Montag, 19. Dezember 2011

LUZERN: LUCIA DI LAMMERMOOR

eine frau mit schwarzen haaren, schwarzen augenringen, schwarzen lippen und schwarzen kleidern schleicht zwischen schwarzen schleiervorhängen herum, hinter denen im fahlen laternenlicht plötzlich fratzen auftauchen – die fratzen der menschen, die sie in die verzweiflung getrieben haben. lucia di lammermoor muss einen mann heiraten, den sie nicht liebt, und liebt einen mann, den sie nicht heiraten darf. schwarz ist ihre farbe, schwarz ist ihr leben, ein schottischer schauerroman. am luzerner theater macht die junge regisseurin susanne oglaend aus gaetano donizettis belcanto-knaller einen perfekten psycho-krimi. nicht realistische bilder sind ihr ding, sondern illustrationen des innenlebens; einfach und präzis zeichnet sie das netz aus gesellschaftlichen zwängen und intrigen und entwickelt zwischen einzelnen figuren enorm explosive energien. man weiss, wo das endet: in der berühmtesten wahnsinnsarie der opernliteratur. die amerikanische sopranistin khori dastoor taumelt dazu über treppen, tanzt auf stühlen, schwingt schwerter und windet sich in weissen tischlaken – ein atemberaubendes porträt, ein darstellerisches glanzstück. einigermassen gewöhnungsbedürftig bleibt frau dastoors stimme, sehr viel nase, sehr viel metall; ein massiver kontrast zu den wunderbar vollen, weichen stimmen der fünf männlichen solisten. doch die werden nicht selten zugedeckt vom luzerner sinfonieorchester. der neue chefdirigent james gaffigan treibt seine musiker ziemlich eindimensional durch die donizetti-welt und, eben, ziemlich laut. noch scheint er das luzerner theaterchen mit der arena di verona zu verwechseln.   

Donnerstag, 15. Dezember 2011

BELFAUX: BERSETS REZEPT

"politik ist wie jazz. bei beiden tätigkeiten muss man die regeln kennen und einhalten, man muss improvisieren, neue situationen blitzschnell erfassen und zuhören können." - alain berset, leidenschaftlicher jazz-pianist und frischgewählter bundesrat.

Sonntag, 11. Dezember 2011

WIEN: ATMEN

"die richtige leich' im richtigen sarg zur richtigen zeit am richtigen ort." das ist einer der längsten sätze in "atmen", dem spielfilmdebut des österreichers karl markovics. der vorgesetzte erklärt dem 19jährigen roman, was zählt in einem wiener bestattungsunternehmen. roman schaut nur und sagt nichts. markovics braucht kaum worte, um die geschichte dieses jungen, der mit 14 in einer panik-attacke einen kollegen getötet hat, zu erzählen, seine einsamen nächte im jugendknast, seine einsamen tage als lehrling im geschäft mit den toten. diese geschichte wird durch bilder vermittelt, monotone und oft monochrome, eindringliche bilder aus einer welt unterkühlter emotionen. zum stillen meisterwerk wird dieser film vor allem durch den hauptdarsteller thomas schubert: ein junger mann, traumatisiert durch ein frühkindliches würg-erlebnis, der zwischen den bleichen menschen in dieser bleichen stadt seinen platz sucht, einen platz zum atmen. dieser schauspieler hält, mit grösster präsenz, endlos langen einstellungen und zahllosen nah- und nächstaufnahmen stand. dieser nähe, dieser verzweifelten und hartnäckigen wortlosigkeit kann man sich nicht entziehen; diese stumme sehnsucht und diese suche nach luft inmitten toter menschen und toter gefühle berühren zutiefst. - und jetzt, nach dieser gründlichen einstimmung, zwei tage wien, zwei tage eintauchen in diese bleiche stadt.

Samstag, 10. Dezember 2011

MÜNCHEN: VOLTAIRE, DIE SANDKASTEN-VERSION

ein weiter, weisser rundhorizont. davor hängt der bühnenhimmel im residenztheater voller farbiger plastikgegenstände: rote salatsiebe, pink chi-chi, grüne sandkastenförmchen, orange schwimmringe, dutzende, hunderte. sabine kohlstedt schuf hier das einfachste und bunteste und heiterste bühnenbild, das ich seit langem gesehen habe. passt auch hervorragend, denn verhandelt wird voltaires conte philosophique „candide, ou l’optimisme“ von 1759. dieser candide (sebastian blomberg) ist gewandet wie werther, aber einigermassen anders programmiert: nicht eben der hellste, und er glaubt an das gute im menschen, an die beste aller welten, an leibniz‘ theorie. voltaire jagt den armen gesellen durch sämtliche kontinente, durch kriege und erdbeben, um seine zuversicht wenigstens partiell zu mindern. und tatsächlich: nach nur gerade 80 minuten berichtet der held dieser satirischen novelle mit sehr fröhlichem gesicht, dass tatsächlich nicht alles sehr fröhlich endet und dass wir jetzt bitte unseren garten bestellen sollen. ziemlich dialektische angelegenheit. und ziemlich unentschieden das regie-handwerk von friederike heller. mal flutet sie den gesamten bühnenhorizont mit historischen bildern (erdbeben von lissabon) und macht aus der vorlage ein prächtig illustriertes bilderbuch; mal macht sie andererseits ganz auf hörbuch, indem sie das ensemble zum immobilen rezitieren verurteilt. alles ganz gut als voltaire-amuse-bouche, nur leider nicht mehr.  

Sonntag, 4. Dezember 2011

ROMOOS: DIE KINDER VOM NAPF

laura erzählt, dass ihre familie einen der hunde auf dem hof verkaufen musste, weil er immer ihr grosi beissen wollte. man spürt, dass das keine einfache geschichte war und dass es keine schöne geschichte ist für laura. laura ist eines von 50 schulkindern in romoos, die die luzerner filmemacherin alice schmid quer durch die jahreszeiten begleitet und beobachtet hat. sie zeigt uns „die kinder vom napf“ auf dem schulweg, beim heuen und beim mausen, in der bibliothek, beim guetzle und beim trachtenabend. die grosse stärke dieser filmemacherin ist ihre geduld: sie lässt diesen kindern zeit, nimmt ihren rhythmus auf, hält pausen und stille aus – und wird dafür anschliessend immer wieder durch aussergewöhnliche momente und geschichten belohnt: ein mädchen zum beispiel, das mitten auf der wiese eine karate-kür hinlegt, nur für sich und die erstaunten kühe nebenan. oder drei, die auf einem baumstamm sitzen und über vor- und nachteile von lügen diskutieren. die mädchen und buben vom napf sind alltagsphilosophen und sie sind absolut herzerfrischend. romoos liegt keine 30 kilometer von luzern entfernt, aber diese kinderschar entführt uns in eine andere welt – keine andere zeit, aber eine andere welt. einmal müssen sie in der schule phantasieren, was sie machen würden, wenn sie im nächsten jahr regieren könnten. jannic sagt: „ich würde es das ganze jahr schneien lassen oder ein red bull trinken oder alles gott machen lassen.“ in romoos gibt es echte alternativen. und es gibt einen weiten horizont.

Freitag, 2. Dezember 2011