Sonntag, 16. Dezember 2012

BASEL: UN BALLO IN MASCHERA

odi tu gli accenti di morte? die wahrsagerin ulrica kniet in einem kreis aus kerzen und prophezeit gouverneur riccardo di warwick mit bebender stimme, dass seine liebe zur frau seines freundes und beraters renato mit seinem tod enden wird. hörst du die geräusche des todes? riccardo lacht nur über die angedrohte ermordung und die instrumente im orchestergraben lachen mit. doch geisterhaft tragen schwarze männer schwarze särge in die szene, immer mehr: das lachen kann den tod nicht fernhalten. mit geradezu psychoanalytischem zugriff illustriert die bulgarische regisseurin vera nemirova den „maskenball“ von giuseppe verdi am theater basel und schafft für die unausweichliche eskalation dieser dreiecksbeziehung bilder von höchster intensität. politische und private fassaden stürzen ein; die in der musik bereits angelegte fallhöhe von den anfänglichen opera-buffa-elementen zur schwärzesten tragödie wird dadurch atemberaubend. besser kann man das verdi-jahr nicht einläuten. wenn solistinnen und solisten (was für ein ensemble!) nicht nur ihre stimmen dramatisch aufzuladen vermögen, sondern spannung auch in jede einzelne personen-konstellation zu legen verstehen, dann wird oper zum thriller. als riccardo beim lyrischen zwischenspiel im 3.akt aus seiner bostoner stadtvilla auf die leere strasse stürzt, unterwegs zum maskenball, fällt sein blick plötzlich auf ein einsames kind, stumm wie ein engel, auch unterwegs zum maskenball. es ist als tod verkleidet. odi tu gli accenti di morte?

Montag, 10. Dezember 2012

ZÜRICH: HOMOKIS HOLLÄNDER-SPUK

was haben sich die zürcher gefürchtet vor ihrem neuen opernhaus-intendanten andreas homoki. irritation, provokation, agitation – auf alles haben sie sich eingestellt. und jetzt dies: bei seiner ersten eigenen première, „der fliegende holländer“ von richard wagner, bleibt homoki überraschend konventionell. das radikalste in seiner klugen inszenierung, die sich auf die inneren stürme konzentriert, ist der verzicht auf jegliche seefahrer-romantik. hier spielt die handlung in einem handelskontor zur kolonialzeit, viel schweres holz, ledersessel, bürolisten-inventar und über allem eine riesige afrika-karte. senta (anja kampe) verzweifelt an diesem spiessigen reeder-mief und sehnt sich nach erlösung durch den durch sagenwelt und weltmeere irrenden holländer. bryn terfel (zürcher debut!) ist das ereignis des abends. als wäre johnny depps captain sparrow in die jahre und in die pfunde gekommen, geistert dieser holländer durch sentas träume, taucht plötzlich auf, ist plötzlich weg, auch er ein auf erlösung hoffender, das phantom dieser oper. bryn terfel gestaltet mit seinem wuchtigen bassbariton jede silbe einzeln, eine stimme mit tausend farbnuancen. weltklasse. sehr differenziert geht auch der junge pariser dirigent alain altinoglu ans werk; die kammermusikalische transparenz interessiert ihn genauso wie der üppige orchesterklang. weil homoki zwischendurch auf gag-niveau fällt (uiuiui, ein negerhäuptling…), entwickelt dieser spuk trotzdem nicht den ultimativen sog, sondern bleibt ein weihnachts(grusel)märchen für erwachsene.

Montag, 26. November 2012

MÜNCHEN: ORPHEUS STEIGT HERAB

am anfang ist die bühne der münchner kammerspiele leer. leer und weit. diese weite wird in nachtblaues licht getaucht und erweist sich schnell als trügerisch. wir sind in einer kleinstadt im süden amerikas. zwei blonde tussen quatschen sich voll und machen unvermittelt klar, dass die weite die gedanken der menschen hier nicht zu erfassen vermag. in den köpfen herrschen enge, intoleranz, neid, angst; die nachtblaue idylle ist nur fassade. in dieses system schleust tennessee williams in „orpheus steigt herab“ einen vagabundierenden musiker ein (marlon brando machte ihn bekannt in „the fugitive kind“). diese übungsanlage nutzt sebastian nübling in seiner münchner inszenierung für ein geradezu physikalisches experiment, wo unsichtbare kräfte sichtbar werden, wo körper und seelen magnetischen wellen ausgeliefert sind, wo anziehendes und abstossendes zur explosiven mischung geraten. dazu nimmt er im verlauf des abends ein farbensattes kettenkarussell zu hilfe – und den 28jährigen risto kübar aus estland, der nicht einfach schauspieler ist, sondern traumtänzer, sänger, poet, akrobat; einer, der dieses provinzkaff nicht mit grossen gedanken oder grossen gesten aufmischt, sondern durch seine blosse, unfassbare anwesenheit. eine mysteriöse wucht, dieser mann. das menschenexperiment endet mit einem tödlichen schuss. er verhallt schnell in der nachtblauen weite. und das karussell dreht sich weiter.

Sonntag, 25. November 2012

MÜNCHEN: DANTON (35)

warum theater? „weil es eine total ehrliche form ist, eine geschichte zu erzählen. da steht jemand, der mich mitnimmt auf eine reise, der stinkt, der schwitzt, der komisch aussieht, der nicht sprechen kann, der fehler macht. aber der schafft es, eine utopie loszuspinnen, mich zu entführen, mir mut zu machen.“ so sieht das der regisseur simon solberg (33) im spielzeit-heft des münchner volkstheaters. – wenn volkstheater-intendant christian stückl (51) jetzt georg büchners (22) revolutionsdrama „dantons tod“ zeigt, dann scheint ihm genau diese „total ehrliche form“ vorzuschweben: sechs junge hitzköpfe spielen sechs junge hitzköpfe. ein schuppen, der vielleicht mal ein salon war, wo jetzt aber zwischen kaputten brettern nur noch staub auf den wenigen sesseln und ein paar alten weinflaschen liegt, bildet die ideale szenerie: auf diesem holzboden der geschichte ringen danton (35) und seine jungen mit- und widerstreiter um die richtige idee, den richtigen weg. historische kostüme und perücken – und trotzdem lässt dieses kraftvolle junge ensemble büchners zwischen politik und poesie mäandrierende sprache zeitlos, ja heutig strahlen. zögern, zaudern, zweifeln an der richtigen idee, schwitzen und stinken und hartnäckig dranbleiben an der utopie, 1794 und 2012.

Montag, 19. November 2012

MÜNCHEN: LOHENGRIN IM REIHENHAUS

was ist der unterschied zwischen dem operntenor klaus florian vogt und dem ski- und schlagerhammer hansi hinterseer? nun ja, nicht ganz einfach zu beantworten… jämmerlich schaut er aus, klaus florian vogt als schwanenritter lohengrin – softblaues t-shirt, graue trainerhose mit silberstreifen, blonde langhaarfrisur mit viel fön und noch mehr gel, ein hinterseer-wiedergänger. in der münchner inszenierung (wo jonas kaufmann vor drei jahren die première sang) ist lohengrin der kumpel von nebenan. der hilft, wo er kann. regisseur richard jones verlegt die sage ins spiesser-milieu von heute und nennt seine inszenierung eine „meditation über das scheitern“, eine überaus konsequente meditation: während drei akten wird das reihenhaus, lebensperspektive für sicherheit und ordnung, aufgebaut und am schluss lieblos abgefackelt. und hansi hinterseer? pardon: klaus florian vogt? der ist mit einem traumhaft schönen tenor gesegnet, mit eleganter wärme überstrahlt er alle und alles, im fortissimo wie im pianissimo, die gralserzählung singt er wie in trance. grossartig. das problem: die zeit, wo heldentenöre nur gut bei stimme und üppig blond zu sein hatten und den rest mit dem verklärten blick in die ferne erledigten (gleich hinterm parkett beginnt das meer…), diese zeit ist definitiv vorbei. vogt bleibt in dieser durchdachten inszenierung mit ihrer raffinierten psychologie ein fremdkörper: hansi hinterseer aus versehen bei wagner 2.0!

Sonntag, 18. November 2012

ISTANBUL: MITTEN IN LUZERN

die alte tram rattert die istiklal caddesi entlang, vom taksim zum tünel, umringt von viel fussvolk auf dieser sehen-und-gesehen-werden-meile. istanbul früher oder heute? und neben der fähranlegestelle karaköy verkaufen die fischer ihre ware auf ihrem kleinen markt gleich selber, mehr fischer als fische. istanbul früher oder heute? die schwarz-weiss-bilder zeigen die gleiche welt wie die romane von orhan pamuk: einst und jetzt, arm und reich, orient-traditionen und west-kapital, istanbul mit all seinen widersprüchen. diese bilder dürfen auch im „istanbul“ an der frankenstrasse in luzern nicht fehlen. ein hauch von hüzün liegt im raum: die lust der türken an ihrer melancholie. daneben: coole farben, coole designermöbel (holz!), hellwache junge kellnerinnen und kellner - das neue, das aufregende istanbul. natürlich gibt´s für die sehnsuchtsmomente, die jeder kennt, der mal am bosporus war, immer noch das exzellente istanbul-kochbuch von gabi kopp (bereits in der vierten auflage), doch wenn die zeit oder die zutaten fehlen, kann dieses neue grill-and-more-restaurant ein veritabler erlebnisersatz sein: üppige kebabs in x variationen, nicht eingetütet, sondern mit köstlichen beilagen und saucen gediegen auf dem teller angerichtet, ein vielfältiges vielfarbiges meze-buffet – und eben genau die atmosphäre, die istanbul so anziehend macht: früher oder heute? heute oder übermorgen?

Samstag, 17. November 2012

MÜNCHEN: ASYMMETRISCHE BÜRGER

was macht ein spärlich behaarter, schwarz gewandeter oberammergauer philosophielehrer, der den rechten arm im gips und eine getrüffelte kartoffelsuppe vor sich hat? er versucht nicht, die suppe mit der linken hand zu essen, sondern lässt sie sich von seiner partnerin, einer schwarz gewandeten oberammergauer lateinlehrerin, einlöffeln. was vom existentialismus halt so übrig bleibt. wir gucken diskret in eine andere richtung. da sitzen sieben ultimative nerds (hornbrillen, asymmetrische bärte, blackhawks-sweatshirts) tisch an tisch mit weisshaarigen deutschen bildungsbürgern (die einsamkeit der baumwollfelder…). existentialismus, blackhawks und baumwollfelder in einem einzigen lokal? es ist unsere lieblingsbeiz in münchen, mit dem etwas sperrigen namen „conviva im blauen haus“. das ist das moderne, helle, ganz und gar symmetrische restaurant der münchner kammerspiele (hildegardstrasse 1): die eine hälfte fürs personal, die andere hälfte fürs publikum, in der mitte eine schwere alu-schiebewand, die im verlauf des abends geöffnet wird, auf dass sich schauspieler und –innen und zuschauer und –innen treffen, begegnen, vermischen. dazu werden zum beispiel steinpilzravioli gereicht oder tafelspitz oder ziegenkäseflan mit grillgemüse oder blutwurst mit ingwerkruste. die karte ist so abwechslungsreich wie das publikum. ein symmetrisch wie kulinarisch überaus gelungenes konzept.

