Dienstag, 28. Februar 2012

ROM: INS LEBEN

in diesen schmalen gassen, wo man auch mit gedanken
überall aneckt; in diesem serpentinen-
bündel eines von der welt längst abgewandten
hirns, wo man, aufgeregt und abgespannt, die vielen
kirchen, die brunnen heimsucht - da gibt es kein halten
(wie bei der nadel, die über die schallplatte humpelt
und in der mitte vergisst: es ist schluss). der ungestalte
rest des lebens wird hier erträglich, man wundert
sich, dass vergangenes zu einem ganzen
werden, sich vollenden kann. die sohlen
trommeln arien aus dem pflaster, sie tanzen
serenaden - die zeit stimmt ihre frohen
lieder auf die zukunft an. das alles
kommt dem hündchen auf dem plattenlabel
wie ein auftritt von caruso vor, falls es
nicht schon weggelaufen ist - ins leben.
(joseph brodsky, römische elegien, VII)

Mittwoch, 22. Februar 2012

AIROLO: DAS KALB VOR DER GOTTHARDPOST

der emeritierte germanistik-professor peter von matt versteht es nicht nur trefflich, den worten auf den tiefsten grund zu gehen, der 75jährige erweist sich auch als hervorragender bildbetrachter. für seinen neuen essay-band „das kalb vor der gotthardpost“ (hanser) hat er sich eine schweizerische ikone vorgenommen, die die tremola hinunterrasende „gotthardpost“ eben, die rudolf koller 1873 malte und die heute im zürcher kunsthaus beheimatet ist. ausgehend von diesem bild – „die kühe schauen einem ereignis zu, das ihre fassungskraft übersteigt“ – schreibt von matt die seelengeschichte einer nation, die gefangen ist in der verquickung von fortschrittsglauben und konservatismus, „ein janusköpfiges voraus- und zurückschauen zugleich“. brillant durchstreift er literatur und politik und seziert die verherrlichung einer längst überholten oder nie dagewesenen idylle: „das problem für die schweiz ist, dass die welt ihr diesen arkadischen selbstentwurf lange zeit abgenommen und begeistert bestätigt hat.“ wohin das führt? da wird von matt sehr konkret – ohne namen zu nennen: „noch immer kommen sich leute, die stadtnah und an bevorzugter lage in angenehmen villen leben, als geborene bergler vor, spielen im nadelstreifenanzug den politischen wurzelsepp und werden dafür von andern synthetischen berglern beklatscht.“ glasklar wie einst frisch, messerscharf wie einst dürrenmatt – die lektüre ist ein intellektueller hochgenuss.

Sonntag, 19. Februar 2012

MÜNCHEN: SÄTZE WIE GIFTPFEILE

die ältere dame neben mir schläft göttlich und quasi flächendeckend. erstaunlich, weil armin petras´ inszenierung von ibsens „john gabriel borkman“ an den münchner kammerspielen ebenso flächendeckend aufrüttelt und verstört. die bühne ist keine bühne, sondern eine von olaf altmann (den herrn muss man sich merken) gebaute vertikale skulptur an der rampe, mit spitzen kanten, engen gängen, steilen rutschen, wie ein gigantischer blitz, der sich in die tiefe des theaters bohrt. und das schauspiel ist kein schauspiel, sondern eine waghalsige performance am abgrund; in diesem blitzungetüm, durch das immer wieder unmengen von ramschpapieren geblasen werden, hangeln und rangeln sich die borkmans durchs leben oder was davon übrig geblieben ist, hier kauern und kriechen sie und winden sich in ihrem elend. ausgesprochen physisches, teilweise groteskes theater. borkman hat seine bank mit illegalen transaktionen in den ruin und seine familie ins gesellschaftliche abseits getrieben (andré jung wird mit karabinern vor einem weiteren absturz gesichert…). die enttäuschungen und verletzungen sitzen tief bei gemahlin und schwägerin, bei freund und sohn - und mit sätzen, die in dieser hochpräzisen inszenierung wie giftpfeile in die offenen wunden geschossen werden, sorgen alle dafür, dass die qual der anderen keinesfalls kleiner werden möge als die eigene. familie als desaster, familie als horror, nicht enden wollend. viel applaus weckt meine nachbarin.

Samstag, 18. Februar 2012

SANTIAGO DE COMPOSTELA: MEDITATION

"der kurze fussmarsch zum komposthaufen ist der jakobsweg des kleinen mannes." - arno lücker, komponist, musikwissenschaftler, musikkritiker (*1979)

Freitag, 17. Februar 2012

MÜNCHEN: WEIHWASSER-PIPELINE

einmal schaut kurz der pater kazimierz aus tschenstochau vorbei und wirbt inständig und mit heftigem akzent für die „weihprom“, die neue weihwasser-pipeline von polen nach bayern. gegen die verwilderung der sitten. verlängerung nach lourdes optional. grossartige geschichte am rand. bayern ist auch nicht mehr, was es noch nie war. im januar haben sich die biermösl blosn aufgelöst, nach 3000 auftritten in 35 jahren, unter anderem weil ihnen das lieblingsfeindbild csu allmählich versickert. doch die drei biermösl-buam sind ja nur ein fünftel (!) der musikalischen grossfamilie well, die jetzt in die münchner kammerspiele zum „hausmusikabend“ lädt. als beweis, dass die well-bande, zu der auch die drei wellküren bärbi, burgi und moni gehören, lebt - und wie. das feingliedrige menuett aus mozarts „don giovanni“ gerinnt zu einem veritablen dissonanten familienkrach. alles haben sie drauf, einen herzergreifenden andachtsjodel und „yellow submarine“ auf drei alphörnern und die carmen-suite mit nonnentrompeten und dazwischen stories aus dem alltag einer grossfamilie, von nasenbluten bis nazi-onkel. inszeniert hat diese mordsgaudi (titel: "fein sein, beinander bleibn") der musiker franz wittenbrink, selber mit 12 geschwistern gesegnet. alles in allem schwingen an dem abend also die geschichten von 28 schwestern und brüdern mit. das wäre eine echte herausforderung für den guten alten hellinger. und ist es für mich als einzelkind erst recht: man sitzt und staunt und ist erschlagen. ah ja, und nicht nur pater kazimierz schaut kurz vorbei,  sondern auch gerhard polt. als st.nikolaus, der die ebenfalls auf der bühne parkierte 92jährige mutter der well-sippe kurz massregelt: „15 kinder? – das kommt mir aber nicht mehr vor.“