Montag, 26. November 2012

MÜNCHEN: ORPHEUS STEIGT HERAB

am anfang ist die bühne der münchner kammerspiele leer. leer und weit. diese weite wird in nachtblaues licht getaucht und erweist sich schnell als trügerisch. wir sind in einer kleinstadt im süden amerikas. zwei blonde tussen quatschen sich voll und machen unvermittelt klar, dass die weite die gedanken der menschen hier nicht zu erfassen vermag. in den köpfen herrschen enge, intoleranz, neid, angst; die nachtblaue idylle ist nur fassade. in dieses system schleust tennessee williams in „orpheus steigt herab“ einen vagabundierenden musiker ein (marlon brando machte ihn bekannt in „the fugitive kind“). diese übungsanlage nutzt sebastian nübling in seiner münchner inszenierung für ein geradezu physikalisches experiment, wo unsichtbare kräfte sichtbar werden, wo körper und seelen magnetischen wellen ausgeliefert sind, wo anziehendes und abstossendes zur explosiven mischung geraten. dazu nimmt er im verlauf des abends ein farbensattes kettenkarussell zu hilfe – und den 28jährigen risto kübar aus estland, der nicht einfach schauspieler ist, sondern traumtänzer, sänger, poet, akrobat; einer, der dieses provinzkaff nicht mit grossen gedanken oder grossen gesten aufmischt, sondern durch seine blosse, unfassbare anwesenheit. eine mysteriöse wucht, dieser mann. das menschenexperiment endet mit einem tödlichen schuss. er verhallt schnell in der nachtblauen weite. und das karussell dreht sich weiter.

Sonntag, 25. November 2012

MÜNCHEN: DANTON (35)

warum theater? „weil es eine total ehrliche form ist, eine geschichte zu erzählen. da steht jemand, der mich mitnimmt auf eine reise, der stinkt, der schwitzt, der komisch aussieht, der nicht sprechen kann, der fehler macht. aber der schafft es, eine utopie loszuspinnen, mich zu entführen, mir mut zu machen.“ so sieht das der regisseur simon solberg (33) im spielzeit-heft des münchner volkstheaters. – wenn volkstheater-intendant christian stückl (51) jetzt georg büchners (22) revolutionsdrama „dantons tod“ zeigt, dann scheint ihm genau diese „total ehrliche form“ vorzuschweben: sechs junge hitzköpfe spielen sechs junge hitzköpfe. ein schuppen, der vielleicht mal ein salon war, wo jetzt aber zwischen kaputten brettern nur noch staub auf den wenigen sesseln und ein paar alten weinflaschen liegt, bildet die ideale szenerie: auf diesem holzboden der geschichte ringen danton (35) und seine jungen mit- und widerstreiter um die richtige idee, den richtigen weg. historische kostüme und perücken – und trotzdem lässt dieses kraftvolle junge ensemble büchners zwischen politik und poesie mäandrierende sprache zeitlos, ja heutig strahlen. zögern, zaudern, zweifeln an der richtigen idee, schwitzen und stinken und hartnäckig dranbleiben an der utopie, 1794 und 2012.

Montag, 19. November 2012

MÜNCHEN: LOHENGRIN IM REIHENHAUS

was ist der unterschied zwischen dem operntenor klaus florian vogt und dem ski- und schlagerhammer hansi hinterseer? nun ja, nicht ganz einfach zu beantworten… jämmerlich schaut er aus, klaus florian vogt als schwanenritter lohengrin – softblaues t-shirt, graue trainerhose mit silberstreifen, blonde langhaarfrisur mit viel fön und noch mehr gel, ein hinterseer-wiedergänger. in der münchner inszenierung (wo jonas kaufmann vor drei jahren die première sang) ist lohengrin der kumpel von nebenan. der hilft, wo er kann. regisseur richard jones verlegt die sage ins spiesser-milieu von heute und nennt seine inszenierung eine „meditation über das scheitern“, eine überaus konsequente meditation: während drei akten wird das reihenhaus, lebensperspektive für sicherheit und ordnung, aufgebaut und am schluss lieblos abgefackelt. und hansi hinterseer? pardon: klaus florian vogt? der ist mit einem traumhaft schönen tenor gesegnet, mit eleganter wärme überstrahlt er alle und alles, im fortissimo wie im pianissimo, die gralserzählung singt er wie in trance. grossartig. das problem: die zeit, wo heldentenöre nur gut bei stimme und üppig blond zu sein hatten und den rest mit dem verklärten blick in die ferne erledigten (gleich hinterm parkett beginnt das meer…), diese zeit ist definitiv vorbei. vogt bleibt in dieser durchdachten inszenierung mit ihrer raffinierten psychologie ein fremdkörper: hansi hinterseer aus versehen bei wagner 2.0!