Freitag, 16. November 2012

RIGA: EIN BLICK AUFS DEUTSCHE KOPF-THEATER

body goes first. so lautet die devise des lettischen starregisseurs alvis hermanis, der in einem interview mit „theater heute“ kluge gedanken äussert über kopf und körper im zeitgenössischen theater. das deutsche theater ist für ihn „nicht sexy“, weil dort zwar der kopfkanal immer prächtig funktioniere („intellektuell ist das deutsche theater allen anderen weit voraus“), selten aber die energetische ebene: die physische präsenz, die sensitive atmosphäre werde den deutschen schauspielerinnen und schauspielern „von ihren regisseuren abgeschnitten“. hermanis, der seit 15 jahren das neue theater riga leitet, findet ein schönes bild: „wenn man tanzt, diskutiert man auch nicht den nächsten schritt, sondern man macht ihn.“ und er erinnert an grotowski: „was macht jemand zuerst, der aufgeregt ist? schreit er oder springt er auf den tisch? er springt zuerst auf den tisch und schreit dann.“ glücklicherweise arbeitet hermanis regelmässig mit deutschen theaterleuten, in berlin, in münchen, in köln. er hat sie nicht aufgegeben und lässt sie immer wieder experimentieren mit sinnlichem theater. body goes first. der mann war vor seiner bilderbuch-theaterkarriere eishockeyspieler.

Sonntag, 28. Oktober 2012

MÜNCHEN: MAXIMILIANSTRASSE BY JELINEK

das timing könnte perfekter nicht sein. schnee fällt in der maximilianstrasse, es ist eisig in der glitzerwelt. und drinnen, in den münchner kammerspielen an der maximilianstrasse 26, die aus anlass ihres 100-jahr-jubiläums bei elfriede jelinek ein stück über die maximilianstrasse bestellt haben, werden hundert säcke mit eiskörnern auf die bühne gekippt. die kristalle schmelzen während der knapp dreistündigen uraufführung, das edel-blendende weiss endet in matsch und wasserlachen. regisseur johan simons und seine bühnenbildnerin eva veronica born haben ein imposantes bild gefunden zu dieser phantasie über schein und sein an der münchner luxus-meile. das programmheft droht: „129 seiten sprachfläche, fein kommatiert und spärlich gepunktet, ohne absätze: das stück ist ein monstrum.“ so ist es. frau jelinek dreht ihre reflexionen über die funkelnden fassaden und die leere der menschen dahinter durch ihre redundanz-maschine; doch was bei anderen sujets einen unwiderstehlichen sog entwickelt, endet in „die strasse. die stadt. der überfall.“ in breiter langeweile. nix neues aus der abteilung kapitalismus-kritik. zwei schauspieler retten den abend: sandra hüller ist als prototyp der maximilianstrasse-kundin, die mit borniertheit und botox ihr elend als zahnarztgattin zu überspielen versucht, schlicht genial. und benny claessens zerrt, unvermeidlich, den ermordeten münchner modeschöpfer rudolph moshammer ins leben zurück, lässt ihn herzergreifend um sich selber trauern und um seinen hund daisy – und ist fest davon überzeugt, dass sein tod auch der tod der maximilianstrasse war. so sie denn je gelebt hat.

Samstag, 27. Oktober 2012

GUILIN: CHINESISCHE VIELFARBENKITSCHORGIE

alles ist in üppigste und grellste farben getaucht: die romantisch übersüsste akrobatik-show in shanghai, das son-et-lumière-spektakel am westsee in hangzhou, die plakate für neue hochhaussiedlungen in xi'an, die samstagabendkiste auf cctv. knallgrün, signalrot, tiefes seelenblau und verführerisches violett - tolle farben, nur: immer von allem und immer von allem zu viel. als westler fühlt man sich nach der berieselung und betrachtung immer leicht klebrig und spürt das dringende bedürfnis, mit einem cognac die kutteln zu spülen. auch der schilfrohrflötenhöhle an einem nebenarm des li-flusses bei guilin, einer ansammlung riesiger tropfstein-kathedralen, bleibt diese handelsübliche permanente farbenorgie nicht erspart. als ich unseren 30jährigen guiliner guide darauf anspreche, ob es denn immer gleich eine überdosis sein müsse, liefert er die absolut überzeugende antwort: "wissen sie, wir hatten viel zu lange viel zu wenig farbe." nachholbedarf einer ganzen nation. ich schaue seither ganz anders auf dieses kitschige farbenmeer. - das wäre jetzt der richtige zeitpunkt für ein china-buntes nachtessen. erste schale: krevetten, mit zwiebelringen und kefen in curry gedünstet. zweite schale: kleine stücke von der pouletbrust in öl gebraten, mit gerösteten erdnüssen, gehacktem chili, frischem koriander und sojasauce; dazu reis. dritte schale (nachspeise): schwarzer reis, in kokosmilch gekocht, mit anis, honig und frischem ingwer nachgewürzt, darauf frische mango-stücke. chinesisch kochen für anfängerinnen.    

Montag, 22. Oktober 2012

HANGZHOU: MO WHO?

mo yan also. mo who? als bekannt wird, dass der literatur-nobelpreis dieses jahr dem chinesischen schriftsteller mo yan verliehen wird, bin ich in hangzhou (im westen kennt man diese stadt nicht mal dem namen nach, für die chinesen ist sie das paradies auf erden). ich mache die probe aufs exempel, besuche verschiedene buchhandlungen und erkundige mich nach werken von mo yan. mo who? die verkäuferinnen und verkäufer haben keine ahnung, wer das ist. geschweige denn hätten sie seine bücher in der auslage oder auf lager. schon seltsam: chinesische buchhändler kennen den chinesischen literatur-nobelpreisträger nicht. stolz ist hier niemand auf diesen preis, auch der staat nicht - obwohl mo yan im westen als staatsdichter abgestempelt wird. die offizielle "china daily" schreibt tags darauf, die chinesische literatur habe bedeutend besseres zu bieten und irgendwelche benotungen und befeuerungen aus schweden brauche sie schon gar nicht. eine buchhändlerin löst das problem mit chinesischer eleganz: schon im zweiten satz landet sie bei den e-learning-programmen und bietet mir so was wie "perfekt chinesisch in drei wochen" an. die botschaft ist klar: lerne zuerst chinesisch, bevor du dich nach irgendwelchen unbekannten dichtern erkundigst. 

Montag, 1. Oktober 2012

BEIJING: DER WEG ZUM GLÜCK

"wer ständig glücklich sein möchte, muss sich oft verändern." chinesisches sprichwort (in meinen reiseunterlagen) - also!

Montag, 10. September 2012

LUZERN: LA CLEMENZA DI TITO

der römische kaiser titus betritt die szene. in einem strahlendweissen brautkleid wirkt er wie ein vitaminarmer, verzweifelter transvestit. eine szene später gibt er den schwarzgewandeten fernöstlichen kampfguru. und danach zeigt er sich auch noch als nickelbebrilltes lateinlehrerchen. aber hallo?! die zahllosen optischen und dramaturgischen irritationen, mit denen die bulgarische regisseurin vera nemirova am luzerner theater arbeitet, lassen darauf schliessen, dass sie mit diesem titus und/oder seinem darsteller utku kuzuluk nicht wirklich klar kommt. zu ihrer entlastung: mozarts stringenteste oper ist „la clemenza di tito“ tatsächlich nicht; herrschertugenden zu preisen, und das auch noch als auftragswerk zur krönung eines herrschers, war nicht eben die dankbarste aufgabe. trotzdem geizt er nicht mit raffinierten emotionalen kulminationspunkten, zu denen frau nemirova anfangs ein paar soft-erotik-nümmerchen auf dekorativ hingestreuten roten rosen drappiert: entschieden zu harmlose bilder für einen mörderischen mix aus intrigen und verschwörungen. erst im zweiten akt, wo zunächst die gefühle und dann die politische lage definitiv ausser kontrolle geraten, bevor titus seine milde walten lässt, erst da schafft sie den anschluss an die intensität der musik: da macht sie aus dem mozart-plot einen richtig guten luzerner „tatort“, spannend, bewegend, berührend. das, immerhin, schafft nicht jeder. das luzerner sinfonieorchester unter howard arman liefert dazu einen soundtrack von geradezu elektrisierender präsenz. und die vielen neuen jungen stimmen im ensemble machen lust auf mehr.   

Freitag, 7. September 2012

MÜNCHEN: GELD UND GEIST UND RINGSGWANDL

er redet wie ein senior mit einem 500-kubik-rollator: der bayerische vollblut-und-vollgas-künstler (musiker, kabarettist, autor) georg ringsgwandl. „reden wir über geld mit…“ heisst eine endlos-serie im wirtschaftsteil der süddeutschen zeitung - und ringsgwandl lässt sich geradezu leidenschaftlich auf das thema ein und gewährt abgrundtiefe einblicke in den kulturbetrieb. vor gut 20 jahren gab der heute 63jährige seinen job als arzt („hier ein infarkt, da eine lungenembolie“) auf, weil ihn die kunst definitiv mehr reizte als die spital-karriere: „die sicherheit birgt den virus der verblödung in sich. sie macht eben nicht menschlicher oder geistig reger. die unsicherheit wirkt wie eine konstante lebensinjektion.“ wer dann allerdings dem erfolg zuliebe den charakter über bord kippe, der werde vom schicksal aufs übelste bestraft: „ich kenne musiker, die im rock´n´roll nichts wurden und deshalb auf zillertaler schürzenjäger machten. die sind bitterlich gescheitert. auch kommerzielle volksmusik muss man mit überzeugung und seele machen. du kannst den leuten nichts vormachen.“ er geht mit seinen berufskollegen hart ins gericht: „die sogenannten künstler sind oft abwegig geldgeil. die gesellschaft verehrt sie als inbegriff des besseren menschseins, während sie den bankdirektor als schwein betrachtet. dabei sind bankdirektoren integere, anständige leute im vergleich zur masse der künstler.“ ja, und was macht dieser künstler, wenn das geld dann einmal da ist, aber der erfolg weg? „dann hockt er mit seinen millionen in starnberg und schaut mit seiner tussi auf den see raus.“ er könnte einem wirklich leid tun, der schöne starnberger see.

