Sonntag, 27. November 2011

FREIBURG IM BREISGAU: MANON LESCAUT BEI H&M

sie will luxus statt liebe (1.akt). sie will luxus und liebe (2.akt). sie sucht liebe statt luxus (3.akt). es ist zu spät, sie stirbt (4.akt). das ist die tragische und durchaus anrührende geschichte von manon lescaut, wie sie giacomo puccini 1893 in faszinierender melodienfülle gezeichnet hat. man kann diese frau durchaus als „prototyp des modernen menschen“ zeigen, wie dies die intention der koreanischen regisseurin yona kim am badischen theater in freiburg ist. nur, hier stimmt zu viel nicht. ununterbrochen werden hunderte von geldscheinen herumgeworfen, zusammengewischt, gebündelt, wieder herumgeworfen… das nervt zunehmend, denn es soll die luxuriöse welt symbolisieren, obwohl alles - das bühnenbild, die kostüme, der chor – ärmlich und unbeholfen wirkt. so stellt man sich eine h&m-modeschau vor, eine missglückte. manon lescaut (christina vasileva) ist hier der coole vamp auf high heels, chevalier des grieux (gaston rivero) ein infantiler trottel in kurzen hosen, kniesocken und turnschuhen, der verklemmt im „playboy“ blättert. nichts in der welt könnte diese beiden zusammenführen, geschweige denn so etwas wie liebe aufkeimen lassen. das wirkt so glaubwürdig wie simon ammann oder toni brunner als neuer lover von paris hilton. ein penetrantes missverständnis. entschädigt wird man an diesem abend durch die strahlenden, nuancenreichen stimmen, die der früheren luzerner intendantin barbara mundel an ihrem jetzigen haus zur verfügung stehen, und ein orchester, das unter der leitung von gerhard markson einen satten puccini-klang findet. dennoch springt der funke in keinem moment; die sinnfreien optischen turbulenzen verhindern es.

Freitag, 25. November 2011

MÜNCHEN: DU BIST MEIN HIRTE

eine kleine gruppe älterer leute betet am eingang der kammerspiele laut das „gegrüsst seist du, maria“ und verteilt flugblätter: „wir appellieren an alle besucher dieser veranstaltung: verzichten sie auf den besuch.“ eine sehr gesittete demo - beim gastspiel in paris bewarfen kampf-katholiken das publikum mit eiern. worum geht‘s? „on the concept of the face, regarding the son of god“ lautet der lange titel des kurzes stücks von romeo castellucci und der societas raffaello sanzio. die truppe aus cesena gilt als wegbereiterin neuer theaterformen in europa, mit wortkargem, bildstarkem theater. wir blicken in ein bühnenhohes jesus-antlitz, sanft und wach, ein schöner mann, auch ein harmloser möglicherweise. davor pflegt ein 40jähriger italienischer geschäftsmann liebevoll seinen dementen vater, wischt ihm ununterbrochen die scheisse ab, wechselt ihm die windeln, wieder und wieder, liebevoll bis zur verzweiflung. „ich möchte jesus in seiner extremsten abwesenheit treffen“, schreibt castellucci. ja, dieses stück ist eine provokation und für leute, die sich im theater einfach gut unterhalten wollen, definitiv das falsche. die unmittelbare konfrontation dieser bilder, die konfrontation von mystik und realität provoziert fragen - und überlässt die antworten dem zuschauer. das ist theater, das inspiriert und erregt. gegen ende - der demente alte sitzt heulend auf seinem bett – tauchen sechs mädels und zwei jungs auf und bewerfen die riesige ikone mit dutzenden von kleinen granaten. begleitet von dröhnendem lärm löst sich das jesus-bild auf, an seiner stelle erscheinen die worte: „you are (not) my shepherd.“

Donnerstag, 24. November 2011

MÜNCHEN: HOTEL EUROPA

der holländische publizist geert mak reiste 1999 ein jahr lang quer durch europa, um auf das ablaufende jahrhundert zurückzublicken. seine bestandesaufnahme schlug sich tag für tag in einer notiz auf der titelseite des „nrc handelsblad“ nieder und wuchs sich später zu einem 800 seiten wuchtigen reportage-band aus. unter dem titel „hotel europa“ verwandeln die münchner kammerspiele diese reise durch die geschichte und die geschichten des 20.jahrhunderts jetzt in einen lese-marathon, jeden monat ein abend, jeden monat ein jahrzehnt. die sitzreihen im parkett sind ausgebaut, das publikum sitzt an langen weiss gedeckten tischen, wasserkaraffen, rotwein, auch tischlämpchen und kronleuchter fehlen nicht: der salon des „hotel europa“. auf der bühne zwölf schauspielerinnen und schauspieler und vier musiker, die geert maks reportagen nicht einfach vorlesen, sondern vertonen, rhythmisieren, personalisieren, konkretisieren und mit literatur aus der jeweiligen epoche anreichern – gestern abend (1914-18) beispielsweise mit texten von harold nicholson, stefan zweig, käthe kollwitz und adolf hitler. man sitzt in diesem salon und wird zum zeugen einer inspektion dieses kontinents, der immer wieder verwundet wurde und immer wieder gescheitert ist, dieses kontinents, wo grenzen immer wichtiger waren als gemeinsamkeiten und der abgrund häufig näher als die hoffnung. ein lese-abend, dem man gebannt folgt – ausgerechnet an dem tag, wo sich der eu-kommissionspräsident und die deutsche kanzlerin wegen den euro-bonds gefährlich in die haare geraten. es ist, einmal mehr,vorbei mit der behaglichkeit im hotel europa. so nah, so erfreulich und so erschreckend nah kann theater an der realität sein.