Sonntag, 18. November 2012

ISTANBUL: MITTEN IN LUZERN

die alte tram rattert die istiklal caddesi entlang, vom taksim zum tünel, umringt von viel fussvolk auf dieser sehen-und-gesehen-werden-meile. istanbul früher oder heute? und neben der fähranlegestelle karaköy verkaufen die fischer ihre ware auf ihrem kleinen markt gleich selber, mehr fischer als fische. istanbul früher oder heute? die schwarz-weiss-bilder zeigen die gleiche welt wie die romane von orhan pamuk: einst und jetzt, arm und reich, orient-traditionen und west-kapital, istanbul mit all seinen widersprüchen. diese bilder dürfen auch im „istanbul“ an der frankenstrasse in luzern nicht fehlen. ein hauch von hüzün liegt im raum: die lust der türken an ihrer melancholie. daneben: coole farben, coole designermöbel (holz!), hellwache junge kellnerinnen und kellner - das neue, das aufregende istanbul. natürlich gibt´s für die sehnsuchtsmomente, die jeder kennt, der mal am bosporus war, immer noch das exzellente istanbul-kochbuch von gabi kopp (bereits in der vierten auflage), doch wenn die zeit oder die zutaten fehlen, kann dieses neue grill-and-more-restaurant ein veritabler erlebnisersatz sein: üppige kebabs in x variationen, nicht eingetütet, sondern mit köstlichen beilagen und saucen gediegen auf dem teller angerichtet, ein vielfältiges vielfarbiges meze-buffet – und eben genau die atmosphäre, die istanbul so anziehend macht: früher oder heute? heute oder übermorgen?

Samstag, 17. November 2012

MÜNCHEN: ASYMMETRISCHE BÜRGER

was macht ein spärlich behaarter, schwarz gewandeter oberammergauer philosophielehrer, der den rechten arm im gips und eine getrüffelte kartoffelsuppe vor sich hat? er versucht nicht, die suppe mit der linken hand zu essen, sondern lässt sie sich von seiner partnerin, einer schwarz gewandeten oberammergauer lateinlehrerin, einlöffeln. was vom existentialismus halt so übrig bleibt. wir gucken diskret in eine andere richtung. da sitzen sieben ultimative nerds (hornbrillen, asymmetrische bärte, blackhawks-sweatshirts) tisch an tisch mit weisshaarigen deutschen bildungsbürgern (die einsamkeit der baumwollfelder…). existentialismus, blackhawks und baumwollfelder in einem einzigen lokal? es ist unsere lieblingsbeiz in münchen, mit dem etwas sperrigen namen „conviva im blauen haus“. das ist das moderne, helle, ganz und gar symmetrische restaurant der münchner kammerspiele (hildegardstrasse 1): die eine hälfte fürs personal, die andere hälfte fürs publikum, in der mitte eine schwere alu-schiebewand, die im verlauf des abends geöffnet wird, auf dass sich schauspieler und –innen und zuschauer und –innen treffen, begegnen, vermischen. dazu werden zum beispiel steinpilzravioli gereicht oder tafelspitz oder ziegenkäseflan mit grillgemüse oder blutwurst mit ingwerkruste. die karte ist so abwechslungsreich wie das publikum. ein symmetrisch wie kulinarisch überaus gelungenes konzept.

Freitag, 16. November 2012

RIGA: EIN BLICK AUFS DEUTSCHE KOPF-THEATER

body goes first. so lautet die devise des lettischen starregisseurs alvis hermanis, der in einem interview mit „theater heute“ kluge gedanken äussert über kopf und körper im zeitgenössischen theater. das deutsche theater ist für ihn „nicht sexy“, weil dort zwar der kopfkanal immer prächtig funktioniere („intellektuell ist das deutsche theater allen anderen weit voraus“), selten aber die energetische ebene: die physische präsenz, die sensitive atmosphäre werde den deutschen schauspielerinnen und schauspielern „von ihren regisseuren abgeschnitten“. hermanis, der seit 15 jahren das neue theater riga leitet, findet ein schönes bild: „wenn man tanzt, diskutiert man auch nicht den nächsten schritt, sondern man macht ihn.“ und er erinnert an grotowski: „was macht jemand zuerst, der aufgeregt ist? schreit er oder springt er auf den tisch? er springt zuerst auf den tisch und schreit dann.“ glücklicherweise arbeitet hermanis regelmässig mit deutschen theaterleuten, in berlin, in münchen, in köln. er hat sie nicht aufgegeben und lässt sie immer wieder experimentieren mit sinnlichem theater. body goes first. der mann war vor seiner bilderbuch-theaterkarriere eishockeyspieler.