Mittwoch, 29. August 2012

LUZERN: NEUN BUNDESRÄTE AUF SCHABKARTON

neun bundesräte stehen in einer reihe nebeneinander und halten sich an zwei gigantischen stricknadeln fest. sie stricken an einem riesigen irgendwas mit schweizer kreuz in der mitte. nein, sie stricken eben nicht, denn neun bundesräte haben 18 hände, und auf diese weise lassen sich zwei stricknadeln definitiv nicht zielführend bewegen. das kann keinen richtigen pulli geben und schon gar keine richtige schweiz. dermassen konzis und brillant illustrierte gabi kopp in der "nzz am sonntag" eine kolumne, die weniger statt mehr bundesräte forderte. seit zehn jahren kommentiert die luzerner illustratorin dort den politischen lauf der dinge mit einer schwarz-weissen, 11,5 auf 11,5 zentimeter grossen vignette in schabkartontechnik, mal liebevoll, mal bitterbös - und höchst konsequent und diszipliniert, woche für woche. sie muss es lieben, dieses schwierige land. über 300 dieser illustrationen sind jetzt im betagtenzentrum rosenberg in luzern zu sehen. wie ein langes band ziehen sich die kleinen quadrate durch foyers und korridore: das ergibt ein prächtig kurzweiliges panoptikum schweizerischer befindlichkeiten, diskussionen und absurditäten. noch selten haben schwarz und weiss eine so farbige schweiz ergeben wie auf gabi kopps kartons.

Freitag, 24. August 2012

HAMBURG: 66873 HEBT AB

ich bin die nummer 66873. die besucherinnen und besucher von antony gormleys horizon field in der grossen deichtorhalle in hamburg werden durchnummeriert. wie alle anderen (seit ende april und noch bis mitte september) muss auch 66873 an der garderobe die schuhe deponieren und sich dann auf die socken machen, hin zum objekt der begierde, das gut sieben meter über dem boden in der riesigen halle hängt: eine 49 auf 25 meter grosse, schwarz-spiegelnde, schwebende ebene. auf der einen seite führt eine treppe hinauf, auf der anderen seite führt eine hinunter. bis zu 100 personen dürfen gleichzeitig oben sein. und dann? eben, eine 49 auf 25 meter grosse, schwarz-spiegelnde, schwebende ebene. sonst nichts? sonst nichts. der besucher ist das kunstwerk, sein spiel mit all diesen spiegelungen und schwingungen – mal schaut’s aus, als ob er im wasser stünde, mal schaut’s aus, als ob er in den lüften hinge. antony gormley beschäftigt sich seit jahren mit dem verhältnis des menschlichen körpers zum raum. auf dem horizon field verführt er den besucher zu wahrnehmungsexperimenten, zu neuen erfahrungen. völlig losgelöst liegen, tanzen, plaudern, entspannen, staunen, umarmen, beobachten, beobachten, beobachten. sich und die anderen. der fliegende teppich wird zum fliegenden theater. hier, dem himmel ein stück näher, überbrückt 66873 die theaterlose, die schreckliche zeit.

Mittwoch, 1. August 2012

LÜBECK: WAGNER-REZEPTION, PHASE 1

"ich spiele dies nicht, gnädige frau, ich bin ihr ergebenster diener, aber ich spiele dies nicht! das ist keine musik... glauben sie mir doch... ich habe mir immer eingebildet, ein wenig von musik zu verstehen! dies ist das chaos! dies ist demagogie, blasphemie und wahnwitz! dies ist ein parfümierter qualm, in dem es blitzt! dies ist das ende aller moral in der kunst! ich spiele es nicht!" und mit diesen worten hatte er sich wieder auf den sessel geworfen und, während sein kehlkopf auf und nieder wanderte, unter schlucken und hohlem husten weitere fünfundzwanzig takte hervorgebracht, um dann das klavier zu schliessen und zu rufen: "pfui! nein, herr du mein gott, dies geht zu weit! (...) und das kind, dort sitzt das kind auf seinem stuhle! es ist leise hereingekommen, um musik zu hören! wollen sie seinen geist denn ganz und gar vergiften?" (aus thomas mann, "buddenbrooks" - am tag, als gerda buddenbrook, eine leidenschaftliche verehrerin der neuen musik, ihrem musiklehrer, herrn pfühl, zum ersten mal klavierauszüge aus "tristan und isolde" aufs pult gelegt und ihn gebeten hatte, ihr daraus vorzuspielen)

Samstag, 21. Juli 2012

MICHIGAN: SPRACHE DER MACHT, MACHT DER SPRACHE

wonderful world of words. heute: die sprache der mächtigen, folge 237. mitt romney neulich in michigan (zitate aus der sz): "ich liebe diesen staat. hier ist alles genau richtig. die bäume haben die richtige höhe. ich sehe die seen gerne. ich liebe die seen. es gibt hier etwas ganz besonderes. die grossen seen, aber auch all die kleinen seen... ich liebe autos. als ich aufgewachsen bin, war ich total verliebt in autos... ich liebe autos. ich liebe amerikanische autos. mögen sie die welt noch lange beherrschen." mitt romneys vorlieben zum zweiten: "ich liebe kuchen. es gibt fast keinen kuchen, den ich nicht mag. ich liebe rhabarberkuchen. ich liebe kokosnuss-kuchen und bananencreme-kuchen. ich liebe guten apfelkuchen, kirschkuchen, blaubeerkuchen. ich mag ganz einfach kuchen." mitt romneys vorlieben zum dritten: "ich mag witze ebenso wie dinge, die lustig sind." - romney als bush III, oh my god!!!

Mittwoch, 18. Juli 2012

HIDDENSEE: HAUPTMANN UND MANN

"von tag zu tag werden wir frischer, heiterer, sorgloser. wir verändern uns." so notierte gerhart hauptmann im august 1896 auf hiddensee in sein tagebuch. geht uns ganz ähnlich. wir wohnen in der pension wieseneck, das haus von gerhart hauptmann haben wir gleich gegenüber auf der anderen strassenseite. nicht nur hauptmann verbrachte auf hiddensee die sommerfrische, auch sigmund freud, asta nielsen, käthe kollwitz, gustaf gründgens und - thomas mann. das war zu viel, hauptmann und mann, zwei grosse dichter auf einer kleinen insel, das konnte nicht gut gehen. und es ging nicht gut: hauptmann führte sich auf wie der könig der insel, der keinen zweiten könig neben sich duldet. mann schäumte und rächte sich, indem er hauptmann literarisch karikierte. ein kampf der diven, man möchte nur allzu gerne dabei gewesen sein. jetzt nimmt man halt jeden für sich: vormittags den nobelpreisträger von 1912 (rumstreunen im hübschen, hellen gerhart-hauptmann-pavillon), nachmittags den nobelpreisträger von 1929 (eintauchen in die "buddenbrooks" von thomas mann). ja, und abends beim zweiten glas nach dem fisch versucht man es sich dann doch noch einmal lustvoll vor augen zu führen, dieses längst vergangene urlaubs-duell der missgestimmten dichterfürsten.

Samstag, 7. Juli 2012

GISWIL: VON MÖNCHEN UND MATRATZEN

zur ersten begegnung mit den buddhistischen mönchen aus bhutan, die erstmals ihre klösterliche heimat verliessen und dieses jahr die hauptattraktion sind beim volkskulturfest obwald, kommt es bei einem sonst meist leeren bettengeschäft an der brünigstrasse in giswil. durch die riesigen schaufenster sehen wir die mönche in ihren rot-orangen gewändern im laden herumwieseln, überall die härte von schweizer matratzen und die qualität hiesiger lammfelle testend. ganz offenkundig wollen sie wissen, wie sich glück im westen anfühlt. die zweite begegnung dann auf der hotelterrasse, wo sie herzlich lachen und freundlich grüssen. sie haben den kulturschock überlebt. am abend, unter dem riesigen obwald-zeltdach, nach urnäscher zäuerli und sachsler betruf, sind die zwölf männer wieder ganz im fernen osten und bei sich: zu zwölft sitzen sie auf der breiten bühne in einer reihe nebeneinander und stimmen mit monotoner miene ihre monotonen gebete und gesänge an, ein rituelles gurgeln und röhren, das von tiefen religiösen gefühlen zeugt und auch solche wecken kann. dass martin hess diese mutige programmierung gewagt hat, ist erfreulich. und höchst erfreulich auch, wie alle zuschauerinnen und zuschauer, auch wenn sie musikalisch den zugang nicht finden, sich voller andacht oder stille auf diese meditative stunde einlassen. obwald ist ein festival, wo nicht die show zählt, sondern die authentizität. das sind grosse momente.   

Donnerstag, 5. Juli 2012

LUZERN: FERNWEH

lontano, lontano, lontano,
sui flutti d’un ampio oceano,
fra i roridi effluvi del mar,
fra l’alghe, fra i fior, fra le palme
il porto dell’intime calme,
l’azzurra isoletta m’appar.
m’appare sul cielo sereno
ricinta d’un arcobaleno
specchiante il sorriso del sol.
la fuga dei liberi amanti
speranti, migranti, raggianti
dirige a quell’isola il vol.
kartengrüsse unserer italienischen freunde? nein! werbematerial des all-inclusive-resorts lontano bei olbia auf sardinien? nein! – wer diese verse laut liest, wird schnell bemerken, wie hochmusikalisch sie angelegt sind. sie stammen von einem hochmusikalischen mann, arrigo boito, der als komponist nur mässigen, als librettist von verdi dagegen überwältigenden erfolg hatte. diese zeilen sind das herzergreifende duett aus boitos oper „mefistofele“, das margherita und faust im kerker säuseln und singen: sie träumen von der flucht in eine andere welt, sehnsucht, fernweh. eine melodie für die kommenden wochen. lontano, lontano, lontano.    