Dienstag, 22. November 2011

AMBACH: WO'S NOCH SO RICHTIG BIERBICHLERT

im bus von starnberg nach ammerland sitzt vor mir ein älteres ehepaar, das ununterbrochen redet, keine sekunde pause, der total inkontinente dialog. und weiter hinten ein anderes, ebenfalls älteres paar, das sich gar nichts mehr sagt. was ist nun schlimmer? das wäre eine interessante frage, allerdings nicht an einem so traumhaft schönen herbstnachmittag am starnberger see. beim marsch dem wasser entlang freue ich mich, dass das südostufer so ganz anders ist als das nordwestufer: statt luxus-rennpferde gibt’s hier noch kühe, statt zen-gärten weite moore, statt mercedes-s-klasse einfache vw-transporter, statt burn-out-kliniken landschulheime, statt kunstobjekte von der schwägerin schlichte wegkreuze, statt hollywood-schaukeln stehen holzbänke in den gärten. einfache holzbänke zum beispiel auch im garten beim „fischmeister“ in ambach. das ist das gasthaus, das dem schauspieler josef bierbichler gehört. und es sieht von aussen ausgesprochen vielversprechend bierbichlerisch aus. leider ist am dienstag ruhetag – das leben ist voller überraschungen, wenn man mal nicht vorgängig das internet konsultiert. hier, in dieser „seewirtschaft in bayern“, spielt bierbichlers neuer roman „mittelreich“. ein gewaltiges generationen-buch. seine grandios grollende barocke sprachmacht erinnert an die frühen romane von gerold späth. der bierbichler ist nicht nur ein grossartiger schauspieler, er kann auch schreiben. „die erde ist keine heimat“, heisst der zweitletzte satz in seinem roman. der zweitletzte, nicht der letzte.

Montag, 14. November 2011

ROCCAFORTE MONDOVI: RISOTTO D'AUTUNNO


ich war noch nie in roccaforte mondovi. wenn ich mir aber einen ort vorstellen müsste, wo dieser risotto, den ich heute gekocht habe, das erste mal in einer pfanne dampfte – dann wohl: roccaforte mondovi, tiefstes piemont, irgendwo hinten links… ein wunderbares herbst-rezept (für vier personen): zwei grosse zwiebeln in olivenöl dünsten, zwei tassen carnaroli-reis dazu, mit viel weisswein und wenig bouillon aufkochen, dazu thymian und pfeffer, und kurz vor dem servieren 200 gramm steinpilze, 200 gramm baumnüsse und 300 gramm taleggio darunter rühren. ziemlich einfach also. und ziemlich effektvoll. so kochen die leute in roccaforte mondovi. ganz bestimmt.

Sonntag, 13. November 2011

HAMBURG: JEKAMI AM THALIA

endlich demokratie im theater. das hamburger thalia-theater, nicht die übelste unter den schauspielbühnen im deutschsprachigen raum (immerhin lieferte sie im märz zum beispiel das erste sujet für dieses blog - bei bedarf nach unten scrollen!!), das hamburger thalia-theater also lädt jetzt sein publikum ein, den spielplan für die saison 2012/13 zu bestimmen. nicht die direktion und nicht die dramaturgie entscheiden, wo's lang geht. nein, die hälfte der produktionen der nächsten spielzeit wird ganz demokratisch vom publikum ausgewählt, bis mitte dezember läuft die abstimmung: die drei stücke mit den meisten stimmen und ein besonders origineller vorschlag werden hingebrettert. man darf sich freuen - auf shakespeare und goethe und schiller. "müssen regisseure irgendwann gegeneinander wahlkampf führen, wer den schmuckeren 'faust' hinkriegt?" fragt schon ganz besorgt die "süddeutsche zeitung". und noch mehr sorgen muss man sich wohl machen, was die vierte demokratie-inszenierung betrifft, den "besonders originellen vorschlag". wie wär's mit - endlich, endlich - "ben hur" in einer ultimativen musical-version, mit wagenrennen rund um den orchestergraben, resp. um die in schauspielhäusern heute gängige vier-mann-combo? die alten römer erobern die bretter, die die provinz bedeuten. das muss man im auge behalten. thalia, quo vadis?

Samstag, 12. November 2011

ZÜRICH: DAS ENDE DES SALONS

"die aktuelle konstruktion der weltwirtschaft gleicht mit ihren wechselseitigen krediten der wohnung eines wahnsinnigen, der alle gegenstände eines zimmers mit fäden aneinander gesichert hat. eine falsche bewegung - und wo ein salon war, ist nun ein trümmerhaufen." - constantin seibt im zürcher "tages-anzeiger". übertrieben? realistisch? auf jeden fall ein bild, das es in sich hat.