfelder in einem einzigen lokal? es ist
unsere lieblingsbeiz in münchen, mit dem etwas sperrigen namen „conviva im blauen
haus“. das ist das moderne, helle, ganz und gar symmetrische restaurant der münchner kammerspiele (hildegardstrasse 1):
die eine hälfte fürs personal, die andere hälfte fürs publikum, in der mitte
eine schwere alu-schiebewand, die im verlauf des abends geöffnet wird, auf dass
sich schauspieler und –innen und zuschauer und –innen treffen, begegnen,
vermischen. dazu werden zum beispiel steinpilzravioli gereicht oder tafelspitz
oder ziegenkäseflan mit grillgemüse oder blutwurst mit ingwerkruste. die karte
ist so abwechslungsreich wie das publikum. ein symmetrisch wie kulinarisch überaus
gelungenes konzept.
Freitag, 16. November 2012
RIGA: EIN BLICK AUFS DEUTSCHE KOPF-THEATER
body goes first. so lautet die devise
des lettischen starregisseurs alvis hermanis, der in einem interview mit „theater
heute“ kluge gedanken äussert über kopf und körper im zeitgenössischen theater.
das deutsche theater ist für ihn „nicht sexy“, weil dort zwar der kopfkanal
immer prächtig funktioniere („intellektuell ist das deutsche theater allen
anderen weit voraus“), selten aber die energetische ebene: die physische
präsenz, die sensitive atmosphäre werde den deutschen schauspielerinnen und
schauspielern „von ihren regisseuren abgeschnitten“. hermanis, der seit 15
jahren das neue theater riga leitet, findet ein schönes bild: „wenn man
tanzt, diskutiert man auch nicht den nächsten schritt, sondern man macht ihn.“
und er erinnert an grotowski: „was macht jemand zuerst, der aufgeregt ist?
schreit er oder springt er auf den tisch? er springt zuerst auf den tisch und schreit
dann.“ glücklicherweise arbeitet hermanis regelmässig mit deutschen
theaterleuten, in berlin, in münchen, in köln. er hat sie nicht aufgegeben und
lässt sie immer wieder experimentieren mit sinnlichem theater. body goes first.
der mann war vor seiner bilderbuch-theaterkarriere eishockeyspieler.
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