Montag, 2. Juli 2012

BEROMÜNSTER: BERÜHRT VON BRAHMS

„freude und wonne werden sie ergreifen, und schmerz und seufzen wird weg müssen.“ das ist grammatikalisch zumindest zwiespältig. aber gut gemeint. johannes brahms legte seinem „deutschen requiem“ worte der heiligen schrift zugrunde und komponierte dazu eine musik voller feierlicher trauer und strahlender zuversicht. ein meisterwerk des trostes. in beromünster erklingt es in der fassung für kammerorchester von ingo schulz. lorenz ganz dirigiert den singkreis maihof luzern und den kirchenchor beromünster sowie die camerata musica luzern. die pfarrkirche st.stephan platzt beinahe, der chorraum ist zu eng für die musikerinnen und musiker, der mensch ist nicht allein; alles in allem also eine ideale optische umsetzung der grundthematik. die hingabe dieser wohl hundert laien und einiger weniger profis beeindruckt und gibt dem werk, das die schönheit des jenseitigen lebens preist und verspricht, eine zusätzliche optimistische dimension: das sind alles menschen, die hoffen. durch seine zarten farben und seine tiefe berührt dieses requiem gläubige und nichtgläubige gleichermassen. als das pianissimo-finale ausklingt, zwitschert draussen vor der kirche von beromünster vergnügt und völlig ungeniert ein vogel und verlängert das werk in die von brahms angedachte richtung. regie des himmels.

Sonntag, 1. Juli 2012

WEGGIS: BEI KURT IST IMMER WAS LOS

vor einigen jahren bummelten wir an einem neujahrstag von vitznau dem ufer entlang nach weggis. eine garstige angelegenheit: nebel, sprühregen, kälte, wind. als wir in weggis beim kurpavillon ankamen, hing dort am menschenleeren quai ein riesiges schild: „in weggis ist immer was los!“ es erfasste uns eine kalte depression und der slogan wurde zum familieninternen running gag für trübe tage. an ebendiesem ort hat kurt zurfluh jetzt live seine 270. und letzte ausgabe von „hopp de bäse“ moderiert und den angeschlagenen slogan seiner wahlheimat aufs trefflichste rehabilitiert. immer was los, 70 minuten lang, die tv-show wird zum volksfest: kurt gibt alles (professionell, sympathisch, echt bis zur letzten sekunde), die weggiser geben alles, die tv-equipe gibt alles und die schweizer volksmusikszene gibt alles. am schluss stehen neun der besten ländlerkapellen und handorgelduos und jodelchöre gemeinsam vor der eindrücklichen see- und bergkulisse und ehren den abtretenden moderator und freund mit der „steiner chilbi“. nur ein einziges mal haben sie’s in dieser riesen-formation geprobt – es wird zu einer perfekten, vielstimmigen, grandiosen dankeshymne für eine tv-legende. und von alt-bundesrat adolf ogi gibt’s für kurt einen kandersteger kristall, wie einst für kofi annan!! da bleibt kein auge trocken, da ist in weggis echt was los.

Donnerstag, 28. Juni 2012

GENÈVE: MARS-501 - LE RETOUR

irgendwann gegen ende der 520-tägigen mars-mission zieht der irre sergej die mit einem kabel abgewürgte hand der kommandantin aus seiner hosentasche und grinst dazu ziemlich dreckig. der sauerstoff im raumschiff wird knapp und der irre sergej ist der einzige, der realisiert, dass er nicht für alle bis zur landung reichen wird und mit teambildung also eher nichts mehr zu holen ist. der junge genfer informatiker (!) nicolas vivier hat mit „mars-501 – le retour“ eine aberwitzige science-fiction-komödie geschrieben und sie jetzt mit sechs ebenso jungen und höchst wandelbaren laien im théâtre contretemps in genf inszeniert. auf der ostseite des kellerraums der mars, auf der westseite die erde (exakter das centre scientifique de développement aérospatial du groupement international pour la recherche physique et biochimique), auf den zehn metern zwischen mars und erde das publikum. on se bouge et s’amuse formidable. die fünf hochdotierten wissenschaftler wähnen sich auf dem weg zum heldentum und ahnen nicht, dass die mars-mission und der finale sauerstoffentzug nur ihrer gezielten entsorgung dient, weil sie – durch amouröse oder mafiöse bande – den mächtigen zu lästig werden könnten. man schaut ja immer wieder gern hinter die kulissen der macht, wo der witz und der wahnsinn siamesische zwillinge sind. diese jungen haben da bereits eine durchaus präzise und durchaus beängstigende vorstellung. und, ach ja, dieser irre sergej, der das kommandantinnen-händchen im sack und das jack-nicholson-grinsen auf dem gesicht und auch sonst noch einiges drauf hat, heisst im richtigen leben dario brander. musste doch noch gesagt sein.

Donnerstag, 14. Juni 2012

BASEL: ART, ART, ART

buntes pflästerli. generalverdacht. bleistiftabsätze. schmetterlingsflügel. barock-opulente wand mit 288 verschiedenen hängevasen. zynische buchstabenobjekte. ein riesiges xylofon. statements-koje. 175‘000 dollar. buddha in alu. erhöhte seismische aktivität. imponderabilia. mit glitzernden totenschädeln verzierte hinterbacken. kartenhaus. 180‘000 euro. first choice. architecture without architects. drei schicksale im luftleeren raum. gekröse. leichtfüssiger nonsens. big pig. auf riesigem bretterboden herumpickender vogelschwarm. kartoffel im meer. männer mit flugzeugen. 1000 polaroidaufnahmen. hure am strassenrand. hundetrainerin. bettwärme. mehr einkehr. hermetisch abgeriegeltes inselchen von trotziger schönheit. nice tits. globale wunde. first point. aus dem bauch heraus aufs papier. surferbraut. mörderhacken, of course. – wenn man das (danke, nzz und tages-anzeiger fürs trend-scouting) drei oder vier mal liest, beschleicht einen das zunächst diffuse und dann irgendwie erleichternde gefühl, die art basel 2012 bereits besucht zu haben. oder war es letztes jahr?

Donnerstag, 7. Juni 2012

MÜNCHEN: WIE MAN AUS TSCHECHOW KLEINHOLZ MACHT

zwölf sehr gute schauspielerinnen und schauspieler – brüllen herum, schmieren sich schwarze farbe ins gesicht, brüllen wieder herum, gackern wie hühner, bellen wie hunde, werfen mit doofen stofftieren um sich, machen wasserschlachten, brüllen herum. der katalane calixto bieito (von dem ich in basel schon einen radikalen, klugen „don carlos“ gesehen habe) inszeniert am residenztheater in münchen den „kirschgarten“ von anton tschechow und verdammt zwölf sehr gute schauspielerinnen und schauspieler dazu, permanent auf kindergeburtstag zu machen. ok, herr bieito, wir haben verstanden: tanz auf dem vulkan. die zeiten ändern sich und mit ihnen die finanziellen verhältnisse, der kirschgarten wird versteigert und abgeholzt. bieito macht nicht nur den kirschgarten zu kleinholz, sondern auch das landhaus der ranjewskaja, das schon zu beginn ausschaut wie ein ausgebombter rohbau, und – schlimmer noch – den gesamten stücktext. tschechow charakterisiert zwölf menschen nach ihrer ganz und gar unterschiedlichen einstellung zum wechsel der zeiten. hier wird niemand charakterisiert, hier fällt jeder charakter dem oberflächlichen lärm und der oberflächlichen hektik zum opfer. dass am ende der uralte diener firs in diesem eindrücklichen sperrholz-desaster, das von der bühne übrigbleibt, einen neuen kirschbaum pflanzen darf, ist nach diesen zwei stunden unerträglicher edelkitsch.

Mittwoch, 6. Juni 2012

DAVOS: GUTE FRAGE

"braucht mich das flachland überhaupt?" - diese frage stellt sich hans castorp, der held in thomas manns 1924 erschienenem roman "der zauberberg".

Dienstag, 5. Juni 2012

BREGENZ: DANH VÕ ZWISCHEN DEN WELTEN

ngô thi ha ist eine alte frau aus vietnam. sie überlebte den tod ihres mannes, der 1961 während der amerikanischen intervention umgebracht wurde; sie überlebte den tod ihres sohnes, der 1950 einem schlangenbiss erlag; sie überlebte den tod ihres enkels, der 1975 in den wirren nach dem fall von saigon umkam. als ngô thi ha vor ein paar monaten starb, erschien in der „los angeles times“ auf der seite mit den todesanzeigen eine kurze notiz, die an dieses leben erinnerte, geschrieben von ihrem grosskind, dem künstler danh võ (*1975), der in kopenhagen studiert hat und in basel lebt. in ein paar wenigen zeilen blitzt ein bewegtes leben auf. die seite mit dieser unscheinbaren notiz liegt jetzt auf einem unscheinbaren holztisch im kunsthaus bregenz, wo danh võ für seine grosse ausstellung alle drei obergeschosse zur verfügung stehen. nur ein paar wenige objekte stellt oder hängt der künstler in diese riesigen räume: da eine postkarte, die das martyrium eines französischen missionars im vietnam des 19.jahrhunderts zeigt, dort ein bild von soldaten in uniform, die sich zärtlich die hand reichen. dazwischen nichts, meterweise sichtbeton, radikale reduktion statt reizüberflutung. durch diese geradezu mystische leere zwingt danh võ den besucher zum genauen hinschauen, zur andacht. er nimmt ihn mit auf eine reise – auf seine reise von ost nach west, die ihm immer wieder neue antworten abverlangt zu fragen des kolonialismus, der migration, der identität.

Montag, 4. Juni 2012

CHUR: MARÍA DE BUENOS AIRES

die frau, die stadt, der tod. der schatten von maría wandelt nach ihrer beerdigung ziellos zwischen grabdenkmälern und schreibt im halbdunkel einen traurigen brief an die bäume und die kamine der stadt, man möge maría nicht vergessen. „maría de buenos aires“ ist die tango-oper des argentinischen komponisten astor piazzolla und des uruguayischen poeten horacio ferrer: sie zeichnen die geschichte der textilarbeiterin aus den einwanderervierteln, der das bandoneón versuchung und verhängnis wird, als musikalisch-melancholische metapher für die ganze stadt, mit all ihren legenden und all ihren dramen. unterstützt von michael zismans hervorragendem tango-orchester zaubert der choreograph oliver dähler jetzt einen hauch von buenos aires auf die bühne des churer theaters (ja, chur!), mit einfachsten mitteln: ein paar flackernde schwarz-weiss-projektionen von nächtlichen strassenzügen, fahlblaues laternenlicht, halbseidene milonga-eleganz. ins zentrum rückt er 14 menschen, ältere tänzerinnen und tänzer, allesamt laien – sie sind die bäume der stadt, die kamine, die grabdenkmäler. in ihren bewegungen und in den falten ihrer gesichter sind geschichten festgeschrieben, geschichten von hoffnungen und ängsten; diese geschichten aus chur vermischen sich mit den geschichten aus buenos aires. zwei sänger, zwei tango-profis und ein leider oft von der musik zugedeckter sprecher setzen zwischendurch eigene akzente zu diesem community dance, vokale und literarische reflexionen über die vergänglichkeit. so entsteht um maría ein mächtig mäandrierender tango-reigen. eine hymne an eine stadt. hymne und psychoanalyse gleichermassen.   

Freitag, 25. Mai 2012

LUZERN: THUNFISCH ZUR FEIER DER RUNDEN ZAHL

BRANDER LIVE! durfte heute seine 4000. besucherin oder seinen 4000. besucher registrieren. vielen dank für die aufmerksamkeit! und nun, für alle freundinnen der statistik, zu den details: der am wenigsten beachtete post war „rom: ins leben“ (februar 12), der meistgelesene „luzern: la périchole, vermasselt“ (september 11). 4000 blog-gäste, das will natürlich gefeiert sein: mit thunfisch an himbeer-sauce! erfolg garantiert! – folgendes müsste man dafür im haus haben: 4 tranchen sehr frische thunfischfilets (ca. 600 g), 0.5 dl erdnussöl, 5 cl weisser portwein, 2 dl geflügelfond, 250 g himbeeren, himbeeressig, 30 g butter, cayennepfeffer, salz und pfeffer aus der mühle. – himbeeren pürieren und durch ein sieb streichen. thunfisch mit salz und pfeffer würzen und im erdnussöl wenden. grillpfanne oder bratpfanne erhitzen und die steaks ganz kurz saignant braten. sauce: portwein und geflügelfond stark einkochen, das himbeerpüree dazu geben und erwärmen. die in würfel geschnittene kalte butter mit dem schwingbesen oder einem stabmixer unter die sauce mischen. mit himbeeressig, salz und cayennepfeffer würzen. dazu passen basmati-reis oder taglierini und kleines gedämpftes saisongemüse. – dieses grossartige rezept stammt nicht von mir, sondern von susan huber (die es fürs „hof-kochbuch“ aufgeschrieben hat). sie weiss, wie sehr ich es schätze, und sie freut sich, wenn sich andere auch daran freuen. natürlich sind die perspektiven für den thunfisch bekanntlicherweise nicht eben erhebend, aber dieses rezept ist ein wahres pfingstfest für jeden thunfisch, der sich freut, nicht als massenware in einer lieblosen sushi-location zu enden.

Sonntag, 20. Mai 2012

LUZERN: KITTELBERGERS KOLOSSALE KOLORATUR-ORGIE

ein fensterloser salon mit kronleuchter, blitzblankem parkettboden und edlen grünen stofftapeten. in diesen gepflegten hohen raum schmettert sumi kittelberger noch viel höhere koloraturen, atemlos und pausenlos und furchtlos. sumi kittelberger ist sopranistin am luzerner theater und beweist hier seit fünf jahren, dass sie das mit den koloraturen ganz meisterlich draufhat. jetzt hat das theater extra für seinen star ein selten bis nie gespieltes öperchen ausgegraben, das weitgehend aus koloratur-sequenzen besteht: „le toréador ou l’accord parfait“ von adolphe adam (1849). und da rast frau kittelberger jetzt definitiv auf der koloraturmässigen überholspur. sie jagt ihre stimme - schier unglaublich - zwei stunden lang durch triolen und synkopen in immer schwindelerregendere tempi und höhen, bietet feinste federleichte stimmakrobatik und singt ihre beiden bühnenpartner (flurin caduff als ehemann/stierkämpfer und utku kuzuluk als verehrer/flötist) charmant an die stofftapete. johannes pölzgutter gelingt es wunderbar witzig, die schlichte handlung, wie frau mit zwei rivalisierenden männern glücklich in einer ménage à trois endet, so an den rand zu inszenieren, dass sie dieses musikalische feuerwerk nicht weiter stört. eine oper ganz ohne tiefe – aber mit hunderten von höhenflügen. un petit bijou.

Mittwoch, 16. Mai 2012

ZÜRICH: EINE IKONE DER PISSOIR-ARCHITEKTUR

nun pilgern sie wieder. das mondäne zürich weiss jetzt wieder, wo es hingehört. es hat seine neue ikone: das caffé collana auf der sechseläutenwiese vor dem opernhaus. hier feiern sie ihre stadt und sich, bis der nächste hype sie ins nächste quartier zum nächsten hot-spot schwemmt. in circa zwei wochen also. genau genommen ist das caffé collana ein prominent platziertes pissoir-häuschen mit parkhaus-eingang und bar. die pavillon-architektur mit dem auskragenden dach und den abgerundeten ecken (der "tages-anzeiger" überbiss vor freude) erinnert penetrant an den hamburger jungfernstieg in den späten 50er-jahren. exakt so wurden öffentliche anlagen damals möbliert, herzig, spiessig, miefig, damit sich frau krause und frau schlüter-carstensen bei kaffee und kuchen so richtig wohl fühlen konnten. hoch lebe der jungfernstieg! zürich also ist am bellevue jetzt tief im letzten jahrtausend gelandet. so weit der erste eindruck. und dann das ganze von nahem besehen: dass die weit über hundert cool illuminierten hellen holzwürfel an der decke der bar und die vom jugendstil inspirierten metall-ornamente vor der glasfront je für sich zwar hübsch sind, aber in keinster weise korrespondieren, kann nur auf einen erbitterten design-wettbewerb zwischen architekt und innenarchitekt zurückzuführen sein. zu viele ideen für zu wenig raum. london hat die tate modern von herzog und de meuron, rom hat das maxxi von zaha hadid, luzern hat das kkl von jean nouvel. zürich hat das caffé collana von zach+zünd, das luxuriöseste pissoir-häuschen zwischen moskau und madrid. immerhin. 

Sonntag, 13. Mai 2012

MÜNCHEN: FRISCHER SATANSBRATEN

keine zeile bringt der einst gefeierte dichter walter kranz mehr zu papier. seit jahren. doch dann fällt ihm endlich wieder ein gedicht ein, ein grosses gedicht: „der albatros“. nur schade, dass eben dieses gedicht jahrzehnte zuvor schon stefan george geschrieben hat. in seiner verzweiflung entschliesst sich kranz, stefan george zu werden, ändert das outfit entsprechend, hält sich hübsche jünger, die ihn bejubeln; nur mit dem schwul-sein will´s nicht wirklich klappen. what a story! dieses durch und durch durchgedrehte ding hat sich rainer werner fassbinder ausgedacht und 1976 als „satansbraten“ verfilmt, eine farce über den schnelllebigen kulturbetrieb jener zeit. fake, remake, plagiat – eine steilvorlage für stefan pucher, der den braten jetzt auf die bühne der münchner kammerspiele bringt. er macht das abkupfern zum stilprinzip seiner inszenierung, baut in einem filmset ganze fassbinder-szenen nach. doch jener zeitgeist hat sich verflüchtigt, weshalb dem höllenspektakel hier dringlichkeit und schärfe fehlen. freut man sich halt, die schauspieler aus der obersten liga mal beim klamauk-machen für sich zu haben: sie kochen rührei, sammeln fliegen, killen edelnutten und wolfgang pregler – als kranz immer im zentrum – wuselt als selbstgefälliger wichtel und arroganter widerling durch diese welt und seinen grössenwahn. und ja, übrigens, weil das mit dem gedicht nichts wurde, wirft sich kranz am ende des stücks auf einen roman, einen wirklich grossen roman, der titel lässt da keinen zweifel: „keine feier für den toten hund des führers“.

Samstag, 12. Mai 2012

LUZERN: WARUM JOURNALISTEN TWITTERN SOLLTEN

140 zeichen! was lässt sich schon sagen in dieser kürze? und warum eigentlich gerade mal 140 zeichen? die einwände sind immer die gleichen, einigermassen abgelutscht mittlerweile. viele finden twitter doof und einige finden es total doof. das kann man niemandem verübeln. journalistinnen und journalisten würde eine leicht differenziertere betrachtungsweise dieser 140-zeichen-welt nicht schlecht anstehen. auf twitter können sie nämlich etwas lernen und täglich neu üben, was nicht mehr alle einwandfrei beherrschen: die kunst der gepflegten zuspitzung. einen sachverhalt, eine information mit 140 zeichen gleichermassen präzis wie prägnant auf den punkt bringen, das kann nur, wer die fakten klar vor augen hat. fokussieren, bündeln, feilen, überdenken, feilen, weglassen, neuer anlauf, neue idee, feilen – die kunst des zuspitzens muss trainiert werden, immer wieder aufs neue. auf twitter übt man vor publikum: dass twitternde journalistinnen und journalisten unter ihren followern viele opinion leaders haben, weckt den ehrgeiz, mit den zugespitzten botschaften wirklich wahrgenommen und verstanden zu werden; dass sich unter ihren followern zudem auch viele berufskolleginnen und –kollegen finden (von den mitarbeitenden der srf-regionalredaktionen beispielsweise twittert aktuell knapp die hälfte), garantiert feedback, meistens sogar witzig und meistens sofort. twitter ist eine plapperbude, ein digitaler dorfplatz. twitter kann man aber auch als kreative herausforderung nutzen, gerade im journalismus, als täglichen fitness-parcours fürs hirn. – und jetzt das ganze noch in handlicher twitter-länge: twitter sollte für journalistinnen und journalisten obligatorisch sein: hier lernen und üben sie die kunst des zuspitzens, immer wieder neu. (exakt 140 zeichen, geht doch…)

Samstag, 21. April 2012

MÜNCHEN: LUISA MILLER HOCH ZWEI

bauernmädchen liebt jungen grafen und umgekehrt. passt den beiden vätern gar nicht ins konzept, kommt schlecht, gift, zwei tote (ein bauernmädchen, ein junger graf). als verdi sich mit 35 von den grossen historischen stoffen abzuwenden und das individuum ins zentrum zu rücken begann, kam ihm schillers „kabale und liebe“ gerade recht: so entstand seine „luisa miller“ – musikdrama statt opernkonvention, sich entwickelnde motive statt stereotype mitpfeif-nummern. in seiner inszenierung für die bayerische staatsoper legt claus guth die oft unterschätzten qualitäten dieses werks auf eindrückliche weise frei. hier geht es um psychologie, um projektionen von liebenden und vor allem von vätern, die güte und strenge vortäuschen, wo purer egoismus regiert. diese kalten gefühle stellt guth in kalten hohen räumen aus, durch die – vorahnung – immer wieder ein trauerzug wandelt. den vier zentralen figuren gesellt er lebendige spiegelbilder bei, verdoppelt und vervierfacht so ihre sehnsüchte und ihre nöte, baut mit diesen spiegelungen nachtblaue seelenpanoramen und galliggrüne vexierbilder. noch selten hat ein regisseur so viel präzise intellektuelle vorarbeit nicht einfach nur ins programmheft geschrieben, sondern optisch dermassen sinnlich und tiefrührend umgesetzt. das funktioniert nur, weil serena farnocchia (luisa), ramon vargas (rodolfo), zeljko lucic (miller) und christof fischesser (conte di walter) nicht nur herausragende sänger sind, sondern auch kongeniale darsteller.

Freitag, 20. April 2012

LUCERNE-SUR-MER: THUNFISCH AUF FRÜHLING

früher hätte sowas – bei betty bossi oder vor allem in deutschen kochbüchern – fischgemüseeintopfhausfrauenart geheissen. ich nenn´ es der einfachheit und dem kulinarischen zeitgeist halber jetzt mal „le thon grillé sur son lit de printemps“. man nehme, für zwei personen: 1 handvoll frühlingskartoffeln, 1 grüne peperoni, 1 fenchel, 1 bund dill, 1 bund italienische petersilie, 1 zitrone, 2 gramm safran-puder, 1 nicht zu kleines glas pale dry sherry, 2 tranchen thunfisch (je ca. 150 gramm), olivenöl, salz, pfeffer. los geht´s: gemüse in würfel und streifen schneiden, in der bratpfanne dünsten, im durchaus noch knackigen zustand sherry und safran darunter rühren; in gratinform füllen und im ofen warm halten; thunfisch salzen und pfeffern und auf beiden seiten sehr kurz anbraten; dann den thunfisch zusammen mit gehackter petersilie und dill auf dem gemüse drapieren; ein paar spritzer zitronensaft darüber. ziemlich einfach, ziemlich frisch, ziemlich gut das ganze. – und wenn´s doch ein bisschen üppiger zugehen soll in der fischküche, dann gibt´s in diesem blog ein paar etagen tiefer (april 2011) immer noch das beste bouillabaisse-rezept aller zeiten.

Montag, 16. April 2012

MÜNCHEN: DER RHYTHMUS DES WAHNSINNS

kein medikament auf erden könnte dem leben irgendeinen sinn geben. eine wunde öffnet sich wie ein leichnam und brüllt ihre stinkend verfaulende trauer heraus. schwarzer schnee fällt. das sind sätze von sarah kane. – mit 28 hat sich sarah kane in einer londoner psychiatrie erhängt. davor schrieb sie fünf unheimliche stücke, um der hölle zu entfliehen, die chronik eines angekündigten todes. die letzten drei dieser fünf stücke zeigt johan simons, der intendant der münchner kammerspiele, jetzt - zum triptychon verdichtet - an einem abend. es ist dies eine bebilderung extremer zustände. in „gesäubert“ verlegt simons die gewaltexzesse erwachsener in die welt spielender kinder, die noch keine moral kennen. in „gier“ lässt er zwei frauen und zwei männer zusammenhanglose satzgeburten aus psychotischen episoden als staccato-quartett rezitieren. in „4.48 psychose“ schliesslich grundieren eine pianistin und fünf streicher den rhythmus des wahnsinns, den thomas schmauser in seinem finalen monolog obsessiv anschlägt: alptraum, panik, todesnähe, selbstzerstörung. ein abend voller verzweifelter momente („wem ich nie begegnete, das bin ich“), der über dreieinhalb stunden einen bestürzenden sog entwickelt. über der bühne und im zuschauerraum hängen dutzende von  grossen weissen lampions, im ersten teil luftig-leicht, im zweiten teil bewegt und verregnet, im dritten teil durchnässt auf den boden klatschend. bilder einer zerfetzten seele.

Sonntag, 15. April 2012

MÜNCHEN: RICHTIG SCHWANGER

kurz vor beginn der vorstellung betritt eine sprecherin des münchner volkstheaters die bühne und weist darauf hin, dass die schauspielerin barbara romaner „richtig schwanger“ sei und man sich dadurch „bitte nicht irritieren“ lassen solle. mal was neues, auch für den geübten theatergänger. und tatsächlich: elfter monat, mindestens. der hinweis drängt sich auf, denn frau romaner spielt die „anna karenina“, die zu beginn von leo tolstois roman in einer zutiefst erkalteten ehe alles andere als hochschwanger ist und sich dann in den feschen rittmeister wronski verliebt, von dem sie schwanger wird, deutlich später allerdings. die inszenierung von frank abt lebt von zwei zentralen einfällen. wichtige sätze lässt er wiederholen, noch und noch, zum teil von mehreren schauspielern; diese permanenten bedeutungsschwangeren text-loops nerven zunehmend. dafür wirkt die zweite konzeptidee umso bestechender: weil bei ehebruch und scheidung die abwesenden dritten (ehemann, schwester, früherer liebhaber, kinder) bewusst oder unbewusst immer präsent sind, werden sie hier direkt ins spiel einbezogen, stehen dazwischen, sitzen daneben, wechseln blicke, verstricken sich, sprechen gar sätze von handelnden mit – das netz des unglücks in seiner vollen ausdehnung. den bogen vom 19. ins 21.jahrhundert schliesslich schafft diese inszenierung unaufdringlich elegant, indem sie die sehr heutigen, jugendlichen schauspieler auf einer sehr heutigen, quasi leeren bühne, aber in den üppigen kostümen der damaligen zeit agieren lässt. ein abend voller leben und leicht bis mittelschwer überladen. tolstoi also richtig schwanger.

Donnerstag, 12. April 2012

ZÜRICH: DER BESSERE DICHTER

was haben sich die feuilletonisten und die leitartikler und die lyrik-exegeten in den vergangenen tagen geärgert und fremdgeschämt und wundgeschrieben über das dumme israel-gedicht des dummen alten grass. und jetzt kommt der widmer (kein vorname? doch, doch, ruedi heisst er), der für die "woz" und den "tages-anzeiger" cartoons zeichnet, und trocknet sie alle ab - indem er die grassliche debatte auf den punkt hämmert wie keiner vor ihm. mit einem gedicht, versteht sich. in einem cartoon. vier zeilen. alles gesagt, was gesagt werden muss: "der bomben sehnsucht nach frieden / der raketen lust zu lieben / wird zerstört und vernichtet / durch den menschen der dichtet."

Montag, 9. April 2012

GISWIL: DYNAMISIERTER DURCHBLICK

die „turbine“ in giswil ist eine etwas abgelegene, riesige halle, die nicht mehr für die stromproduktion genutzt wird und deshalb entweder leer oder für kunst-projekte zur verfügung steht. vor allem die gigantische leere dieses schier unwirklichen raumes inspiriert künstlerinnen und künstler immer wieder aufs neue. jetzt hat der bildhauer jo achermann, der in buochs geboren wurde und in berlin und kerns lebt, für 44 tage ein unikat für die turbine realisiert. und was für eines! achermann nennt es „die quadratur des blicks“. mit tonnenweise einheimischem holz hat er schlichte lattenkonstruktionen geschaffen, kellerabteilen nicht unähnlich, riesigen kellerabteilen allerdings. dadurch, dass die latten am einen ort vertikal vernagelt sind und am anderen ort horizontal, dadurch, dass diese roste mal fünf und mal acht meter hoch sind, dadurch, dass sie immer in rechten winkeln, aber in unregelmässigen abständen aufgebaut sind, entstehen in der grossen halle viele unterschiedlich grosse räume, ein semitransparentes labyrinth, das sich mit füssen und augen erkunden lässt. am allerliebsten möchte man kind sein und ganz ungeniert herumrennen und –klettern dürfen. zum grössten erlebnis wird der besuch dieser latten-orgie bei sonnenschein, wenn licht und schatten die durchblicke dynamisieren und die räume in bewegung versetzen. eine einfache idee wird hier zur absolut faszinierenden sehschule.

Sonntag, 8. April 2012

BERLIN: ÄLTERWERDEN MIT GERALDINE CHAPLIN

geraldine chaplin (67) pendelt zwischen miami, madrid und der schweiz. und als sie (67) kürzlich in berlin halt machte, traf sie (67) die "süddeutsche zeitung" zu einem ausführlichen gespräch übers älterwerden. ein ganzseitiges interview, kein mutmacher für die, die's noch vor sich haben, sondern ein ziemlich düsteres lamento. frau chaplins (67) fazit: "man muss sehr stark sein, körperlich fit, und über riesengrosse mentale reserven verfügen. kurz: das alter ist nicht für die alten gemacht." das sitzt. wie ein hexenschuss. zur erinnerung: frau chaplin ist nicht 90, sondern - genau - erst 67.

Samstag, 31. März 2012

MÜNCHEN: EIN SCHUSS, EIN SCHREI

der pianist im saloon klimpert sentimental-süss-schwülstiges. die harten jungs sind gut drauf, wegen a) goldrausch und b) minnie, respektive eher wegen a) minnie und b) goldrausch. dann ein schuss, ein schrei – doch nein, trotz flächendeckendem 100.todestag – das war nicht karl may. sondern giacomo puccini. „la fanciulla del west“ heisst seine oper, weil „wie sich klein giacomo den wilden westen vorstellt“ zwar der treffendere, aber 1910 in new york doch marketingmässig eher suboptimale titel war. der 2.jahrgang der renommierten otto-falckenberg-schule in münchen hat sich puccinis späte sünde jetzt vorgeknöpft für eine "musikalisch-szenische werkstatt“ im werkraum der kammerspiele. nicht gehobenes schultheater resultiert da, sondern ein eindrücklicher beweis, was diese schauspielschülerinnen und –schüler in kurzer zeit bereits gelernt haben bezüglich singen, timing, dramaturgie, bewegung zu musik. mit tempo und witz wirft sich die junge truppe in diesen von einer abstrusen story (und einem hervorragenden barpianisten) zusammengehaltenen melodienrausch, gewährt auch ennio morricone einen augenzwinkernden gastauftritt, und findet, höchst professionell, den einzig möglichen notausgang: das ganze wird zur ultimativen western- und opernparodie, lustvoll für alle beteiligten auf und vor der bühne. und es würde den guten alten puccini enorm entlasten, wenn von ihm irgendwo überliefert wäre, dass er „la fanciulla del west“ selbst schon als parodie angedacht und komponiert hatte. vielleicht nahm er dieses letzte geheimnis mit in die ewigen jagdgründe.

Freitag, 30. März 2012

ZÜRICH: BLUTE NUR, DU LIEBES HERZ

lange schwarze gummibänder sind kreuz und quer durch den bühnenraum im theaterhaus gessnerallee gespannt. raumkunst für „die unsichtbaren“, einen theater-musik-tanz-abend über menschen, die mit sehnsüchten und ängsten von afrika nach europa aufbrechen, freiwillig oder unfreiwillig. regisseurin sandra strunz verwendet dieses dichte netz aus gummibändern vielseitig: es gibt den schwarzen (die hier von fünf nicht-schwarzen gespielt werden) geborgenheit auf der flucht, es zeigt ihnen grenzen, es schleudert sie herum, es lässt sie träumen von einer anderen, besseren welt, es deckt sie mit wogenden wellen zu, es lässt sie tanzen zwischen euphorie und entsetzen. farbig und differenziert entwickeln sich ihre – normalerweise eben unsichtbaren – geschichten, mal poetisch, mal aggressiv, immer sehr dicht am leben. arien aus bachs matthäus-passion schaffen dazu eine stimmung von trost oder trostlosigkeit („blute nur, du liebes herz“) und geben dem zuschauer im konzentrierten geschichten-geflecht luft für reflexion. der abend beruht auf dem tagebuch eines italienischen journalisten, weshalb auch hier ein journalist den roten faden ziehen und die geschichten zusammenhalten muss. ben daniel jöhnk spielt ihn als naiven, bemühten gutmenschen im weissen (!!) glitter-glamour-gottschalk-outfit, einen deplatzierten afrika-versteher, typ volkshochschule, der viele bilder sieht und kaum eines mit dem anderen zu kombinieren vermag. diesen roten, resp. weissen faden hätte der bewegte und bewegende abend nicht gebraucht.

Montag, 19. März 2012

ZÜRICH: THE DARK SIDE OF THE WALZER

"geschichten aus dem wiener wald" - johann strauss' opus 325 lieferte den titel für ödön von horvaths volksstück. eine szene spielt „an der schönen blauen donau“, auch „wiener blut“ erklingt und der „frühlingsstimmen-walzer“. sehr üppig zitiert horvath 1931 all die wiener klischees und den ganzen walzerkitsch, um die gemeinheiten und bösartigkeiten hinter den fassaden einer stillen strasse im achten bezirk umso schärfer dagegen zu kontrastieren. ein volksstück, das das volk entlarvt. in ihrer inszenierung am zürcher schauspielhaus setzt karin henkel ein kleines orchesterchen zentral über die spielfläche, einen kontrabass, ein cello, eine bratsche und eine e-gitarre, die den walzer einerseits herzaubern und anderseits verfremden und so einen perfekt schrägen soundtrack organisieren für dieses sehr stimmige variété der sozialen katastrophen. skelette, ebenfalls aus der kleinkunstplunderrequisite, begleiten den abstieg des vorstadt-mädels marianne (lilith stangenberg, famos pendelnd zwischen scham und innerem aufruhr), der eigentlich ein ausbruch aus der enge hätte werden sollen und doch nur wieder dort endet. kein totentanz, aber ein grausliges stelldichein der absterbenden und abgestorbenen gefühle.  

Montag, 12. März 2012

MÜNCHEN: RAINER WERNER ÜBERALL

schlafen kann ich, wenn ich tot bin. sagte rainer werner fassbinder. am 10.juni 1982 war es so weit, nach vielen filmen, vielen theaterstücken, vielen drogen. 30 jahre her. und die münchner können es kaum fassen, dass ihr regie-berserker so tot schon ist. deshalb jetzt fassbinder im filmmuseum, fassbinder in den kammerspielen, fassbinder im theatermuseum, fassbinder im residenztheater. wir haben verstanden: „sein leben und seine kunst wirken weiter.“ wie wirken sie weiter? dass sich das nicht im blossen abspielen und abfeiern manifestieren muss, demonstriert der wiener medienkünstler jan machacek. „showghost-3“ heisst seine performance, die er im marstall des residenztheaters zeigt. er arbeitet mit pepper´s ghost, einem bühnentrick aus dem 19.jahrhundert, der mit hilfe von licht und spiegelungen effekte wie schweben oder erscheinungen aus dem nichts ermöglicht, montiert dazu eher beiläufig einzelne wort-schnipsel aus fassbinders sci-fi-fernsehfilm „welt am draht“ (wo es darum geht, ob die welt vielleicht nur eine welt in der welt sei, eine simulation) und tanzt – dank digitalem umweg – in einer für ihn viel zu kleinen kiste grosse szenen. machacek ist ein intellektueller und visueller zauberer, der 50 minuten lang die sinne verwirrt. steht da jetzt der junge mann aus wien? oder sein spiegelbild? oder ist es ein video? wo ist er nun, wo ist er hin? ein leises, unspektakuläres spektakel, das aufs lustvollste über sein und schein, über realität und projektion meditieren lässt. 

Sonntag, 11. März 2012

MÜNCHEN: ZUM ERSTICKEN HIER

ein penetranter schluckauf plagt ljudmila. jungmädchenhaft verlegen muss sie kichern. und wieder. und heftiger. der schluckauf entwickelt sich zum gigantischen lachanfall, der den zahlreich anwesenden im wohnzimmer der familie shelesnow nicht nur peinlich ist, sondern die nerven ausnahmslos aller in kürze blank legt: beleidigungen, beschimpfungen, schlägereien, eskalation total. mit dieser kleinen, alltäglichen szene (und der ausnahmekönnerin brigitte hobmeier als ljudmila) bringt der lettische regisseur alvis hermanis in seiner version von maxim gorkis „wassa“ (1910) an den münchner kammerspielen das ganze elend einer im zug wirtschaftlicher pannen und pleiten auseinander fallenden familie auf den punkt. hyperrealismus auch in der ausstattung: kristine jurjane hat ein komplettes russisches landhaus in die spielhalle gebaut, samt tauben und grünzeug und devotionalien und anderem kuriosem kleinkram. es ist zum ersticken hier. elsie de brauw als wassa, mutter und zentrum dieses desolaten hauses, versucht firma und familie vor dem endgültigen untergang zu bewahren. mit kalter vernunft, kalten blicken, kalten worten, denn die liebe ist ihr abhanden gekommen. keine liebe, keine luft, nirgends. gorki in einer atmosphärischen dichte ohnegleichen.

Samstag, 10. März 2012

HAMBURG: EIN SCHNAPS MIT SCHMIDT

ausgezogen bis auf die unterhose öffnet karl die glastür zur veranda und geht in den verschneiten garten hinaus. „jetzt erst begriff karl die grösse amerikas. alle waren fröhlich und aufgeregt.“ genau: karl rossmann, amerika, kafka! die szene spielt sich für einmal in einem wohnzimmer in hamburg-langenhorn ab, auf dem teppich, der die welt bedeutet, sozusagen. im wohnzimmer von helmut schmidt. weil dem 94-jährigen altkanzler der weg ins theater zunehmend zu beschwerlich ist, wollte ihm das thalia theater einen gefallen tun und liefert ihm den „amerika“-monolog kurzerhand frei haus. mit den vorhandenen steh- und leselampen wird eine theaterbeleuchtung improvisiert. ein paar handverlesene gäste sind auch da. und weil das thalia theater nicht einfach den dritten zwerg von links bei schmidt monologisieren lässt, sondern den champions-league-schauspieler philipp hochmair, ist das nicht einfach eine hübsche idee, sondern eine grosse geste. schmidt, angesichts von schnee und unterhose beim finale, beweist sinn für die richtigen prioritäten: „junge, trink einen schnaps mit uns, sonst verkühlst du dich.“  

Mittwoch, 7. März 2012

ATHEN: VITAMIN T (THEATER)

"die griechen sind zwar in einem schockzustand, und manche tun alles, um ihre eigene haut zu retten. aber wie viele sparen sich das theater-ticket buchstäblich vom mund ab! zurzeit bespielen wir drei bühnen mit sieben verschiedenen stücken und sind ständig ausverkauft. den menschen ist, gerade in der not, spirituelle nahrung sehr viel wert." - yannis houvardas, direktor des griechischen nationaltheaters, im interview mit dem "tages-anzeiger".

Sonntag, 4. März 2012

WIESENBERG: TRÄNEN

noch nie, noch gar nie hat man in einem film so viele männer mit tränen in den augen gesehen wie jetzt in „die wiesenberger“ von bernard weber und martin schilt. einer sitzt im hohen gras am stanserhorn und erinnert sich an den tod seiner frau. tränen. „das feyr vo dr sehnsucht“ wird zum grössten schweizer hit und der jodlerclub wiesenberg zum grossen publikumsliebling. tränen. die frage, ob der club das verlockende angebot an die expo in shanghai annehmen soll, spaltet die treuen kameraden an ihrer gv ganz tief. tränen. am jahreskonzert wird der älteste mit seinem lieblingsjodel verabschiedet. tränen. diese bergler, die mit beiden beinen auf dem boden stehen (oft mit dem einen in der showszene und mit dem anderen im miststock…), haben immer wieder tränen in den augen. das wird in dem film nicht voyeuristisch ausgestellt, aber doch so offensichtlich gezeigt, dass es eine bedeutung haben muss. nur welche? liegt hier das grosse geheimnis des naturjodels? dass er gefühle weckt und in ihnen rührt, an die andere musik nicht ansatzweise herankommt? ich weiss es nicht. ich weiss nur, dass auch ich bei einsamen, fernen, reinen jodelklängen mal für mal feuchte augen bekomme. urplötzlich. unerklärlich. meine toggenburger wurzeln? 

Dienstag, 28. Februar 2012

ROM: INS LEBEN

in diesen schmalen gassen, wo man auch mit gedanken
überall aneckt; in diesem serpentinen-
bündel eines von der welt längst abgewandten
hirns, wo man, aufgeregt und abgespannt, die vielen
kirchen, die brunnen heimsucht - da gibt es kein halten
(wie bei der nadel, die über die schallplatte humpelt
und in der mitte vergisst: es ist schluss). der ungestalte
rest des lebens wird hier erträglich, man wundert
sich, dass vergangenes zu einem ganzen
werden, sich vollenden kann. die sohlen
trommeln arien aus dem pflaster, sie tanzen
serenaden - die zeit stimmt ihre frohen
lieder auf die zukunft an. das alles
kommt dem hündchen auf dem plattenlabel
wie ein auftritt von caruso vor, falls es
nicht schon weggelaufen ist - ins leben.
(joseph brodsky, römische elegien, VII)

Mittwoch, 22. Februar 2012

AIROLO: DAS KALB VOR DER GOTTHARDPOST

der emeritierte germanistik-professor peter von matt versteht es nicht nur trefflich, den worten auf den tiefsten grund zu gehen, der 75jährige erweist sich auch als hervorragender bildbetrachter. für seinen neuen essay-band „das kalb vor der gotthardpost“ (hanser) hat er sich eine schweizerische ikone vorgenommen, die die tremola hinunterrasende „gotthardpost“ eben, die rudolf koller 1873 malte und die heute im zürcher kunsthaus beheimatet ist. ausgehend von diesem bild – „die kühe schauen einem ereignis zu, das ihre fassungskraft übersteigt“ – schreibt von matt die seelengeschichte einer nation, die gefangen ist in der verquickung von fortschrittsglauben und konservatismus, „ein janusköpfiges voraus- und zurückschauen zugleich“. brillant durchstreift er literatur und politik und seziert die verherrlichung einer längst überholten oder nie dagewesenen idylle: „das problem für die schweiz ist, dass die welt ihr diesen arkadischen selbstentwurf lange zeit abgenommen und begeistert bestätigt hat.“ wohin das führt? da wird von matt sehr konkret – ohne namen zu nennen: „noch immer kommen sich leute, die stadtnah und an bevorzugter lage in angenehmen villen leben, als geborene bergler vor, spielen im nadelstreifenanzug den politischen wurzelsepp und werden dafür von andern synthetischen berglern beklatscht.“ glasklar wie einst frisch, messerscharf wie einst dürrenmatt – die lektüre ist ein intellektueller hochgenuss.

Sonntag, 19. Februar 2012

MÜNCHEN: SÄTZE WIE GIFTPFEILE

die ältere dame neben mir schläft göttlich und quasi flächendeckend. erstaunlich, weil armin petras´ inszenierung von ibsens „john gabriel borkman“ an den münchner kammerspielen ebenso flächendeckend aufrüttelt und verstört. die bühne ist keine bühne, sondern eine von olaf altmann (den herrn muss man sich merken) gebaute vertikale skulptur an der rampe, mit spitzen kanten, engen gängen, steilen rutschen, wie ein gigantischer blitz, der sich in die tiefe des theaters bohrt. und das schauspiel ist kein schauspiel, sondern eine waghalsige performance am abgrund; in diesem blitzungetüm, durch das immer wieder unmengen von ramschpapieren geblasen werden, hangeln und rangeln sich die borkmans durchs leben oder was davon übrig geblieben ist, hier kauern und kriechen sie und winden sich in ihrem elend. ausgesprochen physisches, teilweise groteskes theater. borkman hat seine bank mit illegalen transaktionen in den ruin und seine familie ins gesellschaftliche abseits getrieben (andré jung wird mit karabinern vor einem weiteren absturz gesichert…). die enttäuschungen und verletzungen sitzen tief bei gemahlin und schwägerin, bei freund und sohn - und mit sätzen, die in dieser hochpräzisen inszenierung wie giftpfeile in die offenen wunden geschossen werden, sorgen alle dafür, dass die qual der anderen keinesfalls kleiner werden möge als die eigene. familie als desaster, familie als horror, nicht enden wollend. viel applaus weckt meine nachbarin.

Samstag, 18. Februar 2012

SANTIAGO DE COMPOSTELA: MEDITATION

"der kurze fussmarsch zum komposthaufen ist der jakobsweg des kleinen mannes." - arno lücker, komponist, musikwissenschaftler, musikkritiker (*1979)

Freitag, 17. Februar 2012

MÜNCHEN: WEIHWASSER-PIPELINE

einmal schaut kurz der pater kazimierz aus tschenstochau vorbei und wirbt inständig und mit heftigem akzent für die „weihprom“, die neue weihwasser-pipeline von polen nach bayern. gegen die verwilderung der sitten. verlängerung nach lourdes optional. grossartige geschichte am rand. bayern ist auch nicht mehr, was es noch nie war. im januar haben sich die biermösl blosn aufgelöst, nach 3000 auftritten in 35 jahren, unter anderem weil ihnen das lieblingsfeindbild csu allmählich versickert. doch die drei biermösl-buam sind ja nur ein fünftel (!) der musikalischen grossfamilie well, die jetzt in die münchner kammerspiele zum „hausmusikabend“ lädt. als beweis, dass die well-bande, zu der auch die drei wellküren bärbi, burgi und moni gehören, lebt - und wie. das feingliedrige menuett aus mozarts „don giovanni“ gerinnt zu einem veritablen dissonanten familienkrach. alles haben sie drauf, einen herzergreifenden andachtsjodel und „yellow submarine“ auf drei alphörnern und die carmen-suite mit nonnentrompeten und dazwischen stories aus dem alltag einer grossfamilie, von nasenbluten bis nazi-onkel. inszeniert hat diese mordsgaudi (titel: "fein sein, beinander bleibn") der musiker franz wittenbrink, selber mit 12 geschwistern gesegnet. alles in allem schwingen an dem abend also die geschichten von 28 schwestern und brüdern mit. das wäre eine echte herausforderung für den guten alten hellinger. und ist es für mich als einzelkind erst recht: man sitzt und staunt und ist erschlagen. ah ja, und nicht nur pater kazimierz schaut kurz vorbei,  sondern auch gerhard polt. als st.nikolaus, der die ebenfalls auf der bühne parkierte 92jährige mutter der well-sippe kurz massregelt: „15 kinder? – das kommt mir aber nicht mehr vor.“

Montag, 30. Januar 2012

MILANO: RAMON VARGAS ALS HOFFMANN

ein musikalisches vollbad! melodien zum ein- und ab- und wegtauchen, eine ganze kurpackung! „les contes d’hoffmann“ von jacques offenbach – das sind die grossen gefühle, das ist grosse oper. der kanadische regisseur robert carsen lässt den dichter e.t.a. hoffmann deshalb nicht im gängigen weinkeller bechern und jammern über seine unerfüllte liebe, sondern gleich in einem opernhaus: auf die bühne der mailänder scala stellt er noch eine bühne, noch einen orchestergraben, noch einen zuschauerraum, noch einen roten samtvorhang, was ein ganzes bouquet von zauberhaften effekten ermöglicht, subtile übergänge zwischen sein und schein und insgesamt eine hochtheatralische und hochmusikalische inszenierung. ramon vargas, der seine karriere vor mehr als zwei jahrzehnten in luzern begann, weiss diesen rahmen aufs trefflichste zu nutzen: er singt diesen hoffmann nicht nur makellos, er tänzelt und wirbelt und kriecht sich buchstäblich hinein in seine phantasiegeschichten, mit vollem körpereinsatz pendelt er – „des cendres de ton coeur réchauffe ton génie“ - zwischen liebesleid und künstlerglück, zwischen erotischen hoffnungen und existentiellen ängsten. diese offensichtliche spiellust erfasst das gesamte hochkarätige star-aufgebot (u.a. rachele gilmore als olympia und ekaterina gubanova als muse) und führt zu einer phänomenalen ensemble-leistung. es sind sternstunden. bereits in der pause meint der kollege: „im nächsten leben werde ich opernsänger.“ das sagt eigentlich alles.

Sonntag, 15. Januar 2012

MÜNCHEN: DIE SPRACHE DER GEWALT

seine frau und seine schwägerin und die mutter seines feindes und ein namenloser und seine tochter und die schwester seines feindes. wer bitte debattiert da im parkdeck einer fähre mit wem genau und warum immer gleich so heftig? „atropa, die rache des friedens“ beginnt in den münchner kammerspielen mit einer überforderung: wer den fall trojas und sein personal nicht vorgängig fein säuberlich repetiert hat, sitzt da und staunt, im besten fall. doch dann beginnt sich tom lanoyes stück von den einigermassen unübersichtlich vernetzten figuren zu lösen und zu einer vielschichtigen text-sinfonie über krieg und frieden, täter und opfer zu verdichten. „nicht anders geht’s: das paradox des friedens ist, dass er erobert werden muss. mit kriegsgewalt.“ agamemnons kriegsrhetorik ist unterlegt mit textbausteinen von george w. bush und donald rumsfeld. und auch klytämnestras zentrale klage ist zeitlos: „wie oft hab ich nicht hören müssen, dass ein krieg von kürzrer dauer wäre als ein frühling.“ viele zweifel, viel leid, viel lärm, viel blut – der krieg kennt nicht nur gut und böse. mit einfachen bildern schafft regisseur stephan kimmig eine ausgesprochen differenzierte sicht auf die handelnden und die nicht handelnden: starke männer, schwache frauen, starke frauen, schwache männer.

Sonntag, 8. Januar 2012

ZÜRICH: VON GIPFELN UND SÜMPFEN

causa wulff, causa zuppiger, causa blocher/hildebrand – und das schauspielhaus zürich liefert, ebenso zeitnah wie zufällig, das absolut-ultimativ-goldrichtige stück dazu. eine komödie natürlich. eine komödie, die im goldenen dreieck politik/wirtschaft/sumpf spielt. oscar wilde schrieb sie vor über 100 jahren, die geschichte von sir chiltren, der den grundstein zu seiner karriere und seinem vermögen legt, indem er einem börsenhai regierungsgeheimnisse unterjubelt und jahre später mit dieser jugendsünde erpresst wird. „der ideale mann“ heisst das politisch-moralische debakel jetzt, nachdem elfriede jelinek die wildsche satire und situationskomik mit ihrem kalauernden sprachwitz in die heutige zeit überführt hat. regisseurin tina lanik lässt die rundum korrupte truppe in einem toilettenvorraum auftreten („wo das kind endlich beim namen genannt und anschliessend mit dem bad ausgeschüttet werden kann“) und setzt nicht nur auf die gepfefferte sprache, sondern zusätzlich auf vollen körpereinsatz: alle verbiegungen und verrenkungen, die machtmissbrauch und insidergeschäfte erfordern, nötigt sie dem ensemble ab und entwickelt daraus eine immer rasanter drehende slapstick-choreographie über den zweifelhaften weg zum karriere-gipfel, ein irrwitziges intrigen-ballett. dass der hauptdarsteller markus scheumann dem österreichischen skandal-und-glamour-minister karl-heinz grasser wie aus dem gesicht geschnitten ist, entspricht durchaus der intention von frau jelinek. in der vorstellung heute trug er allerdings auch unverkennbar die züge von philipp hildebrand. der ideale mann. honni soit qui mal y pense.

Sonntag, 1. Januar 2012

WIEN: EINSICHT, WEITSICHT

"tradition ist bewahrung des feuers und nicht anbetung der asche." - gustav mahler, 1860-1911, als komponist im übergang von der spätromantik zur moderne ein experte in dieser frage.